Das unbekannte Gesicht

Der Modekünstler Martin Margiela tritt vollständig hinter seine Marke zurück. Es gibt weder Fotos noch Interviews. Ein Blick hinter die Kulissen

26.09.2008 von Chris Dercon , 1 Kommentar

1. Brüssel–Paris
Der Schnellzug Brüssel–Paris braucht heute kaum mehr als eine Stunde. Vor zwanzig Jahren dauerte es noch verdammt lange. In Paris, vor allem in Kulturkreisen, wurde früher viel über die Belgier gelacht. Hatte der megalomane Brüsseler Symbolist Antoine Wiertz im 19. Jahrhundert nicht geschrieben: «Paris ist die Provinz, Brüssel die Hauptstadt!» Inzwischen werden die belgischen Choreografen, Theatermacher und vor allem die belgischen Modedesigner in Paris sehr bewundert. Wer hätte auch gedacht, dass in den Achtzigerjahren ein Belgier, der Limburger Flame Martin Margiela, als Dreissigjähriger die Mode in ihren Grundfesten erschüttern würde – und das auch noch in Paris, dem Mekka der Mode?

2. Rue Saint Maur
Mit dem Taxi vom Gare du Nord zur Place de la République dauert es nur wenige Minuten. Etwas abseits gelegen, in der Rue Saint Maur, hat Martin Margiela seinen Arbeitsplatz. Das labyrinthische Bauwerk – ursprünglich ein Kloster und Waisenhaus – bietet beinahe achtzig Mitarbeitern Platz, die Tag für Tag in den Showrooms, den Ateliers, den Archiven und der Verwaltung arbeiten. Im Treppenhaus stehen gebrauchte Möbel, teilweise oder komplett weiss angemalt. Überall in dem alten Gebäude findet man weisse Dinge, gekennzeichnet durch Buchstaben, Zahlen und Symbole wie Scheren. Auffallend viele alte Schneiderpuppen stehen herum. Von aussen ist das Gebäude kein bisschen verändert. Innen jedoch ist alles weiss angemalt. Einzig die Schultafeln haben ihre schwarze Farbe behalten. Einige der alten Flügeltüren sind unter fotografischen Reproduktionen von wieder anderen Türen verborgen, «trompe l’œils», Erinnerungen an frühere Arbeitsplätze.

3. Anti-Läden
Für Martin Margiela verweist die Farbe Weiss auf «die Stärke der Verletzlichkeit und vor allem der Verletzlichkeit von Zeit». Die weissen Mauern, Türen, Möbel, Verpackungen, Aktenordner und Publikationen bedeuten für ihn alle das Gleiche: «Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr Spuren bleiben auf dem Weiss zurück.» Auch die Läden von Maison Martin Margiela wiederholen dieses weisse Regime. Sie spielen mit den Konventionen der Darbietung, Reproduktion und Verpackung von Luxuswaren. Sie sind gewissermassen Anti-Läden, die nur indirekt auf die eigentlichen Verkaufswaren verweisen. Die Taschen und die Schonbezüge für Kleidungsstücke sind – ohne auch nur den geringsten Hinweis auf den Inhalt zu geben – alle weiss. Selbst die Kleiderbügel werden mit weisser Baumwolle verhüllt.

4. Inkognito
Die historische Inschrift «Egalité, Liberté, Fraternité» an der Strassenseite über der Eingangstür der Rue Saint Maur 163 ist nicht ganz unpassend für den Betrieb Maison Martin Margiela. Ein Aussenstehender erkennt hier wenige oder keine Hierarchien. Während der Modeschauen trägt jeder denselben weissen Arbeitskittel, als wären Laboranten, Pfleger oder Ärzte an der Arbeit. Wird bei Maison Martin Margiela die Mode untersucht, gepflegt und geheilt? Martin Margiela selbst spricht darüber nicht, er gibt keine Interviews und beantwortet auch keine schriftlichen Fragen persönlich. Er lässt die Kommunikation ausschliesslich über die Maison Martin Margiela laufen. Martin Margiela will seit Langem nicht mehr selbst im Mittelpunkt stehen. Es gibt keine Fotografien des Modeschöpfers, in der Öffentlichkeit tritt er nicht in Erscheinung. Auch sonst darf niemand bei Maison Martin Margiela fotografiert werden. Es war auch mir nicht gestattet, Gesichter festzuhalten, lediglich Hände oder Beine. In den Publikationen oder Präsentationen von Maison Martin Margiela haben oft selbst die Models kein wiedererkennbares Aussehen. In den Modeschauen kämmt man ihre Haare vor die Augen und hüllt Gesichter in Gaze, in den Katalogen werden die Augen mit schwarzen Balken übermalt. Die Models bleiben ebenso inkognito wie jeder andere bei Maison Martin Margiela. Die enorme Sonnenbrille, seit Frühling als Accessoire auf dem Markt, heisst konsequenterweise «L’incognito».

5. Wir
Nein, ich soll nicht schreiben, dass Martin Margiela in seinem Limburger Elternhaus mit dem Handel von Perücken und Parfüms aufgewachsen ist. Keine uninteressante Information, aber angesichts der Tatsache, dass dieses Jahr L’Oréal sein erstes Parfüm auf den Markt bringt. Nein, einzig Maison Martin Margiela zählt und die Geschichte ihrer Mode. Um die Maison, nicht die Person Margiela geht es auch in den poetischen und experimentellen Filmen und in den – stets streng gestalteten – Bildbänden. Seit ihren Anfängen benutzen Martin Margiela und seine Maison in allen Bereichen, bei den Etiketten für Kleidungsstücke, bei der Beschriftung ihrer Läden und selbst in ihrer Korrespondenz, ausschliesslich die Schreibmaschinenschrift Courier. In einem dozierenden, fast komisch anmutenden Stil und in «Wir-Form» werden Mitteilungen gemacht und Fragen über Maison Martin Margiela beantwortet. Ein wunderbares Beispiel aus einem schriftlichen Interview: «Was bedeutet Erfolg für Maison Martin Margiela?» Antwort: «Erfolg ist, wenn man sich selbst wohlfühlt, aber das gilt für jeden.»

6. Only the Brave
Natürlich wird in dem Innenhof der Rue Saint Maur, neben dem weiss angemalten Kaffeeautomaten, auch über die Modefamilie gesprochen. Ja, Yves Saint Laurent ist ein grösseres Vorbild als Coco Chanel. Und: Ja, die Zusammenarbeit mit Herrn Renzo Rosso von dem Jeans-Imperium Diesel verläuft hervorragend. Auch die Erfolgsgeschichte von Renzo Rosso hatte eine lange Anlaufphase. Wie Martin Margiela ist er seit Langem von gebrauchter Kleidung fasziniert, von absichtsvoll und künstlich gealterten Kleidungsstücken. Am Eingang von Maison Martin Margiela steht ein alter, weisser Einfache-Menschen-Campinganhänger, der als Empfangsschalter dient. Ist das vielleicht eine Anspielung auf die Zeit, in der Renzo Rosso mit einem abgewrackten Ford Transit die Märkte von Europa aufsuchte, um seine vorgewaschenen Jeans an den Mann oder die Frau zu bringen? Seit 2002 ist Maison Martin Margiela Teil von Rossos Firma Only the Brave. Hier sind auch die niederländischen Designer Victor & Rolf seit Kurzem untergekommen. Jeder hat so bessere finanzielle Bedingungen. Tatsächlich gibt es immer mehr Läden von Maison Martin Margiela. Diesen Herbst wird in Münchens Maximilianstrasse ein Laden eröffnet, der sechzehnte nach New York, Los Angeles, Peking, Moskau, Sankt Petersburg und Mailand. Der erste Laden wurde in einer ruhigen Wohngegend Tokios im Jahr 2000 eröffnet, erst danach waren Brüssel, Paris und London an der Reihe. Inzwischen macht das Unternehmen Maison Martin Margiela einen jährlichen Umsatz von 70 Millionen Euro. Wie sehen die Läden aus? Sind sie etwa alle komplett weiss? Fast, nur hier und da finden sich schwarze Ziffern und Buchstaben. Die Zahl Null in einem Kreis etwa verweist auf die «Collection Artisanale» für Damen und Herren. Diese wird mit der Hand in Pariser Nähstuben und nicht in italienischen Fabriken gefertigt. Seit 1989 werden jedes Jahr zehn verschiedene «artisanales» – das heisst handwerkliche – Teile entworfen. Von jedem Entwurf werden maximal fünf Exemplare gefertigt oder auf Anfrage speziell hergestellt. In den beigefügten Informationen für die Käufer wird stets die exakte Arbeitsdauer für jedes Teil angegeben. In ein Exemplar gehen beispielsweise 75 Arbeitsstunden. Der Preis ist angemessen. Er kann bis zu 10 000 Euro betragen. In Los Angeles besitzt eine Dame – sie «sammelt Margiela» – etwa sechshundert Kleidungsstücke von Maison Martin Margiela. «Sie hat Martin verstanden», bemerkt man dazu in Paris.

7. «Collection Artisanale»
Die Directrice der Kollektion arbeitet seit achtzehn Jahren bei Maison Martin Margiela und erklärt, die «Collection Artisanale» reagiere auf die überanstrengte klassische Haute Couture. Zugleich verstärkt sie Akzente, die bereits in den übrigen Kollektionen durchscheinen, wodurch wieder neue Ideen entstehen können. Die «Collection Artisanale» stärkt das Team in dem Wettlauf gegen die Zeit, der für die Mode so bezeichnend ist. Nun, da die «Erforschungs- und Entwicklungsphase» der Winter-Kollektion 2009/2010 bereits abgeschlossen ist, werden wieder neue Impulse für die folgende Saison gesucht. Ich bin fasziniert von der «Collection Artisanale». Vor allem das neue Ballkleid, hergestellt aus alten zerbrochenen Schallplatten und das Cape aus langen menschlichen Haaren haben es mir angetan, ebenso wie eine besonders sinnliche, gänzlich aus zusammengenähten weissen Perücken gefertigte Jacke. Sie ist als Überraschung für die Feier von Designerin Sonia Rykiel im kommenden Herbst im Pariser Musée des Arts Décoratifs gedacht. Ich verspreche dem Team, ihm eine Reproduktion der Maria Magdalena aus dem Bayerischen Nationalmuseum zu schicken, wenn ich wieder in München bin. Die Figur mit den langen offenen Haaren wurde im 16. Jahrhundert von dem virtuosen deutschen Bildhauer und Holzschnitzer Tilman Riemenschneider gefertigt. In Maison Martin Margiela hat immer alles mit allem zu tun, die Vergangenheit ist eine nicht versiegende Quelle von Inspirationen.

8. Man Ray
«Wow! Unglaublich! Sieht aus, als ob Man Ray hier war!», steht auf dem schwarzen Brett in einem Atelier von Maison Martin Margiela zu lesen. Man Rays fotografische Eingebungen und seine surrealistischen Collagen kommen in den Arbeiten von Margiela immer wieder vor: in zweideutigen Spielen mit Ikonen und Accessoires, in der Obsession mit Details wie Strassennamen und Hausnummern und in dem Getue mit Farbflecken. Wer in der Mode ein kulturelles Stiefkind sieht, ist bei Martin Margiela an der falschen Stelle: Er gibt ihr den Anschein von Hochkultur. Das subtile Spiel der Mode war in den Zwanziger- und Dreissigerjahren für die Surrealisten eine Bereicherung ihrer Kunst. Für Martin Margiela bietet der Surrealismus – mit Man Ray als grossem Vorbild – einen Schatz an Inspirationen. Wahrscheinlich interessiert Martin Margiela sich deshalb so sehr für andere Disziplinen wie die bildende Kunst, weil er die schizophrene Situation der Mode durchschaut hat. Denn wie die Kunst unterliegt die Mode einerseits dem Zwang, sich ständig anpassen zu müssen; gleichzeitig wird sie jedoch stets aufgefordert, diese Beschränkungen zu sabotieren.

9. Zeit
Seit 1988 konfrontiert sich Maison Martin Margiela mit dem Thema Vergangenheit. Eine scheinbar unmögliche, ja paradoxe Aufgabe, impliziert doch der Begriff «Mode» bereits die selbst auferlegte Einschränkung: Sie verspricht jedes Mal wieder das Neueste von dem Neuen: «Le dernier cri!». Alle sechs Monate präsentiert sie sich, als ob sie sich gerade neu erschaffen hätte. Jedoch, was vorbei ist, ist «démodé» – aus der Mode – und hat keine Chance mehr. So sieht es wenigstens aus, bis man Maison Martin Margiela sieht und hört. «Margielas Mode ist eine Art der Erinnerungskunst», kommentiert die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, die der Entwicklung des Modeschöpfers in erfindungsreichen Essays auf Schritt und Tritt folgt. «Eine ‹Ars Memoria›, sie steht im krassen Gegensatz zu der Mode, die ein Elixier des Vergessens ist.» Über wenige Couturiers wird so ausführlich berichtet wie über Martin Margiela. Je nach dem, in welchem Zusammenhang geschrieben wird, macht Margiela nicht nur «Mode nach der Mode», sondern auch «Mode vor der Mode» und sogar «Mode über die Mode».

10. Die Kunstwelt
Seit Jahren ist er der Liebling der Kunstwelt und sogenannter intellektueller Künstler, die Regisseurin Asia Argento ist ebenso sein Fan wie die Videokünstlerin Tacita Dean. Ist es, weil Margiela eine Art düstere, romantische Körperkunst macht, die sowohl emotional als auch konzeptuell ist? Weil sein Werk so viele verschiedene und komplexe Erkenntnisse hervorbringt? Weil seine Mode Traum und Trauma Ausdruck verleiht, Schönheit und Hässlichkeit, zarter Erotik und wildem Sex und alles zur gleichen Zeit? Oder ist es einfach, weil bei Maison Martin Margiela Geschäft und Kunst Hand in Hand gehen und selbst der Glamour intellektuelle Züge trägt? In einflussreichen Kunstmagazinen wie «Artforum» und «Texte zur Kunst» wird Mode in letzter Zeit grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Isabelle Graw, Chefredaktorin von «Texte zur Kunst», kennt sich als eine der wenigen Kunstkritikerinnen in der Mode aus und nimmt sie ernst. So schreibt sie: «Die Grenzen zwischen dem System ‹Mode› und der Kunstwelt sind immer durchlässiger, die Übergänge immer fliessender geworden. Das wechselseitige Austauschverhältnis hat ein neues Ausmass erreicht… Heute arbeitet die Mode als Prinzip nicht nur latent in der Kunst, sondern wird buchstäblich Teil ihres Inhaltes.» Vielleicht erleben wir dieser Tage den Höhepunkt der Kolonialisierung der bildenden Kunst durch die Mode. Sie begann mit den Surrealisten und setzte sich via Andy Warhol und der Pop-Art weiter fort, bis sie schliesslich zahllose junge zeitgenössische, sowohl umtriebige als auch stille Künstler erreichte. Ihr Einfluss ist momentan in der Ausstellung von Takashi Murakami im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und auch in London bei Dominique Gonzales-Foerster in der Tate Modern zu sehen.

11. Intelligenz
Die Mode hat selbst den Film als das neue Gesamtkunstwerk abgelöst. An der Mode kommt nichts und niemand vorbei. Sie sitzt uns, wie Meryl Streep ihrer jungen Assistentin in dem Film «The Devil Wears Prada», buchstäblich im Nacken. Aber die Mode hat, vor allem wenn wir Lifestyle- und Modemagazine aufschlagen, inzwischen alles auf ein leeres Zeichen reduziert. Die Hektik von «Le dernier cri» ist umgeschlagen in hilfloses Gekicher. Das hat Martin Margiela wie kein anderer begriffen. So macht er Mode mit Kleidungsstücken, die völlig anders sind, die Konzentration und Klarheit und eine Verkörperung von Intelligenz signalisieren. Maison Martin Margiela ist eine Ausnahme von der Regel. Das wird nun mit einer retrospektiven Ausstellung gefeiert, «Maison Martin Margiela 20», die nach dem Mode-Museum in Antwerpen auch nach München kommt.

12. Epilog
Spätabends komme ich in Brüssel an. Ich trinke ein belgisches Bier an der Bar L’Archiduc in der Antoine Dansaertstraat. Hier kommen noch immer alle hin, auch die Brüsseler Fashionistas. Vor etwa zwanzig Jahren bewunderten wir alle die interessante Verkäuferin eines Modeladens um die Ecke. Sie trug Klamotten von Martin Margiela. Nach Mitternacht verlasse ich das Café und laufe durch die Galerie de la Toison d’Or. Ich denke: Die Mode von Martin Margiela ist die verborgene Seite des Mondes. In Flämisch sagt man «Maan». «Maan Ray»?

Der Autor
Chris Dercon, 51, ist Direktor am renommierten Haus der Kunst in München. Kunst und Mode sieht er als Einheit, seinen belgischen Landsmann Martin Margiela als einen ihrer bedeutendsten Vertreter. Zu Beginn der Achtzigerjahre hält Dercon Lesungen über die Soziologie der Mode, unter anderem an der Modeakademie in Arnheim. In Brüssel lernt er Jenny Meirens kennen und kauft bei ihr seine erste Comme-des-Garçons-Hose. Sie stellt ihm eine Entdeckung vor, ihren Schützling Martin Margiela. 1997 präsentiert das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam mit Chris Dercon als Direktor und in Zusammenarbeit mit dem Mikrobiologen Erick van Egeraat die erste Solo-Ausstellung von Martin Margiela. In dem Museum bricht ein Tumult aus, weil die Bakterien und Schimmelpilze, die Van Egeraat an der Kleidung angebracht hat, den Rest der Museumskollektion bedrohen. 2003 lädt Dercon, inzwischen Direktor am Haus der Kunst, die Mode-Diva Ann Demeulemeester aus Antwerpen ein. Im März nächsten Jahres präsentiert das Haus der Kunst die Retrospektive «Maison Martin Margiela 20». Chris Dercon sammelt als Privatperson Textilien und Kleidungsstücke, unter anderen von Martin Margiela. Er sieht sie als – bezahlbare – surrealistische Objekte.

Bild: Cellina von Mannstein
Bild: Cellina von Mannstein
Bilder: Cellina von Mannstein
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