Ein Nest für das neue China

Es ist vollbracht: Das Olympiastadion von Herzog & de Meuron steht. Es soll das sich verändernde Land repräsentieren: Chaos, Dynamik, Kraft. Die Geschichte des Baus ist die Geschichte eines Kulturkampfs.

08.08.2008 von Guido Mingels , 3 Kommentare

Wer es einmal gesehen hat, wird es nicht mehr vergessen können. Dieses Ding, es ist ein Wunder. Aus staubigem Boden erhebt sich ein silbern glänzendes Geflecht strahlender Linien, die in alle Richtungen laufen und ins Unendliche zu streben scheinen. Man blickt sich um, ungläubig prüfend, ob dies wirklich derselbe Planet ist wie gestern. Der Ort also, wo die Schwerkraft gilt und wo die Menschen leben. Oder ob man vielleicht heute Morgen irrtümlich in einem Paralleluniversum aufgewacht ist.

Aber da drüben steht ein Chinese in einem blauen Kittel, füllt Wasser in einen Eimer und flucht. Kein Ausserirdischer.

Vielleicht stehe ich zu nahe dran. 200 Meter Abstand, und der Blick wird ein wenig klarer. Es könnte das Modell eines Gehirns sein, ins Gigantische projiziert. Es könnte ein riesiges Wollknäuel sein, und gleich taucht eine kilometerhohe Katze auf, um damit zu spielen. Oder einfacher, die Architekten haben wütend ihre Entwürfe zerkritzelt und dann aus Versehen das Gekritzel realisiert. Oder es ist, geflochten aus Stahlzweigen, das grösste Vogelnest der Welt.

Es ist das Olympische Stadion von Peking, das offiziell Nationalstadion heisst, das aber alle nur «bird’s nest», Vogelnest, nennen. Gebaut haben es die Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron, und dass es jetzt, nach dreieinhalb Jahren Bauzeit, leibhaftig dasteht, grenzt tatsächlich an ein Wunder. An ein logistisches, handwerkliches und nicht zuletzt politisches Wunder. «Mehr als einmal stand ich auf der Baustelle und dachte, wir schaffen es nicht», sagt Pierre de Meuron heute. Aber jetzt kann nichts Wesentliches mehr schiefgehen. Die äussere Stahlkonstruktion und die innere Betonschüssel – das eigentliche Stadion – sind errichtet, es fehlt noch der Innenausbau, doch alles läuft nach Plan, zur Eröffnung der Olympischen Spiele, am 8. August 2008, wird Projekt Nummer 226, so der amtliche Name im Büro Herzog & de Meuron, längst fertig sein. 320 Meter maximale Spannweite, 70 Meter hoch, 91 000 Sitzplätze. 42 500 Tonnen Stahl wurden verarbeitet, Tausende Arbeiter haben gleichzeitig daran gebaut. «Alle sagen, es sei das Radikalste, was wir je entworfen haben», sagt Jacques Herzog, «und ich glaube, dieses Stadion verkörpert wie kein anderes Gebäude das neue China. Es hätte nirgendwo anders realisiert werden können.» Herzog hofft, «dass dieses Bauwerk für Peking sein wird, was der Eiffelturm für Paris ist».

Spielplatz der Star-Architekten

Die Olympischen Spiele 2008 in Peking und später die Weltausstellung 2010 in Shanghai werden Chinas erste grosse globale Auftritte seit der Öffnung sein. Zwar ist das Land ökonomisch und geopolitisch nun schon lange zurückgekehrt aus der Dunkelheit des Kommunismus, jedoch erscheint es im Bewusstsein der Welt noch immer nur als riesige unbekannte Fläche, wo 1,3 Milliarden Arbeitskräfte ohne Menschenrechte leben, die für wenig Lohn die physischen Jobs der Weltwirtschaft erledigen, eine Art fernöstliches Arbeitslager von gewaltigem Ausmass.

Die Spiele sind die erste Gelegenheit des heutigen China, einem globalen Publikum ein anderes Bild zu zeigen – ein selbst gemaltes. Als Peking 2001 die Sommerspiele zugesprochen erhielt, machten sich die Behörden daran, eine angemessen grosse Bühne zu bauen zur Präsentation des materiellen Fortschritts ihrer Gesellschaft. Schon Jahre zuvor hatte eine Welle von Architekturwettbewerben und Bauaufträgen eingesetzt, Peking wurde zum Elysium für internationale Star-Architekten: der Franzose Paul Andreu hat die Nationaloper gestaltet, Norman Foster erweitert den Flughafen, Rem Kohlhaas’ Firma baut den neuen Hauptsitz für den chinesischen Staatsfernsehsender CCTV und Herzog & de Meuron eben das Olympiastadion.

Nachdem die Basler 2003 den Wettbewerb gewonnen hatten, begannen die Schwierigkeiten. Erst drohten die Architekten ausgebootet zu werden, denn der Hauptinvestor wollte zwar das Design der äusseren Struktur übernehmen, mit der Gestaltung des Inneren jedoch, um Kosten zu senken, ein eigenes lokales Architekturbüro beauftragen, was das Projekt völlig vom Geist der Erfinder entfernt hätte. «Wir mussten in dieser Zeit, als es noch keinen gültigen Vertrag gab, jederzeit fürchten, nicht mehr Herr der Lage zu sein», sagt Pierre de Meuron. Er flog in einem Jahr vierzehnmal nach Peking, auch mitten während der Sars-Krise, um Verhandlungen zu führen, die sicher stellen sollten, dass der Bau schliesslich so ausgeführt würde, wie er gedacht war.

In jener Phase griffen die Basler auf die Unterstützung von Uli Sigg zurück, dem ehemaligen Schweizer Botschafter in China, der die richtigen Kontakte hatte und wusste, wie man mit Chinesen kommuniziert. Sigg war es auch, der Herzog und de Meuron mit dem grossen Pekinger Künstler Ai Weiwei bekannt machte, der für die Architekten seit der Entwurfsphase als eine Art Kultur-Dolmetscher wirkt. Weiwei sagt heute: «Ich hatte lange grosse Angst um Jacques und Pierre. Wenn ein Projekt dieser Grösse schiefgeht, hätte das ihren Ruf und ihr Leben ruinieren können.»

Zwar war am Weihnachtstag 2003 der Spatenstich erfolgt, doch kamen die Arbeiten schon bald wieder zum Erliegen. Am 23. Mai 2004 geschah in Paris ein Unfall, der das gesamte Projekt gefährdete. Am Flughafen Charles de Gaulle waren Teile einer eben erst erbauten Passagierhalle aufgrund gravierender Konstruktionsfehler eingebrochen, wobei vier Menschen zu Tode kamen, zwei davon chinesische Staatsbürger. Entworfen worden war das Gebäude von Paul Andreu, dem Urheber der neuen Pekinger Oper. Dies führte in China zu einer Welle der Kritik an den Avantgarde-Projekten im eigenen Land. Renommierte chinesische Fachleute, die alte Garde der Staatsarchitekten, stellten in einem Brief an den Premierminister die Sicherheit diverser Prestigebauten infrage, und der Vorwurf wurde laut, die europäischen Baumeister nutzten China als Experimentierfeld für Ideen, die sie nirgends sonst verwirklichen könnten. «Sie benutzen China als architektonisches Atomwaffen-Testgelände» – so ein Pekinger Professor. Im Zuge dieser Debatte fiel unter Chinas Intellektuellen auch das Stichwort der «Selbstkolonialisierung»; eine plötzliche Skepsis gegenüber den ausnahmslos ausländischen Designern, die das neue Gesicht der Stadt formen sollten, brach sich Bahn.

Die Stimmung hatte sich also plötzlich gewendet, von einer Euphorie des Neubeginns zu einem neochauvinistischen Trotz, und dazu kam bald auch heftige Kritik an den Kosten. Das chinesische Olympische Komitee hatte im Sommer 2004 beim Besuch der Spiele in Athen gesehen, dass man einen solchen Sportwettbewerb auch viel billiger durchführen kann. Das Konstruktionsbudget für das Nationalstadion – von den bei Wettbewerbsausschreibung genannten 500 Millionen Dollar ohnehin schon auf 325 Millionen verschlankt – sollte nochmal um 10 Prozent reduziert werden. «Dies war nur noch über eine Veränderung des Designs möglich», sagt Pierre de Meuron. Der Finanzstreit führte schliesslich zu einer anderen, überraschenden Lösung, die dem Konzept des Baus nach Ansicht der Basler Architekten sogar zugute kam: Man einigte sich darauf, das geplante riesige Schiebedach wegzulassen. Diese Massnahme erlaubte es, etwa 10 000 Tonnen Stahl einzusparen: Die Kosten waren im Lot und mit 290 Millionen Dollar ohnehin bei einem Bruchteil dessen angekommen, was ein Vorhaben dieser Grösse im Westen verschlingen würde.

Wahnwitziges Arbeitstempo

«Ein Jahr nach Baubeginn war hier praktisch noch nichts», sagt Thomas Polster, 40, Herzog & de Meurons Mann vor Ort, bei einem Rundgang über die Baustelle. «Aber dann, als endlich alles entschieden war, ging es mit einem wahnwitzigen Tempo zur Sache.» Für die Erdarbeiten wie auch später für den Betonbau kamen bis zu 10 000 Arbeiter gleichzeitig zum Einsatz. «Es kam mir vor wie bei einem Pyramidenbau», sagt Pierre de Meuron, «das waren absolut archaische Szenen.» Er erinnert sich an die vielen kleinen Holzöfen, die die Arbeiter im Pekinger Winter, bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad und schneidenden Nordwinden, überall auf der Baustelle verteilt hatten, um sich zwischendurch daran die Hände zu wärmen. Das Bauunternehmen, das für diesen Teil der Konstruktion zuständig war, ist aus der chinesischen Armee hervorgegangen, die Arbeiter waren also ursprünglich Soldaten und dementsprechend hierarchisch organisiert: in Kohorten zu je hundert Mann, die am Morgen vom Vorarbeiter die Befehle erhielten. Auch Thomas Polster benutzt raumgreifende Metaphern, wenn er von der frühen Arbeit an Nummer 226 erzählt. Beim Aushub der Erde sah er einen «Ameisenhaufen von Menschen» am Werk. Ein gutes Bild, um zu begreifen, dass Chinas Bodenschätze seine Menschen sind.

«Passens auf, wo Sie hintreten», sagt Polster, gebürtiger Münchner, als wir über die Baustelle gehen, «es gibt überall Löcher, wo man reinfallen kann.» Verteilt ums Stadion stehen ein paar Handlanger mit Wasserschläuchen in der Hand, lebende Sprinkler, die den Boden wässern, um den Staub zu binden. Würden sie das nicht tun, wäre es schwierig, in der staubigen Luft die verschiedenen Legierungsschichten auf die Stahlelemente aufzutragen, von denen jetzt nur noch einige wenige unmontiert auf dem Bauplatz stehen und darauf warten, an den für sie vorgesehenen Platz gehievt und verschweisst zu werden. Die Stahlkonstruktion besteht, einem dreidimensionalen Puzzle gleich, aus Tausenden von vorfabrizierten Einzelteilen, von denen manche bis zu 350 Tonnen wiegen. Wenige dieser Teile sind einfach gerade Balken, die meisten haben bizarr gewundene Formen mit fünf oder sechs offenen Enden, die am Zielort im Puzzle zentimetergenau auf ebenso viele Anschlusspunkte treffen müssen. Fabriziert worden sind sie bei Shanghai, weil dort die grossen Stahlwerke stehen, um dann mehr als tausend Kilometer weit nach Peking gefahren zu werden.

Wir gehen durch das künftige Marathon-Tor ins Innere des Vogelnests. Polster, seit 2004 in China, ist ein sympathischer Technokrat, er kann Wörter wie «Membranbau» und «Stahltragewerk» in der Landessprache sagen, übers Wetter reden kann er nicht. Erst von innen erkennt man, dass das Vogelnest aus zwei streng geteilten «Hälften» besteht: der das Spielfeld umschreibenden Betonschüssel mit den Sitzplätzen, quasi der Brutplatz des imaginierten Vogels, und dem die Sitzplätze umrahmenden und überdachenden Stahlgeflecht. Beton und Stahl berühren einander nirgends. Das ist einerseits notwendig zum Schutz bei Erdbeben und andererseits wegen der thermischen Ausdehnung des Stahls; damit sich die beiden Teile unabhängig voneinander bewegen können. «Wenn da im Sommer die Sonne draufbrät, wird sich das Stahlgitter als Ganzes ausdehnen, verformen.» Die Hülle, das Puzzle, ist also ein einziger Körper, es gibt in der gesamten Stahlstruktur keine einzige Schraube, keine einzige Niete, alles ist ineinander verschweisst. Hoch oben sieht man die Schweisser an den Ästen turnen, blaue Punkte auf silbernem Grund, von spritzenden Funken umstrahlt, sie sind gesichert wie Hochgebirgskletterer.

Thomas Polster sucht im Rohbau ein beleuchtetes Treppenhaus, um nach oben zu steigen, «denn die unbeleuchteten werden leider von den Arbeitern als Toiletten missbraucht». Oben angekommen, öffnet sich der Blick auf die Umgebung des Stadions, auf den weitläufigen Park und das «Zwillingsgebäude» des Vogelnests, die neue Schwimmhalle in direkter Nachbarschaft. Der sogenannte Water Cube ist ein riesiger blauer Quader mit quadratischem Grundriss, dessen Aussenflächen mit seifenblasenartigen Membranen überzogen sind, es sieht aus wie Badeschaum, das ganze Gebäude wirkt beinahe flüssig. Der chinesische Partner-Architekt von Herzog & de Meuron, Li Xinggang, wird mir später erklären, dass er die beiden Bauten als Verkörperung des Yin-&-Yang-Prinzips liest, das Gegensätze vereint: «Das eine ist rund, das andere quadratisch. Das Vogelnest ist feste Behausung, der Water Cube fliessendes Wasser. Eines ist sehr stark, das andere sehr sanft.»

Polster deutet in die Ferne – da irgendwo, verschluckt von Smog und Staub, liegt das Zentrum der 12-Millionen-Metropole. «Zwischen Schwimmhalle und Stadion verläuft die historische Kaiserachse», erklärt Polster. Das Olympiagelände liegt damit auf der Verlängerung der Linie, auf der im Stadtzentrum der alte Kaiserpalast, Verbotene Stadt genannt, der Tiananmen-Platz mit dem Mao-Mausoleum sowie der Glocken- und der Trommel-Turm angebracht sind, alles Symbolbauten vergangener Herrschaftsträger. Der Standort zeigt also, welche Bedeutung die Behörden dem Nationalstadion zumessen, ist es doch städtebaulich nach dem gleichen Prinzip platziert worden wie die Grande Arche in Paris, die ebenfalls die Fortsetzung einer «axe historique» zwischen Arc de Triomphe und Louvre/Tuilerien bildet.

Toilette statt Vogelnest

Um das Büro von Li Xinggang zu finden, hat mir Thomas Polster eine nützliche Eselsbrücke gebaut. Die Worte «Schuma Dascha», einem Taxifahrer zugerufen, sollten reichen, um zum Platz des gleichklingenden Namens zu gelangen, «und ‹Schuma Dascha› könnens sich merken mit ‹Schumacher Dachschaden›». Die Losung funktioniert, doch das Taxi braucht für die paar Kilometer fast eine Stunde. Es ist das übliche Schritttempo auf Pekings zehnspurigen Ringstrassen, die sich wie Jahresringe konzentrisch um den Stadtkern legen, und von denen laufend neue gebaut werden. Doch der Verkehr wächst noch schneller als das Strassennetz: Tag für Tag werden gegen tausend neue Privatwagen zugelassen in der Hauptstadt, die ganze Mittelschicht motorisiert sich. Würde man die Fahrtlinien der Autos auf einer beliebigen Pekinger Kreuzung nachzeichnen, man käme auf ein ähnliches Gewirr, wie es die Stahlstreben des Olympiastadions beschreiben.

Auf einem Tisch in Li Xinggangs Büro steht ein Modell des Bauwerks im Massstab 1:400, und man versteht nun, dank der Vogelperspektive, warum der chinesische Architekt, als er vor Jahren die ersten Skizzen sah, die Befürchtung hatte, das Design könnte die Auftraggeber an eine Toilette erinnern – genauer an ein Baby-Töpfchen. Li, 39, ein jungenhaft wirkender Mann mit Studentenbrille und verschwindend leiser Stimme, gehört zur China Architecture Design and Research Group (CAG), die Herzog & de Meuron von Ai Weiwei empfohlen worden war, und mit der die Basler schon seit 2003 zusammenarbeiten. Li erkannte auch das Risiko einer Ähnlichkeit mit einem Pferdesattel oder einer chinesischen Polizisten-Kappe. «Chinesen», erzählt er, «haben die Angewohnheit, grossen Bauten Spitznamen zu verleihen», die dann die Wahrnehmung entscheidend beeinflussen. Paul Andreus Nationaloper, eine riesige weisse Blase, heisst im Volksmund «Entenei», was das grotesk überdimensionierte Gebäude nicht beliebter gemacht hat. Norman Fosters Flughafen-Appendix schlängelt sich dagegen wie ein Drachenschwanz – ein sicherer Gewinner im Land der Lindwurm-Mythologie. Rem Kohlhaas’ Fernsehzentrum wiederum – zwei miteinander verbundene geneigte Türme – läuft Gefahr, dauerhaft als «schiefes Tor von Peking» verulkt zu werden.

Natürlich ist dies nicht das Niveau, auf dem chinesische Architekturjurys über Wettbewerbsbeiträge diskutieren. Und dennoch: Li Xinggang erinnert sich an den Entwurf eines europäischen Architekten, der 1997 bei der Ausschreibung zum Bau der Oper mitgemacht hatte. Er bestand aus drei ovalen Gebäuden, deren Dächer mit vieleckigen grünen Flächen gestaltet waren. «Es sah entfernt aus wie drei grüne Schildkröten», sagt Li, «aber der Begriff ‹grüne Schildkröte› hat im Chinesischen eine besondere Bedeutung.» Li getraut sich kaum, die Redensart zu erklären. «Eine grüne Schildkröte ist ein Mann, der verheiratet ist, aber noch eine andere Frau hat, die nicht seine ist.» – Also ein Ehebrecher? – «Genau.» Li lächelt und sagt, als er diesen Entwurf gesehen habe, sei ihm sofort klar gewesen, dass das Projekt keine Chance habe, «obwohl es architektonisch brillant war».

Um eben solche Fallgruben zu umgehen, arbeitete das Designkonsortium von Herzog & de Meuron von allem Anfang an mit chinesischen Partnern zusammen. Der Entwurf wurde aufgrund von Li Xinggangs Bedenken optimiert, weg von Baby-Töpfchen-Pferdesattel-Polizei-Kappen-Dimensionen. Doch an ein Vogelnest, so Li, «hat niemand von uns gedacht». Dieser Kosename, der so entscheidenden Anteil hatte an der zunehmenden Akzeptanz des Bauwerks in der chinesischen Öffentlichkeit, wurde dem Stadion nicht von den Architekten verliehen, sondern von den lokalen Medien. Behörden und Architekten übernahmen ihn, als deutlich wurde, dass er dem Vorhaben nützen kann. Denn ein Vogelnest, so Li, sei in China äusserst positiv konnotiert, «es ist ein Symbol für Geburt, für Familie, für Geborgenheit, für die Natur». Als Schwalbennest-Suppe ist «bird’s nest» ausserdem eine sehr exlusive chinesische Köstlichkeit, die man in teuren Restaurants zu speziellen Gelegenheiten kredenzt. «Der Name war ein glückliches Missverständnis», sagt Li heute.

Ai Weiweis Albtraum

Ai Weiwei serviert Grüntee, stellt die Glastasse auf die riesige Artus-Tafel, die sein Wohnzimmertisch ist. «Bis vor ein paar Monaten hatte ich nachts immer diesen Albtraum, dass das Stadion plötzlich wieder abgerissen wird», sagt er, der den Basler Architekten von Anfang an als künstlerischer Berater zur Seite stand. Ai, 50, einer der bedeutendsten Künstler Chinas, trägt einen schwarzen Ziegenbart mit ergrauter Spitze und einen gemütlichen Bauch. So unwahrscheinlich sei sein Albtraum gar nicht, sagt er; «China hat in seiner Geschichte schon Dinge zerstört, die weit stabiler sind als dieses Stadion». Ai Weiwei hat die destruktive Kraft der chinesischen Gesellschaft am eigenen Leib erfahren, er ist der Sohn des bekannten kommunistischen Dichers Ai Qing, der Maos Grossen Marsch mitgemacht hatte, dann jedoch als kritischer Intellektueller in Ungnade fiel und samt Familie in die Wüste Gobi verbannt wurde, um später, 1966, beim Ausbruch der Kulturrevolution, in einem Arbeitslager zu landen. Politische und kulturelle Gewalt ist ein Hauptmotiv in Ai Weiweis Werk. Eine seiner bekanntesten Video-Arbeiten zeigt den Künstler, wie er eine zweitausendjährige Tonvase aus der Han-Dynastie zu Boden fallen lässt. Uraltes Kulturgut – in einem Sekundenbruchteil zerstört

Mittlerweile aber, sagt Ai, habe er den Traum nicht mehr, «denn jetzt hat sich der Ton geändert in den Zeitungen, die Kritik ist verstummt, jetzt heisst es, das Stadion werde ein nationales Symbol, es sei beseelt vom Geist Chinas».

Ai Weiwei ist sich bloss nicht sicher, ob er das für eine gute Nachricht halten soll. «Jetzt sagen plötzlich alle: Das Stadion ist wie wir.» Die Uminterpretation des Baus ins Chinesische, zu welchem Zweck nun Kommentatoren kulturhistorische Referenzen suchen und finden, missfällt ihm. Man deutet das Vogelnest offiziell als Symbol für Harmonie, für Kraft, für Aufbruch. Doch Ai betont eine andere Lesart, er erkennt in diesem Bauwerk, wie in jeder grossen Architektur, eine ästhetisch-moralische Qualität. «Es ist sehr liberal und sehr chaotisch. Es gibt keine Richtung vor. Es ist insofern geradezu das Gegenteil des heutigen China. In China herrscht noch immer ein totalitäres System. Obwohl alles offener geworden ist, gibt es keine Demokratie.» Für ihn ist die Tatsache, dass in seiner Heimatstadt ein so radikales Bauwerk tatsächlich realisiert werden konnte, eher Ausdruck der Naivität der Auftraggeber. «Diese Leute haben keine Ahnung von Architektur. Sie wissen nicht, was sie da haben bauen lassen.»

Dann gesteht Ai Weiwei, dass er noch kein einziges Mal auf der Baustelle war. Vielleicht werde er sogar der Eröffnung fern bleiben. «Ich bin ein extrem unsportlicher Mensch», begründet er lachend, aber es ist klar, dass dieser Künstler, dessen Familie vom Staat verfolgt wurde, keinen Wert darauf legt, Regierungsvertretern die Hände zu schütteln. «Bei der Eröffnung wird es darum gehen, dieses Land zu glorifizieren. Damit will ich nichts zu tun haben.»

Bauen für eine Diktatur?

Den Vorwurf, Repräsentationsarchitektur für ein autoritäres Regime zu erstellen, müssen sich die europäischen Grossbaumeister, die sich in Chinas Dienste stellen, vor allem in der Heimat anhören. Der bekannte holländische Essayist Ian Buruma stellte in einer Polemik im «Guardian» die Frage an Rem Kohlhaas, welcher bedeutende Architekt der Siebzigerjahre wohl einen Fernsehsender für General Pinochet gebaut hätte. Dem zentralen Instrument der chinesischen Staatspropaganda eine dekorative Behausung zu schaffen, sei, so Buruma, «kein ehrenwertes Unterfangen».

Dieselbe Prinzipienfrage gilt letztlich auch für Projekt Nummer 226 von Herzog & de Meuron. «Nein, ich habe keine befriedigende Antwort auf die Frage ‹Warum baut ihr für China?›», sagt Jacques Herzog bei meinem Besuch in Basel – um sich dann dennoch ausführlich zu rechtfertigen. «Ich kann nur sagen, dass wir bei diesem Bau keinerlei Konzessionen gemacht haben, wir haben uns niemals ideologisch einspannen lassen für eine Weltanschauung.» De Meuron und Herzog hoffen im Gegenteil, mit ihrer Arbeit vielleicht dazu beizutragen, den Geist der chinesischen Öffnung sichtbar und damit für die Machtträger auch verpflichtender zu machen. Pierre de Meuron sagt: «Ich glaube nicht, dass dieser Prozess der Öffnung umkehrbar ist. Und an diesem Wendepunkt der Geschichte zu sagen, ‹nein, für euch bauen wir nicht, weil ihr nicht unsere Demokratie habt›, wäre dumm. Es wäre sogar feige.»
Herzog und de Meuron sehen in ihrem Stadion weniger ein abgeschlossenes Gebäude zum Zweck der Durchführung von Sportanlässen als eine öffentlich begehbare Skulptur. Den Vergleich mit dem Eiffelturm zieht Herzog nicht aus Überheblichkeit, sondern aufgrund funktionaler Parallelen. «Auch der Eiffelturm wurde für einen temporär begrenzten Anlass, die Weltausstellung, gebaut, entwickelte sich dann aber zu einem gesellschaftlichen Ort, dessen ursprünglicher Zweck keine Rolle mehr spielt.» Ähnliches wünscht Herzog sich für die Zeit nach den Spielen für das Vogelnest. Für die Architekten war es von zentraler Bedeutung, dass das Publikum dieses Olympiastadion erleben kann, dass man sich im Stahlgewebe via zahlreiche Treppen und Geschosse bewegen kann, dass es nicht nur eine schöne Hülle ist.

Die Chancen, dass das Bauwerk und der es umgebende Park später zu einem belebten Forum werden können, sind gegeben, bedenkt man die Vorliebe der Chinesen für die gemeinsame Leibesertüchtigung im Freien. Jeden Tag versammeln sich Tausende Pekinger in den Stadtparks, um sich gruppenweise dem Tai-Chi zu widmen, Walzer zu tanzen, sich Federbälle mit den Füssen zuzukicken oder auf einsaitigen Quietschgeigen zu spielen. Jacques Herzog hat dieses Treiben lange beobachtet, wie jeder Tourist, «und es wäre mein Traum, wenn wir in der Zukunft solche Szenen rund um unser Stadion sehen würden».

Evolution der Staatsarchitektur

Wer dereinst beim Besuch in Peking nacheinander die Verbotene Stadt, den Tiananmen-Platz und das Nationalstadion besichtigt, wird dabei vielleicht eine Evolution der chinesischen Staatsarchitektur erkennen. Eine Evolution, die den Traum von Herzog & de Meuron, symbolisch an einem neuen China mitzubauen, bestätigt. Die Kaiserachse, auf der alle drei Bauwerke stehen, ist gleichzeitig eine Zeitachse der politischen Kultur Chinas. Der quadratkilometergrosse Kaiserpalast, der im 15. Jahrhundert angelegt wurde und nacheinander vierzehn Kaisern der Ming- sowie zehn der Qing-Dynastie Heimat bot, war eine eigene Stadt in der Stadt, von hohen Mauern umgeben, welche die gottähnlichen Herrscher niemals verliessen, unerreichbar für das Volk. Der Tiananmen-Platz wiederum, von Mao umgestaltet, ist eine schier endlose offene Fläche, zu der zwar jeder Bürger Zutritt hat, auf der sich der Einzelne aber restlos verloren fühlt; es ist Monumentalarchitektur mit erdrückender Wirkung, und erst in der Ferne, am Rand des Platzes, bieten die Mao-Grabstätte und das Kongressgebäude als einzige Perspektive dem Auge einen Halt. Das Olympiastadion schliesslich, sieben Kilometer nördlich, drückt eine völlig andere Haltung aus. Es ist riesig, aber es hat keine Mauern und nichts zu verbergen. Die Stahlstruktur hat keine Türen, ist überall betretbar, jeder kann jederzeit hinein und hinaus. Das Vogelnest ist ein Geflecht ohne Hierarchie, in dem aber jeder Zweig eine statische Funktion hat; bricht man nur einen hinaus, leidet seine Stabilität. Wenn dies zum Sinnbild eines neuen China würde, dann hätte das Olympiastadion mehr getan, als nur seinen Zweck erfüllt.

Aber natürlich entscheidet am Ende nicht die Architektur darüber, wohin die Politik sich entwickelt. Sondern umgekehrt.

Wie von einem anderen Stern: das Olympiastadion von Herzog & de Meuron in Peking | Bild: Andri Pol
Wie von einem anderen Stern: das Olympiastadion von Herzog & de Meuron in Peking | Bild: Andri Pol
Ora et labora: zwei Mönche zu Besuch auf der Baustelle | Bild: Andri Pol
Ora et labora: zwei Mönche zu Besuch auf der Baustelle | Bild: Andri Pol
Geniestreich oder architektonischer Atomwaffentest? Das Vogelnest provozierte wilde Debatten bei Chinas alter Garde. | Bild: Andri Pol
Geniestreich oder architektonischer Atomwaffentest? Das Vogelnest provozierte wilde Debatten bei Chinas alter Garde. | Bild: Andri Pol
"Das Stadion ist wie wir", sagen die Leute in Peking. Ob das eine gute Nachricht ist? | Bild: Andri Pol
"Das Stadion ist wie wir", sagen die Leute in Peking. Ob das eine gute Nachricht ist? | Bild: Andri Pol
Gewissensfrage: Welcher bedeutende Architekt der Siebzigerjahre hätte für General Pinochet gebaut? | Bild: Andri Pol
Gewissensfrage: Welcher bedeutende Architekt der Siebzigerjahre hätte für General Pinochet gebaut? | Bild: Andri Pol

Die Diskussion

3 Reaktionen

  1. Robert Kuehn

    prima artikel der dieses Projekt mal nicht nur von seiner baulichen Seite bestaunt :)

  2. asia

    Sehr interessanter Artikel. Aber leider gibt es ein paar sachliche Fehler in diesem Artikel:

    1. Grüne Schildkröten bezeichnet, dass ein Mann von seiner Ehefrau mit einem anderen Mann betrogen wird. (Nicht umgekehrt wies in diesem Artel geschriben ist.) Darum diese “grüne Schildkräte” ist sehr beleigidt für die Männer. :D

    Niemals schicken Sie chinesischen Männer grünne Kappen!

    2. Ai Weiwei ist wohl nicht “einer der bedeutendsten Künstler Chinas” wie er den Autor projiziert hat.

    Bevor das Vogelnest hatten wenige Chinesen oder Auslander von ihm gehört. Er hat sich durch das Vogelnest profitiert und sich in Szene gesetzt. Echt Weltklasse Kunstwerk hat er nicht gemacht. Dank dem Name senies Vaters bekommt er seinen Reichtum und Ruhm. Aber hier hat Herr Ai Weiwei wieder aufgebauscht: Zwar sein Vater sehr bekannt in China ist, hatte er der Maos Grossen Marsch NICHT mitgemacht, weil er im Gefangnis der damaligen Regierung der Kuomintang Partei, die heute in Taiwan beherrscht, sass.

    3. Trotz der eine-Partei Regierung ist China nicht ein Diktatursland nach Buchstaben. Zum Beispiel, nur guck mal was Herr Ai Weiwei auf seinen Blog kritisch gegen der KP Regierung schreibt oder was Chinesen auf die Internet Foren scharf gegen alle Probleme in China diskutieren. Stattdessen in Gefangnisse geschleppt werden, wie sie in Western an einer Diktatur Regierung gedacht haben, üben diese Chinesen ihre Kritk weiterhin.

    Mann sollte China wirklich kennenlernen. Es is schade, dass viele Menschen im Western nur nach oberflächlich Wörter, beschranket und manchmal irrefühende Information ihre Meinungen über China bilden oder Abschlüsse abschliessen.

    China ist weder Hölle noch Paradies.

  3. Profile Pic
    Vladimir Rott

    Nur die Schweizer blieben im Dienst…

    Ai Weiwei: Why I’ll stay away from the opening ceremony of the Olympics

    When I helped conceive Beijing’s Bird’s Nest stadium, I wanted it to represent freedom, not autocracy: China must change

    guardian.co.uk, Thursday August 07 2008

    http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2008/aug/07/olympics2008.china

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