Das Chamäleon

Die vielen Leben des grossen französischen Hochstaplers Frédéric Bourdin

16.01.2009 von David Grann , 3 Kommentare

Am 3. Mai 2005 meldete sich in Frankreich jemand bei einem Notruf für vermisste Kinder. Er habe in Orthez, einer Stadt in den Westpyrenäen, am Bahnhof einen wohl etwa fünfzehnjährigen Jungen gesehen, der vereinsamt und hilflos gewirkt habe. Bei einer anderen Nummer ging ein ähnlicher Anruf ein. Der fragliche Junge erschien schliesslich selbst bei einer kommunalen Fürsorgeeinrichtung – klein und schmal, blass, mit zitternden Händen, einen Schal um den Kopf gewickelt und eine Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen. Er besass kein Geld, nur ein Handy und einen Ausweis, auf dem sein Name mit Francisco Hernández Fernández angegeben war, geboren am 13. Dezember 1989 in Cáceres in Spanien. Erst nach einer Weile bekam man aus dem schweigsamen Jungen heraus, dass seine Eltern und sein jüngerer Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien. Er selbst habe mehrere Wochen im Koma gelegen und sei anschliessend zu einem Onkel geschickt worden, der ihn missbrauchte. Schliesslich sei er nach Frankreich geflohen, von wo seine Mutter stamme.
Die Behörden brachten Francisco im Jugendheim Saint-Vincent-de-Paul im nahe gelegenen Pau unter. Etwa fünfunddreissig Jungen und Mädchen, meist aus zerrütteten Familien, wohnten in dem alten Haus, von dessen Fensterläden die weisse Farbe abblätterte. Francisco bekam ein Einzelzimmer und schien erleichtert, sich allein waschen und anziehen zu können. Seit dem Unfall, erklärte er, habe er überall Brandnarben am Körper. Er wurde auf das Collège Jean Monnet geschickt, das mit seinen rund vierhundert zumeist aus Problemvierteln stammenden Schülern keinen guten Ruf hatte. Kopfbedeckungen waren in der Schule verboten, doch Direktorin Claire Chadourne machte für Francisco eine Ausnahme, weil er Angst hatte, wegen seiner Narben gehänselt zu werden. Wie viele Sozialarbeiter und Lehrer, die mit Francisco zu tun hatten, glaubte Chadourne, die seit dreissig Jahren Lehrerin war, den Jungen beschützen zu müssen. Mit seinen Schlabberhosen und dem Handy, das er an einer Schnur um den Hals trug, sah er wie ein typischer Teenager aus, wirkte jedoch tief traumatisiert. Nie zog er sich vor der Turnstunde in Gegenwart anderer Schüler um, eine ärztliche Untersuchung lehnte er ab. Er sprach leise, den Kopf gesenkt, er wich zurück, wenn man ihn anfassen wollte.
Doch allmählich ging er aus sich heraus, schloss sich den anderen an, beteiligte sich am Unterricht. Da er relativ spät im Schuljahr gekommen war, bat der Französischlehrer einen seiner Mitschüler, Rafael, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Bald jedoch war es Francisco, der Rafael half. «Dieser Typ lernt wahnsinnig schnell», dachte Rafael seinerzeit. Die beiden freundeten sich an, gingen gemeinsam Schlittschuh laufen, spielten Videospiele und erzählten sich Schulklatsch. Einmal lieh sich Rafael Franciscos Handy aus. Überrascht stellte er fest, dass Adressbuch und Nummer durch Sicherungscodes geschützt waren. Anschliessend zeigte Francisco ihm auf dem Display das Foto eines Jungen, der genau wie Francisco aussah. «Das ist mein Bruder», sagte er.
Bald gehörte Francisco zu den beliebtesten Schülern. Er beeindruckte die anderen mit seinen Kenntnissen von Musik und Geheimslang (er kannte sogar einige amerikanische Ausdrücke) und bewegte sich mühelos zwischen rivalisierenden Cliquen. «Er war in der ganzen Schule beliebt», erinnert sich ein Lehrer. «Er hatte diese Ausstrahlung, eine Art Charisma.» Bei den Proben zu einer Talentshow fragte ihn die Musiklehrerin, ob er nicht mitmachen wolle. Francisco gab ihr eine CD, stellte sich am Ende des Raums auf, schob den Hut schräg ins Gesicht und wartete auf den Beginn der Musik. Als Michael Jacksons Song «Unbreakable» erklang, fing er zu tanzen an, genau wie der Popstar, mit geschmeidigen Bewegungen, und bewegte die Lippen zum Text – «You can’t believe it, you can’t conceive it / And you can’t touch me, ’cause I’m untouchable». Alle sahen fasziniert zu. «Er sah nicht nur aus wie Michael Jackson», erinnerte sich die Musiklehrerin später, «er war Michael Jackson.»
Später, in einer Computerstunde, zeigte er Rafael auf einer Internetseite das Foto eines kleinen Reptils mit schleimiger Zunge.
«Was ist das?», fragte Rafael.
Francisco: «Ein Chamäleon.»
Am 8. Juni erschien eine Frau im Büro der Direktorin und berichtete, unlängst im Fernsehen eine Sendung über einen berühmten Hochstapler gesehen zu haben – Frédéric Bourdin, einen dreissigjährigen Franzosen, der sich regelmässig als Kind oder Jugendlicher ausgab. «Bourdin sieht genauso aus wie Francisco, ich schwörs», sagte die Frau.
Die Direktorin, Madame Chadourne, war sprachlos. Mit dreissig wäre Francisco älter als einige der Lehrer. Rasch gab sie «Frédéric Bourdin» in eine Internetsuchmaschine ein und stiess auf Hunderte von Artikeln über den «König der Hochstapler» und den «Meister neuer Identitäten», der – wie Peter Pan – «nicht erwachsen werden will». Ein Foto von Bourdin hatte grosse Ähnlichkeit mit Francisco – dasselbe ausgeprägte Kinn, dieselbe Zahnlücke. Chadourne rief bei der Polizei an.
«Sind Sie ganz sicher, dass er es ist?», fragte der Beamte.
«Nein, aber ich habe ein komisches Gefühl.»
Schliesslich erschienen die Beamten, und Francisco wurde aus dem Unterricht geholt. Die Polizisten packten ihn – die Direktorin geriet in Panik: was, wenn er tatsächlich ein missbrauchtes Waisenkind war? Sie legten ihm Handschellen an und nahmen ihm die Mütze vom Kopf. Dort waren keine Narben, nur schütteres Haar. «Ich will einen Anwalt», sagte er, und seine Stimme klang nun wie die eines erwachsenen Mannes.

EINZIGARTIGER FALL
Auf der Polizeiwache gab er zu, Frédéric Bourdin zu sein und in den letzten zehn Jahren eine Fülle von Identitäten erfunden zu haben – in mehr als fünfzehn Ländern und in fünf Sprachen, unter anderem als Benjamin Kent, Jimmy Morins, Alex Dole, Sladjan Raskovic, Arnaud Orions, Giovanni Petrullo und Michelangelo Martini. In den Nachrichten hiess es, er sei sogar als Tigerbändiger aufgetreten, tatsächlich aber hatte er fast immer die gleiche Rolle gespielt – das missbrauchte oder verlassene Kind. Er besass ein unglaubliches Geschick, seine äussere Erscheinung immer neu zu verwandeln – Frisur, Gewicht, Bewegungen, Auftreten. «Ich kann in jede Rolle schlüpfen», erzählte er mir. Als er sich 2004 in Grenoble als Vierzehnjähriger ausgab, bescheinigte ihm ein Arzt, der ihn im Auftrag der Behörden untersuchte, dass er tatsächlich ein Teenager sei. Ein Polizist in Pau sagte: «Wenn er Spanisch sprach, wurde er zum Spanier, wenn er Englisch sprach, war erein Engländer.» Und Direktorin Chadourne erklärte: «Natürlich hat er gelogen, aber er war ein glänzender Schauspieler!»
Im Laufe der Jahre schlich er sich in Jugendheimen, Waisenhäusern, Schulen und Kinderkrankenhäusern ein, unter anderem in Spanien, Deutschland, Belgien, England, Irland, Italien, Luxemburg, in der Schweiz, in Bosnien, Portugal, Österreich, in der Slowakei, in Frankreich, Schweden, Dänemark und in Amerika. Das US-Aussenministerium bezeichnete ihn als «überaus cleveren» Mann, der sich als hilfloses Kind ausgebe, um «Sympathien zu gewinnen». Und ein französischer Staatsanwalt nannte ihn einen «unglaublichen Illusionisten, dessen Falschheit nur noch von seiner Intelligenz übertroffen wird». Bourdin selbst sagte: «Ich bin ein Hochstapler… Mein Job ist es, andere zu täuschen.»
Die Behörden in Pau, die der Frage nachgingen, warum sich ein Dreissigjähriger als jugendliches Waisenkind ausgibt, fanden keine Hinweise auf sexuelle Erkrankungen oder Pädophilie und auch keine finanziellen Motive. «In meinen zweiundzwanzig Dienstjahren ist mir ein solcher Fall noch nie begegnet», sagte Staatsanwalt Eric Maurel. «Den meisten Betrügern geht es um Geld. Sein Interesse war offenbar rein emotionaler Natur.»
Auf Franciscos rechtem Unterarm entdeckte man eine Tätowierung: «caméléon nantais» – das Chamäleon aus Nantes.

LEBENDES DIKTIERGERÄT
«Mr. Grann!», sagte Bourdin und gab mir höflich die Hand. Wir waren im Zentrum von Pau, wo wir im letzten Herbst ein Treffen vereinbart hatten. Mit seinem Bartschatten sah er dieses eine Mal unverkennbar wie ein Erwachsener aus. Seine Kleidung – weisse Hose, weisses Hemd mit karierter Weste, weisse Schuhe, blaue Satinfliege und ein affiger Hut – hatte etwas Theatralisches. Nur die vordere Zahnlücke erinnerte an den jungen Francisco Hernández Fernández.
Nachdem er in Pau aufgeflogen war, war er in ein vierzig Kilometer entferntes Pyrenäendorf gezogen. «Ich wollte weg von dem ganzen Rummel», sagte er. Die Behörden waren, wie so oft, unsicher, wie man mit ihm umgehen sollte. Psychologen erklärten ihn für normal. («Ist er ein Psychopath? Nein, keineswegs», erklärte ein Arzt.) Juristisch waren seine Taten nicht zu fassen. Am Ende wurde er wegen Verwendung eines gefälschten Ausweises zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt.
Wir setzten uns unweit des Bahnhofs auf eine Bank. Es nieselte leicht. Ein Auto hielt am Strassenrand, die beiden Insassen öffneten das Fenster, sahen zu uns herüber und sagten zueinander: «Le caméléon.»
«Ich bin ziemlich berühmt in Frankreich», sagte Bourdin. «Viel zu berühmt.»
Er musterte mich mit seinen grossen braunen Augen. Ein Ermittler hatte ihn als «lebendes Diktiergerät» bezeichnet. Zu meiner Überraschung wusste Bourdin, wo ich gearbeitet hatte, wo ich geboren bin, er kannte den Namen meiner Frau, sogar den Beruf meiner Schwester und meines Bruders. «Ich muss immer wissen, mit wem ich es zu tun habe.» Er weiss, wie leicht es ist, andere zu täuschen, und will natürlich selbst nicht hereingelegt werden. «Ich traue niemandem.» Für jemanden, der sich als «professionellen Lügner» bezeichnete, sprach er nicht gern über sich. «Ich möchte nicht zu jemandem gemacht werden, der ich nicht bin. Die Geschichte ist auch ohne Ausschmückungen gut.»
Ich wusste, dass Bourdin in der Gegend von Nantes aufgewachsen war. Ich fragte ihn nach seiner Tätowierung. Warum legt jemand, der seine Identität verbergen will, eine solche Spur? Er rieb sich den Arm, wo die beiden Wörter eintätowiert waren. Dann sagte er: «Ich werde Ihnen erzählen, wie es wirklich war.»
Bevor er Benjamin Kent oder Michelangelo Martini war, das Kind eines englischen Richters oder eines italienischen Diplomaten, war er Frédéric Pierre Bourdin, der uneheliche Sohn von Ghislaine Bourdin, die ihn am 13. Juni 1974 als Achtzehnjährige in einem Pariser Vorort zur Welt brachte. In amtlichen Dokumenten steht in der Rubrik Vater «X», also «unbekannt». Ghislaine erzählte mir allerdings in ihrem kleinen Häuschen in Westfrankreich, dass «X» ein fünfundzwanzigjähriger algerischer Einwanderer namens Kaci sei, den sie bei der Arbeit in einer Margarinefabrik kennengelernt habe. Schwanger geworden, stellte sie fest, dass Kaci schon verheiratet war; sie erzählte ihm nichts von ihrer Schwangerschaft und kündigte.
Ghislaine kümmerte sich um Frédéric, bis er zweieinhalb war – «er war wie jedes andere Kind, ganz normal» –, dann meldete sich das Sozialamt, das ihre Eltern eingeschaltet hatten. Eine Verwandte Ghislaines sagt: «Sie ist viel ausgegangen, hat sich amüsiert. Mit dem Kind wollte sie nichts zu tun haben.» Ghislaine versichert, sie habe wieder Arbeit gefunden und sei völlig kompetent gewesen, doch das Gericht habe Frédéric in die Obhut ihrer Eltern gegeben. Jahre später schrieb sie ihm: «Du bist mein Sohn; als du zwei Jahre alt warst, hat man dich mir weggenommen. Sie haben uns nach Kräften auseinandergerissen, sodass wir jetzt zwei Fremde sind.»
Frédéric sagt, seine Mutter habe Aufmerksamkeit gesucht und bei den wenigen Besuchen habe sie immer getan, als sei sie schwer krank und ihn losgeschickt, um Hilfe zu holen. «Sie hat es genossen, wenn sie sah, wie erschrocken ich war», sagt er. Ghislaine bestreitet das, räumt aber ein, dass sie einmal einen Suizidversuch unternahm und ihr Sohn sich um Hilfe kümmern musste.
Als Frédéric fünf war, zog er mit den Grosseltern nach Mouchamps, einem kleinen Ort südöstlich von Nantes. Frédéric, halb Algerier und vaterlos, war ein Aussenseiter im Dorf und fing bald an, in der Schule Fantasiegeschichten über sich zu erzählen. Sein Vater, sagte er, sei nie da, weil er «britischer Spion» sei. Ein Lehrer, Yvon Bourgueil, bezeichnet ihn als frühreifes, einnehmendes, ausserordentlich fantasiebegabtes Kind, das wunderbare Comics zeichnen konnte. «Er hatte so eine besondere Art, dass man sich für ihn interessierte.» Bourgueil bemerkte auch Anzeichen mentaler Schwierigkeiten. Einmal erzählte Frédéric den Grosseltern, dass er von einem Nachbarn belästigt worden sei, aber in dem Dorf, wo jeder jeden kannte, wurde dem nicht weiter nachgegangen. In einem seiner Comics stellte er sich als Ertrinkenden in einem Fluss dar. Immer öfter fiel er auf, stahl bei Nachbarn. Mit zwölf wurde er in das private Jugendheim Les Grézillières in Nantes eingewiesen.
Dort wurden seine «kleinen Dramen», wie einer seiner Lehrer sie nannte, immer verrückter. Bourdin tat oft, als habe er das Gedächtnis verloren, spielte auf der Strasse den völlig Desorientierten. 1990, mit sechzehn, wurde er in ein anderes Heim überwiesen, riss aber bald aus. Er trampte nach Paris, wo er, ängstlich und hungrig, in seine erste erfundene Rolle schlüpfte – er sprach einen Polizisten an, dem er erklärte, er heisse Jimmy Seale, sei Engländer und habe sich verirrt. «Ich hatte den Traum, dass sie mich nach England zurückschicken, wo ich mir das Leben viel angenehmer vorstellte.» Als die Polizei feststellte, dass er kaum Englisch sprach, gestand er alles ein und kehrte wieder in das Jugendheim zurück. Aber er hatte seine Technik entwickelt, und bald begann er, durch ganz Europa zu streifen, zwischen Kinderheimen und Fürsorgeeinrichtungen, immer auf der Suche nach dem «perfekten Zuhause». 1991 wurde er auf dem Bahnhof von Langres aufgegriffen, wo er einen Kranken imitierte, und in ein Kinderkrankenhaus eingeliefert. Laut ärztlichem Bericht wusste niemand, wer er war und woher er stammte. Fragen beantwortete er nur schriftlich – seinen Namen gab er mit Frédéric Cassis an – eine Anspielung auf den Vornamen seines Vaters, Kaci.
Auf einen Zettel notierte er seine Wünsche: «Ein Zuhause und eine Schule. Das ist alles.»
Als die Ärzte einige Monate später seiner Vergangenheit auf die Spur kamen, gab er alles zu und zog weiter. «Ich wollte lieber gehen als abgeholt werden», erklärte er mir. In seiner Hochstapler-Karriere hat Bourdin oft freiwillig die Wahrheit gesagt, so als wäre die Aufmerksamkeit, die mit dem Abschied von der falschen Identität einherging, genauso befriedigend wie das Täuschungsmanöver selbst.
Bourdin nahm in halb Europa immer neue Identitäten an und versuchte, seine wahre Identität abzuschütteln. Mitte der Neunzigerjahre war er bereits einschlägig bekannt bei Polizei und Gerichten, bei Interpol und anderen Behörden, die wiederholt nach ihm fahndeten. Seine Aktivitäten stiessen auch auf Medieninteresse. 1995 luden ihn die Produzenten der populären französischen Fernsehshow «Tout est possible» ein. Nach seinen Motiven befragt, erklärte Bourdin erneut, dass er nur Liebe und eine Familie suche – die übliche Begründung. Und er löste damit nicht nur Empörung, sondern auch Sympathie aus. Die Produzenten von «Tout est possible» waren so angetan von ihm, dass sie ihm einen Job in der Nachrichtenredaktion des Senders anboten, doch er stieg bald wieder aus, um seine eigene fiktive Realität zu verwirklichen. Manchmal wurden seine Auftritte existenzphilosophisch interpretiert. Einer seiner französischen Fans richtete eine Website ein, auf der Bourdin als Verwandlungskünstler und «Schöpfer von Leben und Apostel einer neuen Philosophie der menschlichen Identität» gefeiert wurde.

GESETZE DER TÄUSCHUNG
Bourdin erzählte mir, wie er bei seinen Verwandlungen vorging. Genau wie die Hochstapler im Film (etwa in «Catch Me If You Can») betrachtete er sein Tun als «Kunst». Zuerst malte er sich das Kind aus, das er darstellen wollte. Dann entwarf er, Schritt für Schritt, die Biografie dieser Figur, vom familiären Umfeld bis hin zu ihren Gewohnheiten. «Es kommt darauf an, nicht zu lügen. Sonst bringt man alles durcheinander.» Er selbst halte sich an Maximen wie «Mach es möglichst einfach» und «Ein guter Lügner bleibt bei der Wahrheit». Bei der Wahl des Namens suche er sich meist einen aus, mit dem er etwas assoziieren konnte, wie Cassis. «Das Einzige, was man wirklich nicht vergessen darf, ist der Name.»
Er verglich sein Tun mit dem eines Spions: Man verändert äusserliche Details, im Kern bleibt man derselbe. So wirke man nicht nur überzeugender, man schütze auch die eigene Person, könne sich an einen moralischen Kern halten. «Mir ist klar, ich kann grausam sein, aber ich will kein Monster werden.»
Sobald die Figur feststand, arbeitete er an der äusseren Erscheinung – er rasierte sich sorgfältig, zupfte die Augenbrauen, verwendete auch Haarentferner. Oft zog er weite Hosen an und ein Hemd mit langen Ärmeln, welche die Handgelenke bedeckten und seine geringe Körpergrösse betonten. Um seiner Figur den Weg in die Realität zu ebnen, liess er bei lokalen Behörden den Eindruck entstehen, diese Person existiere tatsächlich. So wie er sich in Orthez bei einem Notruf gemeldet und behauptet hatte, die fragliche Person gesehen zu haben. Ein einsames, womöglich hilfsbedürftiges Kind würde bei den Behörden nicht so schnell auf Misstrauen stossen. Wenn jemand bemerkte, dass er schon ziemlich erwachsen aussah, störte ihn das nicht. «Teenager wollen immer älter aussehen», sagte er. «Ich betrachte das als Kompliment.»
Auch wenn er seine Begabung unterstrich, räumte er doch ein, was jeder Betrüger weiss, aber kaum einer zugibt – dass die meisten Menschen leicht zu täuschen sind. Sie haben bestimmte Erwartungen an andere und rechnen nicht damit, betrogen zu werden. Indem Leute wie Bourdin bestimmte Grundbedürfnisse bedienen – Eitelkeit, Habgier, Aufmerksamkeit –, machen sie ihr Opfer noch leichtgläubiger. Tatsächlich sind die meisten Betrügereien voller Ungereimtheiten, sogar Absurditäten, die sich im Nachhinein geradezu aufdrängen. Bourdin, der bei seinenOpfern Hilfsbereitschaft und Mitgefühl auslöste, sagt: «Niemand stellt sich vor, dass ein scheinbar schutzloses Kind lügt.»
Im Oktober 1997 landete Bourdin in einem Jugendheim in Linares in Andalusien. Die Jugendrichterin, die mit seinem Fall befasst war, gab ihm eine Frist von vierundzwanzig Stunden – wenn er nicht beweisen könne, dass er ein Teenager sei, werde sie seine Fingerabdrücke nehmen und von Interpol überprüfen lassen. Bourdin wusste, dass er, bereits vorbestraft, mit einer Gefängnisstrafe rechnen musste. Schon einmal hatte er einen Fluchtversuch unternommen und war wieder geschnappt worden, so dass man ihn mittlerweile genau beobachtete. Also liess er sich auf eine Aktion ein, die nicht nur die Grenzen der Plausibilität strapazierte, sondern auch mit der Gefahr einherging, jenes «Monster» aus ihm zu machen, das er nach eigenem Bekunden nicht werden wollte. Statt eine Identität zu konstruieren, stahl er eine. Er nahm die Identität eines vermissten Sechzehnjährigen aus Texas an. Bourdin, inzwischen dreiundzwanzig, musste nicht nur die Behörden davon überzeugen, dass er ein junger Amerikaner war, sondern auch die Familie des Vermissten.
Mitten in der Nacht kam ihm diese Idee: Wenn er die Richterin davon überzeugen könnte, dass er Amerikaner sei, werde sie ihn laufen lassen. Vom Büro des Jugendheims rief er das Nationale Zentrum für vermisste Kinder in Alexandria (Virginia) an, in der Hoffnung, dort fündig zu werden. Auf Englisch, das er während seiner Reisen aufgeschnappt hatte, gab er sich als Jonathan Durean, Direktor des Jugendheims in Linares, aus. Er erklärte, bei ihm sei ein verängstigtes Kind aufgetaucht, das seine Identität nicht preisgeben wolle, das aber Englisch mit amerikanischem Tonfall spreche. Er lieferte eine Beschreibung des Jungen (der natürlich so aussah wie er selbst – klein, schmal, ausgeprägtes Kinn, braunes Haar, Zahnlücke) und fragte, ob das Zentrum irgendwelche Hinweise auf eine solche Person habe. Die Frau, mit der er sprach, ging die Daten durch und sagte, dass diese Beschreibung am ehesten auf einen gewissen Nicholas Barclay zutreffe, der am 13. Juni 1994 in San Antonio als vermisst gemeldet worden war, Alter dreizehn Jahre. Er solle zuletzt ein «weisses T-Shirt, lila Hose, schwarze Tennisschuhe und einen pinkfarbenen Rucksack» getragen haben.
Daraufhin bat Bourdin um die Übersendung weiterer Informationen über Barclay. Die Frau versprach, die entsprechende Suchmeldung per Expresspost zu schicken und auch gleich zu faxen. Bourdin nannte die Faxnummer des Büros, legte auf und wartete. Draussen in der Halle war alles dunkel und still, irgendwo waren Schritte zu hören. Schliesslich spuckte das Faxgerät eine Kopie der Suchmeldung aus. Der Ausdruck war so schwach, dass er kaum zu lesen war. Aber die abgebildete Person sah ihm einigermassen ähnlich. «Das kriege ich hin», dachte er. Sofort rief er wieder in Amerika an und sagte: «Ich habe gute Nachrichten. Nicholas Barclay steht neben mir.»
Die Frau nannte ihm erfreut die Telefonnummer des Polizeibeamten in San Antonio, der für diesen Fall zuständig war. Bourdin rief dort an, gab sich als spanischer Polizeibeamter aus, nannte Einzelheiten von Nicholas, die er von der Frau erfahren hatte (etwa den pinkfarbenen Rucksack), und sagte, dass das verschwundene Kind gefunden sei. Der Beamte versprach, das FBI und die US-Botschaft in Madrid zu informieren. Bourdin ahnte nicht, was er in Gang gesetzt hatte.
Am nächsten Tag fing Bourdin einen an Jonathan Durean adressierten Eilbrief aus Virginia ab. Er riss den Umschlag auf und entnahm ihm eine saubere Kopie der Vermisstenanzeige von Nicholas Barclay. Das Farbfoto zeigte einen kleinen, hellhäutigen Jungen mit blauen Augen und blondem Haar. Als besonderes Kennzeichen war ein tätowiertes Kreuz zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand erwähnt. Bourdin sah sich das Foto genau an und dachte zunächst: «Aussichtslos.» Nicht nur wegen der Tätowierung – seine Augen und Haare waren dunkelbraun. Rasch verbrannte er die Meldung und färbte sich dann im Waschraum die Haare. Schliesslich bat er einen Freund, ihm mit Nadel und Tinte eine provisorische Tätowierung zu zeichnen, die so aussah wie bei Nicholas.
Aber da war noch das Problem der Augenfarbe. Bourdin überlegte sich, wie er sein Äusseres erklären könnte. Was, wenn er von einem Kindersexring nach Europa entführt, dort gefoltert und vergewaltigt worden wäre, ja sogar als Versuchsobjekt gedient hätte? Ja, so könnte er die Augenfarbe erklären: Seine Entführer hätten ihm eine chemische Substanz in die Augen injiziert. Den texanischen Akzent habe er verloren, weil er in über drei Jahren Gefangenschaft kein Wort Englisch sprechen durfte. Er sei aus einem Haus in Spanien entkommen, als sein Aufpasser unvorsichtigerweise einmal nicht abgeschlossen hatte. Es war eine verrückte Story, die gegen seine «Möglichst einfach»-Maxime verstiess, aber ihm fiel nichts Besseres ein.

DER VERLORENE BRUDER
Wenig später klingelte das Telefon im Büro. Er nahm ab. Am Apparat war Nicholas Barclays einunddreissigjährige Halbschwester Carey Gibson. «Mein Gott, Nicky, bist du das?», rief sie.
Bourdin wusste nicht, wie er reagieren sollte. Mit verstellter Stimme sagte er: «Ja, ich bins.»
Dann meldete sich Nicholas’ Mutter Beverly, eine resolute, korpulente Frau mit breitem Gesicht und braun gefärbten Haaren, die nachts im Dunkin’ Donuts in San Antonio arbeitete. Sie hatte Nicholas’ Vater nicht geheiratet, hatte Nicholas mit ihren älteren Kindern Carey und Jason allein grossgezogen. Beverly drückte denHörer ans Ohr. Als sie die kindliche Stimme am anderen Ende sagen hörte, er wolle nach Hause kommen, sei sie «fix und fertig» gewesen.
Carey, die verheiratet war und selber zwei Kinder hatte, erklärte sich sofort bereit, Nicholas aus Spanien abzuholen, und die Spedition, bei der sie arbeitete, wollte die Reisekosten übernehmen. Als sie ein paar Tage später in Begleitung eines US-Botschaftsbeamten in Linares eintraf, hatte sich Bourdin in einem Zimmer verkrochen. Er sagt heute, er habe damals Unrecht getan. Wenn er aber moralische Bedenken hatte, so hielten sie ihn jedenfalls nicht ab – er wickelte sich einen Schal um das Gesicht, setzte Kappe und Sonnenbrille auf und öffnete die Tür. Er war überzeugt, dass Carey sofort erkennen werde, dass er nicht ihr Bruder war. Doch sie lief auf ihn zu und umarmte ihn.
Carey war in vielerlei Hinsicht das ideale Opfer. «Meine Tochter», sagt Beverly, «ist gutgläubig und grossherzig.» Sie war, abgesehen von einem Kurztrip nach Tijuana, noch nie im Ausland gewesen und sprach keine Fremdsprache. Nach Nicholas’ Verschwinden hatte sie oft Fernsehsendungen über aufsehenerregende Kindesentführungen gesehen. Dazu kam, dass siesich gegenüber ihrem Arbeitgeber verpflichtet fühlte und, als Repräsentantin derFamilie, entscheiden musste, ob dies tatsächlich der lange verschollene Bruder war.
Obwohl Bourdin sie mit «Carey» anredete statt, wie Nicholas, mit «Sis» und auch einen leichten, aber ungewöhnlichen Akzent hatte, war sie absolut überzeugt, dass ihr Nicholas gegenüberstand. Diese ungewöhnlichen Punkte waren schliesslich mit seinen unsäglichen Torturen zu erklären. Und hatte er nicht die gleiche Nase wie ihr Onkel Pat, die gleiche Tätowierung wie Nicholas? Und wusste er nicht so viele Einzelheiten über ihre Familie und erkundigte er sich nicht namentlich nach den Angehörigen? «Die Gefühle sind viel stärker, man will es einfach glauben», sagt Carey heute.
Sie zeigte ihm Fotos der Familie, die er sich alle genau ansah – das ist meine Mutter, das ist mein Halbbruder, das ist mein Grossvater.
Da Carey seine Identität garantierte, hatten weder die amerikanischen noch die spanischen Beamten irgendwelche Fragen. Nicholas war nur drei Jahre verschollen gewesen, und das FBI hatte Besseres zu tun, als jemanden unter die Lupe zu nehmen, der sich als entführtes Kind ausgab. (Später erfuhr ich, dass das FBI noch nie mit einem solchen Fall zu tun gehabt hatte.) Nachdem Carey unter Eid erklärt hatte, dass Bourdin ihr Bruder und US-Staatsbürger sei, wurde ihm ein Pass ausgestellt, und tags darauf flogen die beiden nach San Antonio.

INSTINKT EINER MUTTER
Für einen Moment hatte Bourdin die Vorstellung, dass er nun in eine wirkliche Familie aufgenommen würde, aber unterwegs geriet er in Panik, schwitzte und zitterte. Carey versuchte ihn zu beruhigen. Er erklärte, dass das Flugzeug abstürzen werde – was er sich, wie er später bekannte, tatsächlich gewünscht hatte. Wie hätte er sich anders aus dieser Bredouille befreien können?
Bei der Ankunft am 18. Oktober 1997 wartete die ganze Familie am Flughafen. Bourdin erkannte sie von den Fotos. Nur Nicholas’ Bruder Jason war nicht da. Ein Freund der Familie filmte alles mit der Videokamera – man sieht Bourdin, den Hut tief in die Stirn gezogen, die braunen Augen hinter einer Sonnenbrille, die bereits nachlassende Tätowierung unter Handschuhen verborgen. Bourdin hatte geglaubt, die Familie werde ihn «zur Schnecke machen», doch sie umarmten ihn und versicherten ihm, wie sehr sie ihn vermisst hätten. «Wir waren emotional einfach durch den Wind, es war alles so verrückt», erinnert sich Codey. Nur Nicholas’ Mutter schien etwas distanzierter, wirkte nicht so aufgeregt, wie man das von einer Frau erwarten würde, die ihren Sohn endlich wieder in die Arme schliessen kann.
Bourdin fragte sich, ob sie vielleicht Verdacht geschöpft hatte, doch am Ende begrüsste sie ihn ebenfalls. Untergebracht wurde er aber nicht bei ihr, sondern bei Carey und Bryan. «Ich arbeite immer Nachtschicht, ich wollte nicht, dass er allein ist.» Carey und Bryan besassen einen Wohnwagen in einer abgelegenen waldreichen Gegend fünfzig Kilometer nördlich von San Antonio. Während der Fahrt dorthin, auf einer verlassenen Piste, vorbei an ausrangierten aufgebockten Lastwagen und bellenden Hunden, sah Bourdin zum Fenster hinaus. «Wir hatten kein Internet und so», sagt Codey. «Man kann bis nach San Antonio laufen, ohne einer Menschenseele zu begegnen.»
Der voll gestopfte Wohnwagen entsprach nicht gerade dem Bild Amerikas, das Bourdin sich aus den vielen Filmen gemacht hatte. Er teilte sich eine Kammer mit Codey, schlief auf einer Schaumstoffmatratze auf dem Boden. Ihm war klar, dass er wirklich alles über Nicholas in Erfahrung bringen musste, wenn er nicht bald auffliegen wollte. Heimlich stöberte er in Schubladen und Fotoalben, sah sich Heimvideos an, und sobald er von einem Familienmitglied eine Information über Nicholas erfahren hatte, erwähnte er sie im Gespräch mit einem anderen. So erzählte er, dass Bryan einmal furchtbar wütend auf Nicholas war, weil er Codey von einem Baum geschubst hatte. «Er kannte die Geschichte», erinnert sich Codey und staunt noch immer, wie viele Informationen Bourdin über die Familie zusammengetragen hatte. Beverly bemerkte, dass er, genau wie Nicholas, kniend Fernsehen schaute. Mehrere Familienmitglieder erzählten mir, sie hätten Bourdins zurückhaltende Art und seinen merkwürdigen Akzent auf die furchtbaren Verhältnisse zurückgeführt, in denen er gefangen gehalten worden war.

DIE FALSCHEN OHREN
Bourdin lebte sich rasch ein. Er wurde in die Schule aufgenommen, machte jeden Tag seine Hausaufgaben und schimpfte mit Codey, wenn der nicht lernte. Er spielte Nintendo mit ihm und schaute mit den anderen Satellitenfernsehen. Wenn er Beverly sah, umarmte er sie und sagte: «Hi, Mom.» Sonntags ging er manchmal mit den anderen in die Kirche. «Er war wirklich nett», erinnert sich Codeys Schwester Chantel. «So freundlich.» Einmal, als Codey ihn mit der Videokamera filmte, fragte sie ihn, was er denke. «Ich finde es klasse, wieder zu Hause zu sein», antwortete er.
Am 1. November, knapp zwei Wochen nach Bourdins Ankunft in den USA, klingelte das Telefon im Büro von Charlie Parker, einem Privatdetektiv in San Antonio. Ein TV-Produzent, der von der ungewöhnlichen Heimkehr des sechzehnjährigen Nicholas Barclay gehört hatte, wollte Parker beauftragen, die Umstände der Entführung aufzuklären. Parker willigte ein.
Nicholas Barclay aufzuspüren war nicht besonders schwer. Am 6. November erschien Parker mit einem Kamerateam vor dem Wohnwagen von Carey und Bryan. Die Familie wollte nicht, dass Bourdin mit Reportern sprach. «Ich bin sehr zurückhaltend», sagt Carey. Doch Bourdin, mittlerweile seit etwa drei Wochen im Land, war zu einem Interview bereit. «Ich habe die Aufmerksamkeit genossen damals», sagt er. «Es war ein psychisches Bedürfnis. Heute würde ich es nicht mehr machen.»
Parker stand ein wenig abseits, während Bourdin seine haarsträubende Geschichte erzählte. «Er war total ruhig», sagt Parker. «Keine unsicheren Blicke, keine Handbewegungen, nichts.» Aber der Akzent erschien ihm merkwürdig.
Auf einem Regal entdeckte er ein Foto des jungen Nicholas Barclay, verglich es mit dem jungen Mann vor der Kamera und dachte, dass da etwas nicht stimmte. Er entsann sich, irgendwo gelesen zu haben, dass die Ohren ein unverwechselbares Merkmal sind, in der Art wie Fingerabdrücke, und so flüsterte er dem Kameramann zu: «Mach eine Nahaufnahme von den Ohren, geh so nah ran wie möglich.» Heimlich steckte er das Foto von Nicholas Barclay ein. Nach dem Interview fuhr er ins Büro, scannte das Foto auf seinen Computer ein und verglich die Ohrenpartie auf beiden Bildern. «Die Ohren waren ähnlich, aber nicht identisch.» Dann erkundigte er sich bei mehreren Augenärzten, ob man durch Injektion von Chemikalien die Augenfarbe verändern könne. Nein, unmöglich. Parker sprach auch mit einem Dialektexperten der Universität von San Antonio, der ihm versicherte, dass man selbst nach drei Jahren Gefangenschaft rasch wieder in seinen ursprünglichen Akzent zurückfindet.
Parker teilte den Behörden seinen Verdacht mit, obwohl die Polizei von San Antonio erklärt hatte, dass «der Junge, der sich bei seiner Rückkehr als Nicholas Barclay ausgab, tatsächlich Nicholas Barclay ist». Da er befürchtete, dass sich ein gefährlicher Fremder bei den Barclays eingeschlichen habe, rief er Beverly an und machte sie auf seine Entdeckung aufmerksam. «Er ist nicht Nicholas, Ma’am.»
«Was soll das heissen, er ist nicht Nicholas?»
Parker erklärte ihr die Sache mit den Ohren und den Augen und dem Akzent. In seinen Unterlagen notierte er: «Familie ist verunsichert, hält ihn aber weiterhin für den Sohn.»
Ein paar Tage später erhielt er einen Anruf von einem wütenden Bourdin. Der bestritt zwar, bei Parker angerufen zu haben, aber Parker notierte seinerzeit in seinen Akten, dass Bourdin wütend gefragt habe, was los sei, und auf seine Antwort, dass er ihn nicht für Nicholas halte, erwidert habe: «Die Einwanderungsbehörden sind überzeugt, dass ich Nicholas bin. Und die Familie auch.»
Parker überlegte, ob es nun nicht besser wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er hatte den Behörden einen Hinweis gegeben und seinen Auftrag erledigt. Er hatte viel zu tun. Und er sagte sich, dass eine Mutter doch ihren Sohn erkennen müsse. Aber da war dieser seltsame französische Akzent, ein marokkanisches Französisch vielleicht. Aber was sollte ein Ausländer bloss wollen bei dieser Familie? Im hintersten Texas? «Ich dachte, er ist ein Terrorist, ehrlich», sagt Parker.
Für Bourdin wurde es zunehmend stressig. Bei Carey und Beverly fühlte er sich «beengt», und am liebsten war er draussen im Freien und streifte durch die Stadt. «Ich war es nicht gewohnt, in einer Familie zu leben, als würde ich zu ihnen gehören. Ich war nicht bereit dafür.» Eines Tages überreichten sie ihm einen Karton voller Baseballkarten, Platten und anderen Erinnerungsstücken von Nicholas. Er sah sich alles aufmerksam an. Auch ein Brief von einer Freundin von Nicholas fand sich. Bourdin dachte: «Das bin ich nicht.»
Zwei Monate nach seiner Ankunft wurde es richtig problematisch. Bourdin wurde launisch und zog sich zurück – «er wurde sonderbar», wie Codey es nannte. Im Dezember schnappte er sich Bryans und Careys Auto und fuhr bis hinauf nach Oklahoma, die Fenster weit geöffnet, und hörte dabei Michael Jacksons Song «Scream»: «Tired of the schemes / The lies are disgusting… Somebody please have mercy / ’cause I just can’t take it.» Er wurde wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten und festgenommen. Beverly, Carey und Bryan holten ihn auf der Polizeiwache ab und brachten ihn nach Hause.
Ghislaine sagt, er habe sie in Europa angerufen. Trotz allen Differenzen hatte er offenbar Sehnsucht nach ihr. (Einmal schrieb er ihr: «Ich möchte dich nicht verlieren… Wenn du verschwindest, werde ich ebenfalls verschwinden.») Als Bourdin ihr gestand, dass er in Texas bei einer Frau wohne, die ihn für ihren Sohn halte, habe sie, Ghislaine, vor Empörung aufgelegt.
Kurz vor Weihnachten schloss Bourdin sich im Badezimmer ein und studierte im Spiegel sein Gesicht – die braunen Augen, das gefärbte Haar. Er griff nach einer Rasierklinge, schnitt sich ins Gesicht. Er wurde in die Psychiatrie eingeliefert und mehrere Tage beobachtet. Später notierte er: «Wenn du gegen Ungeheuer kämpfst, sieh zu, dass du dabei nicht selber zu einem wirst.» Und dieses Gedicht: «Meine Tage sind Phantome, jeder ein Schatten von Hoffnung; / Mein Leben ist unwirklich / und meine Taten sind nie passiert.»
Die Ärzte hielten ihn für hinreichend stabil, um ihn nach Hause zu schicken. Doch er blieb unverändert nervös. Auch Privatdetektiv Parker liess die Sache keine Ruhe. In der Zwischenzeit hatte er sich bei Nicholas’ Nachbarn erkundigt. Und auch bei den Behörden erregte Bourdins Geschichte allmählich Misstrauen. FBI-Agentin Nancy Fisher hatte Bourdin schon mehrmals befragt, um der Entführungsstory nachzugehen. Sie habe sofort Verdacht geschöpft. «Er hatte dunkle Haare, blond gefärbt, aber man sah sofort die dunklen Wurzeln.»
Fisher wusste, dass er die Augenfarbe unmöglich verändert haben konnte. Im November ging sie mit Bourdin – angeblich, um eine Therapie wegen der Entführung zu organisieren – zu einem Gerichtspsychiater in Houston. Der schloss aus Bourdins Sprache, dass er kein Amerikaner war, sondern höchstwahrscheinlich Franzose oder Spanier. In der Annahme, es mit einem Spion zu tun zu haben, nahm Fisher Kontakt mit der CIA auf, wies auf die mögliche Bedrohung hin und bat um Hilfe bei der Identifizierung. «Die CIA blieb untätig. Man erklärte mir, dass man erst dann etwas unternehmen werde, wenn ich beweisen könne, dass er Europäer sei.»

MITGEFÜHL DER OPFER
Fisher wandte sich auch an Beverly und Carey, doch die bestanden weiter darauf, dass der Junge Nicholas sei. Sie bat die beiden, sich für einen DNA-Test zu Verfügung zu stellen. Beide lehnten ab. «Beverly sagte: Wie können Sie es wagen zu behaupten, dass er nicht mein Sohn ist?», erinnert sich Fisher. Mitte Februar, vier Monate nach Bourdins Ankunft in den USA, erwirkte Fisher eine gerichtliche Anordnung, um einen DNA-Test zu erzwingen. «Beverly hat mich geschützt», sagt Bourdin. «Sie hat sich nach Kräften gewehrt.» Fisher nahm neben Blutproben auch Fingerabdrücke, die sie an das Aussenministerium zur Überprüfung durch Interpol schickte.
Am 5. März 1998 rief Beverly plötzlich bei Fisher an und sagte, dass sie Bourdin für einen Hochstapler halte. Am nächsten Tag ging Parker mit ihm in ein Schnellrestaurant. Sie bestellten Pfannkuchen. Nach fast fünf Monaten, in denen er sich standhaft als Nicholas Barclay ausgegeben hatte, sei er mit den Nerven völlig fertig gewesen, sagt Bourdin. Als Parker ihm erzählte, dass er «seine Mutter» ganz verwirrt habe, brach es aus «Nicholas» heraus: «Sie ist nicht meine Mutter, und Sie wissen es.»
«Verraten Sie mir, wer Sie sind?»
«Ich bin Frédéric Bourdin, ich werde von Interpol gesucht.»
Später liess er sich in der Wohnung widerstandslos von der Polizei festnehmen. «Ich wusste, ich würde endlich wieder Frédéric Bourdin sein.» In der Untersuchungshaft erzählte er eine Story, die so fantastisch klang wie die von Nicholas Barclay. Er behauptete, Beverly und Jason hätten mit Nicholas’ Verschwinden zu tun und von Anfang an gewusst, dass er gelogen habe. «Ich bin ein guter Schauspieler, aber so gut auch wieder nicht», erzählte er mir.
Natürlich konnten sich die Ermittler nicht auf Angaben eines notorischen Lügners verlassen. «In neunundneunzig Fällen lügt er, und die hundertste Story ist vielleicht wahr, aber man weiss es einfach nicht», sagt Fisher. Doch bei den Behörden blieb ein Verdacht. Staatsanwalt Jack Stick war mit dem Fall Bourdin befasst. Er und Fisher fragten sich, warum Beverly sich widersetzt hatte, als das FBI Nicholas’ vermeintliche Entführung untersuchen und Bourdin entlarven wollte. Sie fanden heraus, dass es zwei Monate nach Nicholas’ Verschwinden zu einem Vorfall in Beverlys Haus gekommen war. Am 25. September hatte die Polizei einen Anruf von Nicholas’ älterem Bruder Jason erhalten, der erklärte, Nicholas sei zurückgekehrt und habe versucht, in die Garage einzubrechen; er sei geflohen, als er ihn dabei überrascht habe. Der diensthabende Beamte erklärte in seinem Bericht, dass er die Gegend abgesucht habe, Nicholas aber unauffindbar gewesen sei. Fisher und Stick vermuteten eine erfundene Geschichte, die den Eindruck erzeugen solle, dass Nicholas ausgerissen sei. Sie gingen der Sache nach. «Ich wollte wissen, was mit dem Jungen passiert war», erinnert sich Stick. In Nicholas’ Schule erfuhren sie, dass Nicholas möglicherweise missbraucht worden sei, es seien Blutergüsse bei ihm bemerkt worden, und kurz vor seinem Verschwinden habe man die Fürsorge alarmiert. Nachbarn berichteten, dass Nicholas manchmal Beverly geschlagen habe. Sticks und Fishers Ermittlungen verliefen letztlich aber im Sand.
Ich habe Beverly während unseres Gesprächs wiederholt gefragt, wie es komme, dass sie fast fünf Monate lang einen dreiundzwanzigjährigen Franzosen mit gefärbtem Haar, braunen Augen und französischem Akzent für ihren Sohn halten konnte. «Wir haben uns immer gesagt, dass er anders ist wegen dieser ganzen hässlichen Sachen, die er erlebt hat», meinte sie. Sie und Carey wollten einfach, dass er tatsächlich Nicholas ist. Doch allmählich seien ihre Zweifel gewachsen. «Er hat sich nicht wie mein Sohn verhalten», sagte Beverly. «Mein Herz war nicht dabei. Ich hatte einfach nicht dieses Muttergefühl.»
Für Fisher war klar: «Beverly musste wissen, dass er nicht ihr Sohn war.»
Nach monatelangen Ermittlungen musste Staatsanwalt Stick feststellen, dass im Zusammenhang mit Nicholas’ Verschwinden keine Anklage erhoben werden konnte. Es gab keine Zeugen, keine DNA. Es war nicht einmal klar, ob Nicholas noch am Leben war. Was passiert war, liess sich nicht mehr rekonstruieren.
Am 9. September 1998 wurde Frédéric Bourdin wegen Meineids und Verwendung falscher Dokumente angeklagt. Er bekannte sich schuldig. Seine Versicherung, dass er nur Zuwendung gesucht habe, stiess diesmal auf Empörung. Carey, die nach Bourdins Verhaftung einen Zusammenbruch hatte, erklärte bei ihrer Zeugenaussage: «Er hat ständig gelogen. Bis heute lügt er. Er zeigt keine Reue.» Staatsanwalt Stick bezeichnete ihn als «fleischfressende Bakterie», und der Richter verglich sein Tun – einer Familie die Hoffnung zu geben, dass das verlorene Kind lebt, und diese Hoffnung dann zu zerstören – mit Mord.
Einzig Beverly hatte so etwas wie Mitgefühl für Bourdin. Damals sagte sie: «Er tut mir leid. Wir haben ihn ein bisschen kennengelernt, er hat schlimme Sachen erlebt. Er hat viele schlechte Gewohnheiten.» Zu mir sagte sie: «Er hat Sachen gemacht, für die man viel Mut braucht, wenn man es sich genau überlegt.»

SEINE LETZTE WANDLUNG
Der Richter verurteilte ihn zu sechs Jahren – mehr als das Dreifache dessen, was in solchen Fällen üblich ist. Bourdin erklärte: «Ich möchte alle um Entschuldigung bitten. Ich wünschte, Sie würden mir glauben, aber ich weiss, dass das unmöglich ist.» Und er fügte hinzu: «Ob in Haft oder frei, ich bin ein Gefangener meiner selbst.»
Als ich Bourdin in diesem Frühling zum letzten Mal sah, hatte sein Leben die wohl dramatischste Veränderung erfahren. Er hatte eine Französin geheiratet, die er zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Isabelle, Ende zwanzig, schlank und hübsch, mit einer sanften Stimme, studierte Jura. Selbst Opfer von Missbrauch in der Familie, hatte sie im Fernsehen gesehen, wie Bourdin die familiäre Gewalt beschrieb, die er erlebt hatte, und seine Sehnsucht nach Geborgenheit. Sie war so gerührt, dass sie sich schliesslich auf die Suche nach ihm gemacht hatte. «Ich habe ihm gesagt, an seinem Leben interessiert mich nicht, wie er die Wahrheit zurechtgebogen hat, sondern warum er all das getan hat», sagte sie.
Bourdin hielt Isabelles Kontaktaufnahme zunächst für einen Witz, aber sie trafen sich in Paris und verliebten sich mit der Zeit. Für ihn war es die erste Beziehung. «Ich war immer eine Mauer», sagte er. «Eine kalte Mauer.» Ein Jahr später, am 8. August 2007, heirateten sie in einem Dorf bei Pau.
Er lud seine Mutter und seinen Grossvater zur Hochzeit ein, doch sie kamen nicht. «Kein Mensch hat ihm geglaubt», sagt Ghislaine.
Bei unserer letzten Begegnung war Isabelle im siebten Monat schwanger. Sie und Bourdin waren nach Le Mans gezogen, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, und wohnten nun in einer kleinen Wohnung in einem alten Steinhaus mit Dielen und einem Fenster, von dem aus man ein Gefängnis sah. «Es erinnert mich an früher», sagte Bourdin. Im spärlich möblierten Wohnzimmer stand ein Karton mit den Einzelteilen eines Kinderbettchens. Bourdins Haar war kurz geschnitten, er trug Jeans und Sweatshirt, nicht so auffällige Sachen wie früher. Er arbeitete, ziemlich erfolgreich, als Verkäufer in einem Callcenter. «Sagen wir, ich bin ein Naturtalent.»
Die meisten seiner Verwandten glauben, dass diese Veränderungen nur Teil einer neuen Rolle sind, die für seine Frau und das Baby schlimm enden wird. «Man erfindet sich nicht als Vater», sagt sein Onkel Jean-Luc Drouart. «Man ist nicht für sechs Tage oder sechs Monate Vater. Vatersein ist keine Rolle, sondern Realität.» Und er fügte hinzu: «Ich habe Angst um das Kind.»
Bourdins Mutter Ghislaine sagt, ihr Sohn sei ein Lügner, er werde sich nie ändern.
Nach so vielen Jahren, in denen er in immer neue Rollen geschlüpft ist, sind die Behörden und seine Verwandten der Überzeugung, dass er ein Chamäleon ist. Im Gutachten eines Psychologen hiess es unter anderem: «Die Prognose ist düster… Die Aussicht, diesen Charakter zu verändern, halte ich für sehr gering.» Bourdin hatte während der Haft in den USA angefangen, psychologische Fachbücher zu lesen, und in seinem Tagebuch das folgende Zitat notiert: «Der Psychopath, konfrontiert mit seinen Handlungen, verfügt über so viel falsche Aufrichtigkeit und scheinbare Reue, dass seine Ankläger neue Hoffnung und Vertrauen schöpfen. Doch nach mehreren Wiederholungen wird seine Show als das erkannt, was sie ist – eine Show.»
Isabelle ist überzeugt, dass Bourdin sich ändern kann. «Ich kenne ihn seit zwei Jahren», sagte sie. «Er ist ganz anders.»
Bourdin legte die Hand auf Isabelles Bauch. «Das Baby kann drei Arme und drei Beine haben», sagte er. «Mein Kind muss nicht vollkommen sein. Es soll nur spüren, dass es geliebt wird.» Was seine Mutter oder sein Onkel dazu meinen, interessiert ihn nicht. «Meine Frau und das Kind geben mir Geborgenheit», sagte er. «Das kann mir niemand nehmen.»
Einen Monat später berichtete er mir telefonisch, dass seine Frau das Kind zur Welt gebracht habe. «Es ist ein Mädchen.» Es heisst Athena, nach der griechischen Göttin. «Ich bin jetzt wirklich Vater.»
Auf meine Frage, ob er ein anderer Mensch geworden sei, antwortete er nach längerem Schweigen: «Nein, das bin ich.»

David Grann ist Reporter beim “New Yorker”.
Copyright The New Yorker 2008
Übersetzung Matthias Fienbork

Das Phantom: In fünfzehn Ländern lebte Frédéric Bourdin und schlüpfte in zahllose Identitäten. Fast immer spielte er Kinder. | Elisabeth Moch
Das Phantom: In fünfzehn Ländern lebte Frédéric Bourdin und schlüpfte in zahllose Identitäten. Fast immer spielte er Kinder. | Elisabeth Moch

Die Diskussion

3 Reaktionen

  1. Profile Pic
    Ronnie Grob

    Lesenswerte Geschichte! Meine Fragen dazu:

    1. Wie heisst der Übersetzer?
    2. Wieso schafft es eine Story auf den Titel, die bei ihrer Erstveröffentlichung nur eine unter vielen war?
    3. Wieso steht nicht dabei, dass die Story vor etwa einem halben Jahr, nämlich am 11. August 2008, im “New Yorker” erschien?

    http://www.newyorker.com/reporting/2008/08/11/080811fa_fact_grann?currentPage=all

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    Guido Mingels

    Lieber Ronnie, hast recht, die Infos fehlten online, im Print-Heft stands drin, sorry. Ist jetzt nachgetragen. Lies uns doch auch mal in Print statt nur auf Web! Dann siehst du auch die tollen Illus in Originalgrösse und -qualität. Gruss, Guido

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    Ronnie Grob

    Vielen freundlichen Dank für den Nachtrag.

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