Persönliche Werkzeuge
Das Magazin 02 / 2008

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Flieger im Himmel

Aus Das Magazin

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Der ehemalige Swissair-Pilot Hans Georg Schmid flog mit seinen selbst gebauten Flugzeugen in Rekordzeit rund um die Welt. Am 23. Juli 2007 kam er nur bis Basel-Hegenheim.

Warum das Flugzeug plötzlich über dem vierstöckigen Wohnblock an der Roggenburgstrasse in Basel auftauchte, weiss man nicht. Aber es war jetzt da, der Motor brüllte in den Köpfen der Leute im Quartier, sie drehten sich um, und dann krachte die einmotorige Express 2000 ER in den Dachstock. Es war der Montag, 23. Juli 2007, 11.23 Uhr. Der Tag trocken, bedeckt, 22 Grad. Wenig Wind. Es gab einen Knall, und der Dachstock fing Feuer. Die 1700 Liter Avgas-Flugbenzin in den acht Tanks brannten, während das Flugzeug entlang der Dachkante weiterrutschte bis zur ersten Brandschutzmauer. Eine grosse, schwarze Rauchwolke stieg auf. Ein Flügel brach ab, der Motor blieb im Dach stecken, der Rumpf wurde auf die Strasse geschleudert. Der Propeller brach, das Seitenruder auch, und die Trümmer fielen auf den nahen Spielplatz, wo der Holzturm sofort in Flammen stand.
Zwischen den Trümmern lag auf dem Bauch der Pilot in seinem wasserdichten Neoprenanzug. Die Retter, die um 11.31 Uhr an der Roggenburgstrasse eintrafen, deckten als Erstes die Leiche mit einem Tuch zu. Am Handgelenk trug der Pilot noch die Uhr mit eingebautem Peilsender für Notfälle. Der Flug, der ihn in 24 Stunden und 48 Minuten über 7073 Kilometer ans Flugmeeting von Oshkosh im US-Bundesstaat Wisconsin führen und der ihm den 165. Flieger-Weltrekord seiner Karriere hätte einbringen sollen, hatte in einem Basler Aussenquartier geendet. 3,8 Kilometer oder 3 Flugminuten von der Piste 16 des Euro­Airports entfernt, wo Hans Georg Schmid, einer der besten Piloten der Welt, gestartet war.
Vier Monate später geht in einem Grossraumbüro nahe des Berner Flughafens Belpmoos schnatternd die Schiebetür zu einem grauen Korpus auf. Das Büro für Flugunfalluntersuchungen bewahrt hier auf, was vom Rekordflug übrig blieb. Die vierzehn Bundesordner, die die Beamten nach dem Unfall aus Schmids Haus getragen haben, die CDs mit 8 Gigabytes Daten über das Flugzeug und die geplanten Rekordflüge, ein weisses Sichtmäppchen mit angekohlten Seiten aus Hans Georg Schmids Bordbuch, die Standbilder vom Start, darunter eine Nahaufnahme des rauchenden Pneus. «Die Datenlage ist recht gut», sagt der Untersuchungsleiter Christian Gerber, «aber es gibt natürlich offene Fragen.» Zum Beispiel, warum der Pneu rauchte. Oder, wie schwer genau das Flugzeug beim Start beladen, wie schwer etwa die Tasche war, die Hans Georg Schmid dabeihatte, und die man nur noch halb verbrannt wiegen konnte.
Warum Schmid am 23. Juli über Basel abstürzte, darüber kann und will Christian Gerber nichts sagen. Sein Untersuchungsbericht wird erst in diesem Jahr erscheinen. «Es sind immer mehrere Faktoren, die zu einem Flugunfall führen. Wir werden jene Punkte nennen können, wo es ein Problem gab.» Dann holt Gerber einen grossen Papiersack aus seinem Büro. «HB-YMN» steht mit Filzstift darauf geschrieben, die Immatrikulation von Hans Georg Schmids Express 2000 ER. Im Sack steckt ein Teil des Flügels, den ein Anwohner erst kürzlich in einem Gebüsch gefunden hat.

Inhaltsverzeichnis

Luftwaffe über dem Dorf

In einem Einfamilienhaus im aargauischen Fischbach-Göslikon, einem Dorf mit 1350 Einwohnern im Freiamt, hängt im Fenster des Wohnzimmers eine Wappenscheibe. Die Gemeinde hat sie Hans Georg Schmid im Festzelt neben dem Sportplatz überbracht, nachdem dieser im April 2000 in seinem ersten selbst gebauten Flugzeug, der Long EZ, zweimal die Erde umrundet hatte. Viel mehr bedeutet hat dem Piloten, der den Behörden stets freundlich, aber distanziert begegnete, aber die Medaille, die ihm für den nämlichen Flug von der Fédération Aéronautique Internationale verliehen wurde, dem wichtigsten Verband der weltweiten Fliegerei: Die Louis-Blériot-Medaille erinnert an den Mann, der 1909 als erster Mensch über den Ärmelkanal flog und wird nur an die erfolgreichsten Piloten vergeben – die mit den Weltrekorden.
«Er hat für die Fliegerei gelebt», sagt Sibylle Schmid, die Witwe. «Findest du auch, dass man das so sagen kann?»
«Ja», sagt Jean-Daniel, der jüngere, 23-jährige Sohn, Student der Rechtswissenschaften. «Das ist ja nicht negativ.»
«Wie war das in den Ferien, wenn wir irgendwo ankamen?» – «Wir sind in den nächsten Flieger gestiegen, um noch weiter weg zu gehen.» Bloss, als die Kinder noch klein waren, hatte die Familie in Florida für einige Zeit ein Haus am weissen Strand gemietet. – «Da hat er sich gelangweilt und ist mit dem Auto nach Tampa gefahren, um das Wasserflugbrevet zu machen.» Sie lachen, und auf dem Balkon bellen die Hunde. Alexander, der ältere, 26-jährige Sohn, ist aus Luzern eingetroffen, wo er sein Anwaltspraktikum macht. Hat er sich je gefragt, warum ausgerechnet sein Vater dringend ein eigenes Flugzeug bauen und damit allein um die Welt fliegen musste?
«Nein, irgendwie nein. Für mich war das immer klar: Wenn man eine Passion hat, dann geht man ihr nach. Nein, von mir werden Sie keine Kritik hören.»
«Wir wollten ihn nicht bremsen, und das wäre auch gar nicht möglich gewesen», sagt Jean-Daniel. «Am Anfang vielleicht, aber am Schluss nicht mehr.»
Hans Georg Schmid wuchs in Kriens bei Luzern auf, in einem dieser Mehrfamilienhäuser, bei denen man sogleich an geschäumte Teppiche und Rhododendron denkt. Der Vater arbeitete als Disponent in der Transportfirma seiner Schwester, und die Mutter war für Haus und Kinder zuständig. Es war eine katholische Welt, in der bloss die Kirche, die man regelmässig aufsuchte, das bescheidene Leben überragte. Wenn aber Hans Georg am Pfarrer vorbei in den Himmel hinaufblickte, sah er die Luftwaffe der Schweizer Armee, die übers Dorf pfiff. Er wollte Pilot werden.
Später besuchte Hans Georg Schmid das Abendtechnikum, und um etwas Geld zu verdienen, stand er an der Talstation der Pilatus-Gondelbahn, kontrollierte die Billette und schloss die Kabinentüren. Den Lohn trug er nach Buochs auf den Flughafen. Ein Start mit einem Flugzeug der Segelfluggruppe Nidwalden kostete 6 Franken, und jede Minute, die er in der Luft war, nochmals 20 Rappen. Bald gehörte er zu der Gruppe jener jungen, fanatischen Segelflieger, die nicht nur über dem Flugplatz kreisen, sondern lange Strecken fliegen wollten. «Er war ein hervorragender Flieger», sagt Paul Raeber, ein Luzerner Ingenieur, der damals in Buochs mit Schmid flog. «Er war sehr gut darin, die Flugbedingungen richtig einzuschätzen und für lange Flüge zu nutzen.» An einem besonders guten Tag im Jahr 1970 flog Schmid von Grenchen bis nach Valence in die Provence. Da war er 22 Jahre alt und Pilotenschüler bei der Swissair.

Wohltemperierter Abenteurer

Als Hans Georg Schmid 1971 seinen ersten Flug als Pilot einer Swissair-Maschine tat, war die Swissair eine gesunde Firma. Mehr noch: Sie war eine Art fliegendes Rütli, auf das auch die moderne, die elegante, die freundliche Schweiz schwor. Etwas bünzlig war diese Fluggesellschaft natürlich auch, nämlich von genau jener Bünzligkeit, die man sich lobt, wenn man auf 10?000 Meter Flughöhe über den Atlantik geflogen wird. Die Swissair der väterlichen Wortmeldungen aus dem Cockpit, die Swissair der kaum spürbaren Turbulenz, die Swissair der pedantischen Sicherheitschecks – all diese Charakterisierungen trafen, nach allem, was sich über ihn erfahren lässt, auch auf Hans Georg Schmid zu: ein zurückhaltender, freundlicher Mann, der aber sogar seinen Koffer nach einer Checkliste packte und an Weihnachten den Feuerlöscher aus der Werkstatt holte; ihn aber so hinter dem Sofa platzierte, dass man ihn nicht sah, wenn man in den Christbaum blinzelte.
Seit 1978 war Hans Georg Schmid verheiratet. Sie habe in diesen Jahren nur einmal gedacht, dass ihr Mann zu viel getrunken habe, sagt Sibylle Schmid. Das war am 3. September 1998, nachdem eine MD-11 der Swissair mit 229 Menschen bei Halifax ins Meer gestürzt war. Sie sass am Morgen, nachdem sie die Katze gefüttert hatte, in Fischbach-Göslikon vor dem Radio; er war in Osaka, wo es schon Abend war. Hans Georg Schmid, der damals bereits Captain war, verlas den etwa dreissig Swissair-Mitarbeitern, die ebenfalls in der Stadt waren, die Namen der getöteten Crew-Mitglieder. Dann wurde auf die «abwesenden» Kollegen, wie dies der Brauch ist, das Glas erhoben.
«Er hatte die MD-11, die abgestürzt war, noch ein paar Tage zuvor selber geflogen. Aber es war für uns nicht sichtbar, was das bei ihm für Gefühle ausgelöst hat», sagt Alexander Schmid. «Ganz bestimmt stand nicht zur Debatte, als Pilot aufzuhören.» Im Gegenteil.
«Sehen Sie, Pilot ist für viele ein Traumberuf.» Ins grosse Wohnzimmer fällt die Nachmittagssonne. Der Blick geht über den Ägerisee und über die Voralpen bis in die verschneiten Berge. Timothy Crowch schenkt Mineralwasser nach, die Eiswürfel klingeln im Glas. «Fliegen ist wunderbar», sagt er, und man ertappt sich beim Gedanken, dass jetzt nur noch ein Schuss Campari fehlt. Aber: «Ich muss nicht jeden Tag fliegen.» Crowch ist bis vor drei Jahren für die Swissair und die Swiss geflogen, dann hat er gekündigt. Heute führt er daheim in Oberägeri im Kanton Zug seine eigene Firma, entwickelt Sicherheitskonzepte und untersucht im Auftrag von Versicherungen und Anwaltskanzleien grössere Unfälle. Hans Georg Schmid war einer seiner besten Freunde. Er sagt: «Was Hans Georg hatte, fehlt den meisten von uns. Wir arbeiten, machen etwas Hobbyfliegerei, aber uns drängt nichts dazu, an die Grenzen zu gehen und das Abenteuer zu suchen. Es gibt wenige, die das tun, was Hans Georg getan hat. Es ist ein Geschenk. – Ist es ein Geschenk? Ich weiss es nicht. Sicher ist es ein Talent.»
Hans Georg Schmid wurde oft gefragt, was ihn dazu treibe, selber ein Flugzeug zu bauen und damit um die Welt zu fliegen. Dann erklärte er in seiner etwas hohen, nasalen Stimme, man dürfe diese Abenteuer nicht den Angelsachsen überlassen, die Schweizer seien auch gut genug dafür. Oder er sagte, er wolle den Jungen zeigen, dass man etwas schaffen könne, arbeite man nur zielstrebig genug darauf hin. Was er fühlte und dachte, formulierte er kaum, das behielt er für sich. Timothy Crowch sagt: «Er sprach kaum über Euphorie oder Angst. Wenn ich ihn darauf ansprach, wechselte er das Thema.» Schmid sagte dann: «Komm, ich muss dir etwas zeigen.» Oder er hatte einen kleinen Auftrag.

Die ersten Rekorde

In seinen Logbüchern finden sich zwischen langen Abschnitten über Landschaften, über seinen Kampf mit der Bürokratie und über die Empfänge und Bankette mit den Honoratioren der Städte, die er anflog, nur wenige, meist etwas pathetische Sätze über das Fliegen selber. Darüber etwa, im einmotorigen Kleinflugzeug, eingeschlossen in einer engen Schale aus Karbonfaser, den Kopf wenige Zentimeter unter der Plexiglashaube, allein über dem Meer oder durch ein subtropisches Gewitter zu fliegen. Sein Cousin Gerold Lustenberger sagt: «Ehrlich gesagt, hat er es vor allem für sich selber gemacht. Er hat sich auf seinen Flügen die Ruhe geholt, die er dann ausstrahlte.» – «Schauen Sie sich die Bilder aus Kloten an», sagt Sibylle Schmid, «als er nach dem ‹Millennium Flight› aus dem Cockpit stieg. Das sind die glücklichsten Bilder, die es von ihm gibt. Da sehen Sie, wem sein Herz gehörte. Der dritten Dimension.»
Für die Swissair sass Hans Georg Schmid über 16?000 Stunden im Cockpit. Aber das waren Linienflüge. Das normale Pensum. Was er auf seinen langen Nonstop-Flügen in der Long EZ suchte, war wohl das Fliegen in einer reineren Form. Ein Mann, ein Maschinchen und die schiere Luftmasse. Fliegen wie Saint-?Exupéry. «Hans Georg hat schon früh den Kopf aus der Welt hinausgestreckt, in die er geboren wurde», sagt Gerold Lustenberger. «Er suchte den Vorstoss. Er wollte etwas machen, das noch niemand gemacht hat.» Wie er schrieb, bevor er 1998 mit der Long EZ zu seinen Flügen über den Südatlantik und um das Kap Horn aufbrach, «hatte ich mich entschieden, mit den Abenteuern zu warten, bis meine Söhne junge Männer waren». Da war Alexander 17, Jean-Daniel 14 Jahre alt. Der Flug trug Hans Georg Schmid die ersten vier Weltrekorde ein.
164 Weltrekorde waren es zwei Jahre später. Im «Millennium Flight» hatte Schmid zweimal die Erde umrundet, so schnell, wie das vor ihm noch kein Mensch in einem einmotorigen Flugzeug dieser Gewichtsklasse getan hatte. Zuerst, vom 2. bis 28. März, ostwärts mit einem Durchschnittstempo von 69,87 km/h, mehr als doppelt so schnell wie der Australier Jon Johanson, der den Rekord davor gehalten hatte. Vom 3. bis 29. April dann die Westumrundung mit 69,99 km/h. Dazu kamen die Rekorde über einzelne Teilstrecken. Die Flüge gingen über 88 335 Kilometer und dauerten 393 Stunden.
Hans Georg Schmid war jetzt einer der besten Experimentalflieger der Welt, die Szene bewunderte ihn. «Das war eine fantastische Leistung», sagt Max Ungricht, Chefredaktor der Fachzeitschrift «Cockpit». Bloss, dass die Öffentlichkeit kaum von diesem Piloten Notiz nahm, dessen Name eben nicht Bertrand Piccard oder Steve Fossett war. «Man darf nicht vergessen», so Ungricht, «dass Schmid alles allein gemacht hat, dass er viel weniger Geld zur Verfügung hatte als ein Fossett oder Piccard.» Nicht wenige in der Szene glauben, dass vor diesem Hintergrund Schmids Leistungen noch höher einzustufen sind als die der berühmteren Weltumrunder.
Vor dem Start zum «Millennium Flight» hatte ihn die Schwiegermutter gefragt: «Hans Georg, hast du dir mal überlegt, was deine Familie dazu sagt, dass du schon wieder gehst?» Schmid sagte nur: «Ich habe einmal gefragt, das muss genügen.»
Sein Freund Timothy Crowch versteht die Lakonie: «Wenn du der Beste der Welt sein willst, gibt es keine Kompromisse, dann musst du alles dafür tun. Wenn Hans Georg da war, war er durch und durch ein Familienmensch. Aber natürlich hatten seine Abenteuer ihren Preis. Natürlich war er häufig nicht da.» Sein Glück war, dass die Söhne so zielstrebig und sicher durch ihre Schulen und Studien gingen, wie der Vater flog. Derweil seine Frau Sibylle, die nur ungern fliegt, in der Abwesenheit ihres Mannes eine eigene Immobilienfirma aufbaute, daneben die Finanzen im Griff behielt und ihrem Mann die administrativen Dinge abnahm, für die er keine Zeit hatte oder die ihn nicht kümmerten. «Danke, für alles» waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte, bevor er am 23. Juli des letzten Jahres die Haube über dem Cockpit schloss.

Der Traum vom Polarflug

April 2000, es war schon spät, die meisten Leute hatten das Festzelt neben dem Sportplatz von Fischbach-Göslikon schon verlassen. Hans Georg Schmid hatte Fotos vom «Millennium Flight» gezeigt, der Gemeindepräsident hatte ihm die bunte Scheibe mit dem Fischbach-Gösliker Wappenfisch überreicht. Der Grill wurde bereits abgebaut, als der Geehrte dachte, dies wäre ein guter Zeitpunkt, seinen Freund in sein neues Projekt einzuweihen. Er winkte Timothy Crowch zu sich, lächelte und sagte, er habe da eine Idee. Dann fuhr er mit dem Finger zweimal über einen imaginären Globus. Nicht entlang des Äquators. Über die Polkappen.
Kein Mensch ist je in einem einmotorigen Flugzeug über den Nord- oder Südpol geflogen. Der Franzose Henri Chorosz hat es 2005 versucht. Nachdem die Flügel aber schon über dem Südatlantik vereisten, musste er umdrehen. Er zerlegte seinen Flieger auf einer winzigen Insel, auf der es nur eine Naturpiste und ein paar Meteorologen gab. Am 11. November 2007, nach einer Bau- und Planungszeit von mehr als sieben Jahren, wollte Schmid in Zürich starten, über Schweden in die Polarnacht eintauchen und am 15. November in einem 20-Stunden-Nonstop-Flug den Nordpol überfliegen. Dann wäre er über Nord- und Südamerika nach Punta Arenas in Chile geflogen und hätte von dort aus am 4. Dezember in 22 Stunden den Südpol überquert. Er wäre auf dem russischen Stützpunkt Novolazarevskaya auf der Antarktis gelandet, hätte das Flugzeug aufgetankt und wäre nach Perth in Australien geflogen. Am 17. Dezember wollte Schmid in Zürich landen, um einen Monat später beide Pole in der anderen Richtung zu überqueren. «The Polar Frontier» nannte er das Projekt. Die zwölf Fässer Flugbenzin Avgas 100 LL, die Schmid nach Novolazarevskaya bestellt hat, stehen noch immer dort.
Für dieses neue Abenteuer brauchte Schmid ein neues, grösseres Flugzeug. Er verkaufte die Long EZ und bestellte im März 2001 den Bausatz für eine Express 2000. Ein vierplätziges Flugzeug. Lässt man drei Sitze weg, entsteht Platz für zusätzliche Tanks. Am 5. Juli 2001 fuhr vor der leeren Fabrikhalle, die Hans Georg Schmid gemietet hatte, ein Lastwagen vor, darauf ein Schiffscontainer. Die ganze Familie half, den Bausatz auszupacken. Der Bau begann. Am 11. September stürzten in New York die Türme des World Trade Centers ein, am 2. Oktober groundete die Swissair, am 26. Oktober wurde Hans Georg Schmid informiert, dass er wie alle Piloten, die 52 Jahre oder älter waren, in Pension gehen müsse. Am 31. März 2002 flog Hans Georg Schmid eine MD-11 aus Hongkong zurück nach Zürich: sein letzter Flug als Captain der Swissair, die einen Tag später den Betrieb einstellte.
Nach dem Swissair-Grounding hatte Schmid den Bau der Express 2000 gestoppt, um eine eigene Firma zu gründen. In der «Aero Explorer International» plante er Langstreckenflüge für Privatpiloten. Nur wenige Tage, nachdem die Firma ins Handelsregister eingetragen wurde, traf man den pensionierten Piloten wieder in seiner Fabrikhalle, wo er an der Express 2000 ER (ER für «Extended Range») arbeitete. «Was wir veränderten, lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen», sagt Hans Kandlbauer: «Tankkapazität.» Der gelernte Maschinenbauingenieur ist heute Swiss-Pilot. Für Schmid entwickelte er sechs Zusatztanks im Cockpit, in und an den Flügeln. «Die Aufgabe war klar», sagt Kandlbauer: «Hans Georg hatte berechnet, wie viel Benzin er für die Polarflüge brauchen würde. Das war die Vorgabe.»
Die meisten Hobbypiloten, die den Traum vom selbst gebauten Flugzeug träumen, geben irgendwann auf. Sie unterschätzen den Aufwand von vielen tausend Stunden, der Beruf lässt ihnen keine Zeit, die Familie rebelliert. Aber allen Beteiligten war klar, dass Hans Georg Schmid seine Express 2000 ER fertig bauen und in die Luft bringen würde. Während seine Firma nicht richtig in die Gänge kam, arbeitete er konzentriert am Bau des Flugzeugs und an der Planung seiner Polarflüge. Er arbeitete, als wäre er weiterhin bei der Swissair angestellt: pingelig genau, auf jedes Detail bedacht, nur die höchsten Sicherheitsstandards liess er gelten. Mit Freunden und Helfern besprach er alle Risiken, alle Eventualitäten, seine Bauberichte wie seine Flugpläne gelten bei den Profis, mit denen er arbeitete, als einmalig detailliert.
Die Ideen, die Schmid im Kopf trug, waren die eines Hasardeurs. Aber als Pedant setzte er sie um. Am 25. Mai 2007 war die Express 2000 ER fertig.

Unter Zeitdruck?

Im amerikanischen Oshkosh findet jedes Jahr das grösste Flugmeeting der Welt statt. Wer in der Experimentalfliegerei etwas erreicht hat oder erreichen will, zeigt sich hier. Wer ein neues Messgerät auf den Markt bringen will, Kontakte zu den besten Aerodynamikern der Welt oder einen Sponsoren sucht, tut das mit Vorteil in Oshkosh. Wann genau Hans Georg Schmid entschied, mit seiner eben zugelassenen Express 2000 ER an dieses Festival zu fliegen, weiss niemand genau. Sicher ist: Schmid wollte nach Oshkosh, um sein Flugzeug am Stand von Lycoming Engines auszustellen, dem Motorenhersteller, der ihm eine IO-580-B1A-Maschine mit 315 PS gesponsert hatte. Nun, Schmid hätte in Etappen in die USA fliegen können, aber das hätte in Oshkosh kaum für Aufsehen gesorgt. Ausserdem wollte Schmid mit dem Nonstop-Rekordflug die Belastbarkeit seines neuen Flugzeugs testen.
Alle, die Hans Georg Schmid kannten, zeichnen das Bild eines besonnenen Mannes, der systematisch versuchte, alle Risiken zu kennen und auszuschalten. In einer Frage aber gehen selbst in seinem nahen Umfeld die Meinungen auseinander: Wie stark hat der Termin in Oshkosh den Rekordpiloten unter Druck gesetzt? Das Flugzeug war fertig, es hatte alle Tests bestanden und war nach allen Regeln der Bürokratie zugelassen. Trotzdem schlug Hans Kandlbauer, der die Tanks entwickelt hatte und zum engeren Team gehörte, noch am 18. Juli vor, die Polarflüge um ein Jahr zu verschieben. Vor diesem Datum war die Express 2000 ER nie mit vollen Tanks und damit nie mit dem zugelassenen Gewicht von 2450 Kilogramm geflogen. Kandlbauer hätte es lieber gesehen, Schmid hätte sich mit Testflügen an diese Limite herangetastet, anstatt gleich nonstop über den Atlantik zu fliegen.
«Man kann Rekordflüge mit voller Last nicht üben», sagt André Göpfert, Beauftragter für die Lufttüchtigkeit der Flugzeuge bei der Swiss in Basel. «Man kann nur in Beschleunigungstests und mit Testflügen die Berechnungen überprüfen.» Man wage einen Rekordflug, «wenn die Bedingungen stimmen und man überzeugt ist, dass alle Parameter des Fluges im sicheren Bereich sind. Das waren wir.» Göpfert hatte schon früher mit dem Bau einer Express begonnen und stiess darum zu Schmids Team. Der Ingenieur und Pilot war in den letzten Tagen vor dem Start nach Oshkosh einer der wichtigsten Vertrauten von Hans Georg Schmid. «Hans Georg hat mir immer wieder gesagt: André, wenn du den geringsten Zweifel hast, dann sag es. Dann fliege ich nicht.» Es gab aber im ganzen Team keine Zweifel. Göpfert: «Glauben Sie bloss nicht, ich hätte nicht Nein gesagt.»
Hans Georg Schmid wollte rechtzeitig nach Oshkosh, das scheint klar, wenn möglich nonstop. Das Budget für die Polarflüge – über 1,5 Millionen Franken –  brauchte dringend noch einen oder besser zwei Sponsoren. Vielleicht befürchtete er auch, ein anderer Pilot könnte vor ihm über die Pole fliegen, verschöbe er sein Projekt um ein Jahr, oder Bertrand Piccard stehle ihm mit seiner angekündigten Weltumrundung in einem Solarflugzeug die Schau. Das sind Spekulationen. Timothy Crowch räumt ein: «Vielleicht stand er unter Zeitdruck, das mag sein. Aber ich kann nicht glauben, dass er darum auch nur ein einziges Detail vernachlässigt hätte. Das war nicht sein Stil. Das hätte bedeutet, dass er das Sicherheitsdenken, mit dem er in 31 Jahren bei der Swissair imprägniert wurde, über Bord geworfen hätte.»
Wollte Hans Georg Schmid nach sechs Jahren Bauzeit endlich zeigen, wozu sein neues Flugzeug fähig war und losfliegen? Überstrahlte die Aussicht, schon in wenigen Monaten über die Polkappen zu fliegen, leise Zweifel, die er allenfalls hegte? Oder ist das Unsinn, und die Express 2000 ER stürzte ab, weil sich drei, vier kleinere Faktoren, die das Team nicht ganz richtig einschätzte, unglücklich verketteten? Es wird wohl alles Spekulation bleiben. Wenn im Verlauf dieses Jahres der Untersuchungsbericht erscheint, wird man vielleicht die Faktoren kennen, die zum Unfall führten. Man wird nicht die Gedanken kennen, mit denen Schmid am 23. Juli kurz nach 11 Uhr durch den immer schneller drehenden Propeller auf die Piste blickte.

Der letzte Takeoff

Der Plan war, am Samstag, dem 21. Juli, punkt 15 Uhr, nach Oshkosh zu starten. Am Mittwoch davor riet ihm Hans Kandlbauer ab. Auch seine Frau bat ihn, den Start zu verschieben. «Aber ich bin nicht mehr an ihn herangekommen», sagt Sibylle Schmid, «irgendwie war er schon unterwegs.» Am Donnerstag sassen Schmid und Kandlbauer nochmals zusammen und der rechnete vor: «Wenn du nach 2000 Metern nicht in der Luft bist, musst du den Start abbrechen.» Am Freitag flog Kandlbauer eine Swiss-Maschine nach Singapur, Schmid brachte seine Express 2000 ER vom aargauischen Birrfeld nach Basel. Dort winkte ihn André Göpfert auf den Parkplatz. Dann füllte man erstmals alle acht Tanks. Als sie voll waren, tropfte Benzin aus dem Rumpf im Heck.
Hans Georg Schmid sagte: «Okay, wenn wir den Grund nicht innerhalb einer Stunde finden, ist der Flug verschoben.» Eine Stunde später trommelte er am Handy sein Team für den nächsten Tag zusammen. Am Samstag wurden alle Tanks ausgebaut, kontrolliert und wieder eingebaut. Am Abend tankten die Männer das Flugzeug wieder voll, fast voll. Der Sonntag war ein Ruhetag. Am Mittag fuhr André Göpfert auf den Flughafen und schaute sich die Express an. Kein Tropfen unter dem Flugzeug. Am Nachmittag guckte ein Helfer nach, am Abend wieder Göpfert: alles trocken. Hans Georg Schmid sagte am Telefon: «Dann starten wir definitiv morgen.» Er schrieb ein langes E-Mail, in dem er auf die Minute genau den nächsten Tag, den Tag seines neuen Rekordflugs, plante, und schickte es ans Team.
Punkt 7.30 Uhr traf Schmid am Montagmorgen, 23. Juli, auf dem Euro­Airport ein. Das Team war schon da. Die letzten Liter – rund 60 Liter – wurden in die Tanks gefüllt. Und jetzt tropfte das Flugzeug wieder. Ein Mechaniker leuchtete mit der Taschenlampe zum Entlüftungsrohr im hinteren Rumpf. Die Lösung war banal: Die Tanks waren überfüllt, und das Benzin tropfte aus der Lüftung. Die 60 Liter wurden wieder abgezapft, und Schmid sagte: «Ich kann leben damit. Das Wetter ist gut, ich brauche das Benzin nicht. Wenn alle einverstanden sind, gehen wir.» Alle waren einverstanden.
Das Flugzeug war jetzt bereit zum Start. Ein Freund, der dem Piloten Glück wünschen wollte, sprang auf den Flügel. Das Flugzeug kippte nach hinten auf die Metallöse, mit der die Maschine angeseilt werden kann. Das Seitenruder streifte leicht den Asphalt. Schmid schickte André Göpfert, sich den Schaden anzusehen. Es war nur ein Kratzer im Lack. Mit Aluminiumband deckten die Mechaniker ihn zu. Alle waren einverstanden, dass der Start weitergehen konnte.
Es war jetzt kurz vor 11 Uhr. Hans Georg Schmid verabschiedete sich von seiner Frau, die zum Mittagessen in Zürich verabredet war. «Ich schaffe das», sagte er. Alexander versprach, seine Mutter auf dem Handy anzurufen, sobald der Flieger in der Luft war.
Im letzten Gespräch zwischen Hans Georg Schmid und André Göpfert ging es darum, dass das Flugzeug stark hecklastig war. «Die Tanks sind nicht ganz voll», sagte Schmid, «kannst du mir Ballast organisieren, damit ich die Balance noch leicht korrigieren kann?» Göpfert liess vier Bleiplatten bringen, die im Cockpit versenkt wurden. Ob sie wirklich gleich schwer waren wie 60 Liter Benzin, ist noch nicht bekannt. «Besser als vorher», befand Schmid, dann schloss er die Haube, startete den Motor und rollte auf die 4 Kilometer lange Piste.
Als die Express 2000 ER nicht wie geplant nach 2 Kilometern abhob, beschlich André Göpfert ein Gefühl. Das entsprach nicht den Berechnungen. Erst nach 3 Kilometern hob das Flugzeug ab, und Gott sei Dank wich jetzt das Gefühl von André Göpfert: «Jetzt hat er es unter Kontrolle.» Aber das Flugzeug gewann keine Höhe, liess auch die Linkskurve aus, die es von Basel weg und über den Rhein geführt hätte, und verschwand stattdessen hinter dem nahen Wäldchen.
Sibylle Schmid hatte gerade die Stadtgrenze erreicht, als der Anruf kam. Der Verkehr in Richtung Zürich war dicht, die Fahrspuren waren verengt. Am Apparat war nicht Alexander. Es war André Göpfert, der sagte: «Sibylle, wo bist du?»
«Gleich hinter Basel.»
«Kehr um.»
«André, ich kann jetzt nicht, ich bin auf der Autobahn.»
«Sibylle, komm zurück.»
Sibylle Schmid nahm die nächste Ausfahrt. Muttenz. Sie fuhr hinaus. Als sie auf der anderen Seite die Autobahneinfahrt hinunterfuhr, sah sie über Basel die schwarze Rauchwolke.


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3 Kommentare

Todesflug HBYMN, und die Anwohner?

Kurt Blatter

Das Leid, die Angst und der Schrecken der Anwohner kommt im Artikel über den Absturz nicht zur Sprache, gleich wie in den ersten Meldungen des Aero Clubs Schweiz. Es scheint, dass nur der persönlich Erfolg dieses Fliegers gilt. Das nervt mich nach dem Lesen wieder, beinahe wie am Absturztag. Kurt Blatter, Basel

Höchste Sicherheitsstandards

Daniel Steffen

Wenn ein Rekordversuch glückt, dann applaudieren wir. Endet er aber mit einer Katastrophe, dann decken wir die Verantwortlichen mit Vorwürfen ein. Und dennoch darf der Bericht von Christoph Fellmann nicht unwidersprochen bleiben.

Die Aussage, wonach bei der Planung und Durchführung des Fluges die höchsten Sicherheitsstandards angewandt wurden, wird nicht glaubhafter, wenn man sie im Bericht mehrmals wiederholt. Tatsache ist, dass die Express 2000 ER am 23. Juli 2007 überladen war und dass Hans Georg Schmid den Start nicht rechtzeitig abgebrochen hat.

Es stellt sich generell die Frage, ob sich höchste Sicherheitsstandards mit Rekordflügen vereinbaren lassen. Auch Charles Lindbergh, welchem Hans Georg Schmids Gedenkflug galt, überflog am 20. Mai 1927 das erste Hindernis mit einer 'Sicherheitslimite' von nur sechs Metern. Auf dem nachfolgenden, 33 Stunden dauernden Rekordflug von New York nach Paris schlief er fast ein. Der junge Charles Lindbergh konnte sein Tun immerhin damit rechtfertigen, dass er der Fliegerei neue Impulse verschaffte.

Daniel Steffen, Zofingen

Wieso Experimentalflüge?

Terragni

Vielen Dank, dass Sie Herrn Schmid nicht als Helden darstellen. Das hätte ich als Betroffene nicht ertragen. Den Unfall kann ich mittlerweile akzeptieren, nicht aber die Tatsache, dass die Behörden solche Experimentalflüge überhaupt erlauben. Wer braucht das? Wieso darf eine Privatperson ein Flugzeug bauen und damit fliegen, wenn im Gegenzug die Polizei jeden Teenager jagt, der sein Töffli frisiert? Und ist eine solche Selbstverwirklichung aus ökologischer Sicht tragbar? Auch wenn alle Herrn Schmid als gewissenhaften Flieger bezeichnen, so bin ich doch überzeugt, dass er von seinen Rekorden dermassen besessen war, dass er das eine oder andere Risiko einging, um die Rekordliste zu vervollständigen. Auf Kosten anderer… Monica Terragni (ehemalige Bewohnerin der Roggenburgstrasse 9)

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