Gestern Links, heute Rechts

Sie dachten früher links, sie stehen heute rechts. Warum vertreten vor allem Männer das Gegenteil dessen, wofür sie mal gekämpft haben? Drei Konvertiten geben Auskunft.bekämpfen viele Konvertiten so verbissen ihre alten Überzeugungen?

01.03.2007 von Jean-Martin Büttner

Wie muss man sich eine Bekehrung vorstellen? Als blitzartig einschlagende Erkenntnis nach dem Vorbild des Apostels Paulus, dessen Erleuchtung auf seinem Weg nach Damaskus beschrieben wird als Sofortverwandlung eines fanatischen Christenverfolgers in einen nicht minder eifrigen und leider auch humorlosen Christentumverbreiter? Wie kommt es, dass die Ab- und Zugewandten ihre Veränderung selten so radikal wahrnehmen wie alle anderen, denen sie vorher, während und nachher begegnet sind? Warum bekämpfen sie ihre frühere Haltung meistens noch heftiger, als das ihre neuen Gesinnungsfreunde tun? Was für Anfeindungen ehemaliger Freunde gilt es zu erdulden, welches Misstrauen bei den neuen Freunden zu gewärtigen?

Konvertiten, schreibt der deutsche Theologe Christian Heidrich, seien «exemplarische Figuren des Glaubens». Das mag erklären, warum Drogengegner am liebsten ehemalige Fixer in die Debatten schicken, wieso Umweltschützer gerne auf reuige Manager verweisen. Die Bekehrung wird zum triumphierenden Beleg der eigenen Überzeugung und der Bekehrte zum Beweismittel ihrer Halt gebenden Stärke. Tatsächlich verläuft der Wandel meistens in dieselbe Richtung: von einem diffusen Lebensgefühl zu kanonischer Strenge, vom Nichtglauben zum Glauben, von der Sucht zur Sekte, vom gleichgültigen Christentum zum vollbärtigen Islam, von vage jugendlich links bis resolut rechts. Dass Gläubige ihren Glauben verlieren, kommt immer wieder vor, läuft als Prozess aber stiller ab.

Das Laute an der Bekehrung, der Hang zur klar gezogenen Linie, zum öffentlichen Bekenntnis erklärt auch ihr auffälligstes Merkmal: das Geschlecht. Es sind fast nur Männer, die ihre Meinungen so stark revidieren, dass sie dann öffentlich das Gegenteil früherer Überzeugungen vertreten. Entweder bleiben sich Frauen eher treu, machen um ihre Bekehrung weniger Lärm oder stehen weniger in der Öffentlichkeit, weder vorher noch nachher.

Gespräche also mit drei Männern, die im Laufe ihres Lebens ihre Ansichten radikal revidiert haben. Alle drei vertreten sie ihre neue Überzeugung in der Öffentlichkeit und haben ein überdurchschnittliches Mitteilungsbedürfnis. Alle sind hoch gebildet, rhetorisch brillant und überaus selbstbewusst. Einer von ihnen hat sich sofort zum Gespräch bereit erklärt. Einer hält seine Vergangenheit für abgeschlossen. Und einer hegt seiner jetzigen Haltung gegenüber bleibende Zweifel.

Der Unermüdliche: Thomas Held, Direktor der Avenir Suisse

Bei einer Podiumsdiskussion habe er vorne auf dem Bildschirm einen Mann gesehen, der ihm völlig fremd gewesen sei. Dabei sei ihm die Stimme bekannt vorgekommen. Der Fremde mit Lederjacke war er selber, in einer Fernsehaufnahme von 1976. Genauso geht es Thomas Held mit seiner politischen Vergangenheit. Er hält seine Aktivitäten als Achtundsechziger für eine Etappe seiner Biografie, die er zwar durchlaufen, mit der er aber nichts mehr zu tun hat. Antworten über diese Zeit fallen ihm schwer.

«Solche Fragen sind für mich insofern schwierig zu beantworten, als das Ganze sehr lange her ist und einen historischen Charakter hat. Dadurch kommt man in die Versuchung, Vorgänge so darzustellen, wie sie einem passen. Nicht weil man lügt, sondern weil man eben verdrängt hat. Ich merke bei mir, wie meine Zwanzigerjahre verbleichen. Leute grüssen mich, die ich nicht mehr kenne, sie rufen mich an.

In den Achtzigerjahren habe ich meine damalige Position in verschiedenen Interviews dargestellt. Nachher dann nicht mehr, ich wollte mich nicht permanent erklären.»

Sein Blick lässt das Gegenüber nicht los, während er redet. Die Gesten sind sparsam, aber energisch. Er ist sechzig Jahre alt, doch man kann ihn sich gut als Student vorstellen.

Seit bald sieben Jahren leitet Thomas Held eine Denkfabrik im Auftrag Schweizer Grossunternehmen. Ihr Name klingt optimistischer als ihre Botschaft: Avenir Suisse. Held war nicht die erste Wahl für diesen Posten. Verschiedentlich wurde bezweifelt, ob so einer der Richtige sei.

Eine Kassandra

Die Büros befinden sich im obersten Stock eines Industriegebäudes im Westen Zürichs, gleich neben dem Schiffbau, der Dépendence des Zürcher Schauspielhauses.

Das Gespräch mit ihm findet im Gemeinschaftsraum statt, er sitzt einem an einem langen Tisch gegenüber, im Hintergrund summt ein Kühlschrank. An den Wänden hängen Zeitungsartikel, Reaktionen auf die letzte Studie von Avenir Suisse, die den Bauer zum Unternehmer erziehen möchte. Sie hat heftige Reaktionen ausgelöst, wie eigentlich immer, wenn sich Avenir Suisse im Namen der Wirtschaft in die Politik einmischt. Thomas Held akzeptiert sowohl die Kritik wie auch seine Rolle dabei.

«Mir sagt man oft, ich spiele die Rolle der Kassandra. Ich will das gar nicht von mir weisen. Es gehörte schon zur alten Kommunikationsform der Pfarrherren, dass sie die schlechte Welt darstellen mussten, damit die gute erst richtig zur Geltung kam. Das ist nicht verwerflich und muss auch nicht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Überlegungen stehen. Man muss dabei nur aufpassen, als Routinier nicht einfach den Autopilot einzuschalten, wenn die Sache komplex ist. Manchmal frage ich mich auf der Heimfahrt von einer Veranstaltung, ob ich es nicht zu simpel gesagt habe.»

Auch wenn er ungern über den Bruch mit seiner Vergangenheit redet und in seiner heutigen Rolle weder zerrissen wirkt noch zögerlich: Thomas Held gilt als exemplarischer Konvertit der 68er-Generation. Schon im Gymnasium fällt der Sohn eines ETH-Professors als Sprecher der Schülerschaft auf, exponiert sich mit scharfen und gewandten Voten gegen Schulleitung und Regierungsrat. Nach der Matur studiert er Soziologie bei Peter Heintz, später wird er über eheliche Machtverhältnisse doktorieren.

Nach einigen Demonstrationen wird er zum Rädelsführer der Studentenschaft erklärt, das Wort vom Schweizer Dutschke macht die Runde. Als Held in der Folge eine Stelle als Hilfslehrer verliert, ohne rechtliches Gehör im Übrigen, erschrickt er über das mögliche Ende einer Karrie-

re, die er noch gar nicht angetreten hat. Held habe schon damals das verkündet, was gerade angesagt gewesen sei, erinnern sich Mitschüler und Mitstudenten, gegen seinen Professor habe er aber nie aufbegehrt. Als ihm bewusst geworden sei, dass er mit seinen Auftritten seine Zukunft gefährde, habe er den Gang durch die Institutionen angetreten. Dieser Gang beginnt für ihn in einer ausserparlamentarischen Kommission.

«Ich galt als Vertreter der kritischen Jugend und wurde in eine Kommission für ein Jugendhaus in Zürich berufen. Mitte der Siebzigerjahre folgte eine Einladung in eine grosse Kommission zu

einem Schweizer Uno-Beitritt. Dadurch wurde ich mit diesem seltsamen Berner Kommissionswesen konfrontiert. Man traf mit Ständeräten und Bundesrichtern zusammen, wir erarbeiteten zum Beispiel ein Papier zur Frage der Neutralität und warum die Bedenken gegen

einen Uno-Beitritt überholt seien. Mit der Zeit ergab sich eine schwache argumentative Mehrheit für einen Beitritt, was dann in der Kommission zu einem Putsch der konservativen Seite führte. Und ich begriff zum ersten Mal, wie das in der Schweiz politisch funktioniert.»

Die Erfahrung bestätigt ihn in seiner Überzeugung, sich von der Parteipolitik fernzuhalten; wiederholte Eingemeindungsversuche der SP scheitern. Stattdessen bildet sich Held an der kalifornischen Stanford-Universität weiter. Nach seiner Rückkehr kommt er beim Ringier-Verlag unter, wo er unter anderem den «Blick für die Frau» mitlanciert. Später studiert er in Harvard die Theorie des Managements und lernt beim Uhrenunternehmer Nicolas Hayek die Praxis. Dann macht er sich als Berater selbstständig.

In den Neunzigerjahren liefert er sein Gesellenstück ab: den hoch umstrittenen Bau eines Kongress- und Kulturzentrums für Luzern durch die Abstimmung zu bringen. Das gelingt, weil Held ohne Berührungsängste auftritt und mit allen redet. Er sei unabhängig gewesen, sagt er selber dazu, habe keiner Seilschaft und keiner Partei angehört und nicht einmal in Luzern gewohnt.

Thomas Held besteht auf dieser Unabhängigkeit bis heute. Von der Linken nach 68 habe er sich distanziert, «als der ganze Autoritarismus aufkam, der Maoismus und Trotzkismus und all die Strömungen, die mit der Soziologie gar nicht vereinbar waren». Den Linken wirft er «rot-grünen Konservatismus» vor, woraus zu schliessen ist, dass er sich weiterhin für progressiv hält. Seine Ausbildung damals sei dezidiert empirisch gewesen, sagt er, da sei Tag und Nacht gerechnet worden. «Das war sehr wichtig für mich, es bot eine Art Schutz gegen jegliche Ideologie.» Noch wichtiger wird für ihn die Erfahrung mit der amerikanischen Zivilgesellschaft – die Vorliebe der Amerikaner für Selbstorganisation und privat geführte Universitäten, ihr Misstrauen gegen Regulierungen und staatliche Interventionen, die Betonung der Eigeninitiative.

Er sei bis heute nicht mit dem Establishment liiert, sagt Held, jederzeit könne er etwas anderes machen, das mache ihn frei. Diese Unabhängigkeit sei es vielleicht, die er sich von früher erhal-

ten habe. Im Übrigen seien ihm seine Beziehung wichtig, die Freundschaften, auch die Kultur. Der Ernst und Eifer aber, mit dem er seine Positionen vertritt, relativiert diese Autonomie. Wie so viele Konvertiten bleibt auch Thomas Held auf den dauernden und öffentlichen Einsatz gegen die Überzeugung anderer angewiesen, die früher seine eigenen waren.

Der Gesalbte: Roland-Bernhard Trauffer, Generalvikar der Diözese Basel

Den Weg zur Kirche habe man ihm nur einmal zeigen müssen, sagt er. Damals ist er noch ein Kind und gerade sechs Jahre alt. Die Eltern führen in der Berner Rathausgasse eine Beiz, mitten im damaligen Rotlichtbezirk. Der Vater ist Koch und strenger Protestant. Dennoch zieht es den Sohn zum Katholizismus und zur Dreifaltigkeitskirche am oberen Ende der Altstadt. Der Vater hat ihn in die refomierte Sonntagsschule geschickt, die ihn bloss langweilt.

Der Bub geht zur religiösen Konkurrenz, wo er es bekanntlich weit bringt. Matur nach einer vom Vater aufgezwungenen KV-Lehre, Theologiestudium in Freiburg, Einsatz für Mitspracherechte in der Studentenpolitik. Phase des Aufbegehrens, bei der sich der Student mit dem Moraltheologen Stephan Pfürtner solidarisiert, der von Rom desavouiert wird. Eintritt in den Dominikanerorden, Trauffer ist der erste Berner seit der Reformation. Ab nach Rom, dortselbst Einkehr und Promotion über Kirchenrecht. 1975 Priesterweihe, dann ein längerer Aufenthalt in New York und Reisen in alle Welt. Parallel dazu beharrlicher Aufstieg zum Vertreter der Bischofskonferenz und des schweizerischen Katholizismus. Trauffers Rolle bringt ihm zahllose Medienauftritte ein, von der «Arena» zu «Viktors Spätprogramm», wo sich der Pater mit brillanter Rhetorik profiliert. Trotz dominikanischem Armutsgelübde entwickelt er einen Hang zu Sportwagen, Designermöbel und teuren Uhren.

Ende 2000 wird er als Sekretär der Bischofskonferenz abgelöst; dem Vernehmen nach missfällt den Bischöfen sein unverhohlenes Machtstreben. Es folgt ein Pastoraljahr in Guatemala, ursprünglich auf sieben Jahre angelegt, nach einem Jahr wegen eines Rückrufs abgebrochen: Bischof Kurt Koch, auch er ein Konvertit von links nach rechts, allerdings gänzlich unkommunikativ, braucht den redseligen Pater an seiner Seite. Seither ist Roland-Bernhard Trauffer als Generalvikar der Basler Diözese in Solothurn hyperaktiv, wo der

61-Jährige einen im herrschaftlichen Haus von Haller, einem Prunkbau für die Diözese, zum Gespräch empfängt: dunkel und perfekt gekleidet, vital und doch entspannt. Er hat sich sofort zum Gespräch bereit erklärt.

Sowohl sein Glaube wie auch sein Auftreten, sagt er, hänge mit seiner Herkunft direkt zusammen.

«Da war irgendwo eine frühe Gewissheit bei mir. Ich wuchs in einem Restaurant auf, in dem alle sozialen Schichten verkehrten, und schon als Bub bekam ich viele Dramen und Abhängigkeiten vorgeführt, mit Alkohol, Nikotin, Drogen und Prostitution, das waren abschreckende Bilder. Sie haben meine Gewissheit noch verstärkt: Man merkt, was sich ausschliesst. Ich habe als Bub auch gelernt, dass man für alles Geld verlangte – Leistung gegen Leistung. Bei Jesus und übers Evangelium habe ich dann gesehen, dass die entscheidenden Lebensentwürfe dort liegen, wo man bereit ist, etwas umsonst zu tun.»

Trauffer redet ausführlich und in wohlformulierten Sätzen. Dauernd fällt ihm noch etwas ein, und was ihm einfällt, begeistert ihn. Fragen, die er nicht mag, weicht er in seinen Antworten so lange auf, bis sich alle Widersprüche aufgelöst haben und die Widerrede zwecklos wird.

Zum Beispiel kann der papsttreue Kirchenmanager Trauffer zum aufbegehrenden Theologiestudenten Trauffer keinen Widerspruch erkennen, der sich damals öffentlich und langhaarig mit Stephan Pfürtner solidarisierte, seinem damaligen Lehrer in Freiburg. Der deutsche Theologe war von Rom wegen seiner kühnen Ansichten zur Sexualität «denunziert worden», wie Trauffer es noch heute nennt. Er selber hält strikt zu Rom und lehnt fast alles ab, wofür Pfürtner sich seit seiner Exkommunikation und bis heute engagiert, von der Aufhebung des Zölibats über die Zulassung der Frauen zur Priesterweihe bis zur sexuellen Befreiung aus den Verkrampfungen des Katholizismus. Dennoch will Trauffer seine Konversion auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht als solche verstanden haben und redet alle Differenzen weg. Es ginge ihm, wie auch Pfürtner, um «das Recht auf Leben und Würde des Menschen», sagt er etwa. Pfürtners Anliegen sei gewesen, dass man sich als Christ «nicht hinter Geboten verste-cken und meinen kann, die existenziellen Fragen liessen sich ignorieren». Diese Haltung vertrete auch er bis heute, ob mit langen Haaren oder mit kurzen.

Also geht die Frage an ihn, warum Bekehrte so wenig von dem behalten, was sie früher vertreten haben, und warum sie so heftig über ihre früheren Ansichten bei anderen herziehen.

«Wenn man so spürbar Gnade erfahren hat, will man aus schierer Dankbarkeit über dieses Geschenk nichts falsch machen. Man möchte nicht undankbar sein. Ein Abrücken aber, ein Distanzieren vom Glauben könnte so wirken, als habe man doch nicht verstanden, wie sehr man beschenkt wurde. Das ist eine Erklärung für die Vehemenz von Bekehrten – wie sie einstehen für das, was sie gewonnen haben.» Ein paar Sätze später distanziert er sich auch von dieser Vehemenz.

«Ich bin kein wiedergeborener Christ von der Sorte, wie man sie in den USA antrifft und die mit ihrer eigenen Bekehrung missionieren gehen. Ich habe eine Allergie gegen alles Verzweckte. Ich ziehe es vor, jemanden im Gespräch für eine Einsicht, eine Erkenntnis, einen Weg und eine Überzeugung zu gewinnen. Die Religion führt den Menschen von sich weg, wenn der Glaube sich zur Ideologie verwandelt.»

Das hindert den «CEO der Diözese» (Trauffer über Trauffer) nicht daran, scharf gegen innerkirchliche Gegner vorzugehen. Als ihm eine missliebige Mitarbeiterin vorwirft, er höre ihre Gespräche ab, verklagt er sie. Zwar gewinnt er den Prozess, doch löst seine Gerichtsklage bei den Bischöfen Unmut aus. Auch im Kampf gegen den ebenso renitenten wie selbstgefälligen Pfarrer von Röschenz, Franz Sabo, markiert Trauffer eine Härte, die nach Ansicht von Kirchentreuen den Konflikt noch eskalieren lässt. Aber Trauffer braucht den Kampf und braucht auch Gegner, die er bekämpfen kann. Nur erklärt das noch nicht, weshalb er seine grössten Feinde in den eigenen Reihen hat. Schon die Wiederwahl zum Oberer des Dominikanerordens in Freiburg wird ihm verwehrt. Auch den Bischöfen missfällt sein Geltungsdrang, obwohl sie ihm, dem kommunikativen Grosstalent, auch viel zu verdanken haben, nicht zuletzt die wendige Vertretung unpopulärer Positionen. Er selbst hält sich weder für doktrinär noch für intolerant; nur langweilig wolle er nicht sein.

Jesus war nicht langweilig

«Ich bedaure, wenn Leute in der Kirche am Leben vorbeigehen. Ich habe immer versucht, dem intuitiv entgegenzuwirken. Ich wollte alles andere sein als ein langweiliger Christ. Die Abfolge von contemplatio und actio ist ein Kernsatz meines Ordens. Erst kommt die Reflexion und nachher das Handeln. Ein langweiliger Christ ist das Gegenteil von dem, was er in der Jesusnachfolge in der Lage sein sollte, anderen zu geben.»

Langweilig ist Roland-Bernhard Trauffer keinen Moment. Einzig seine Begeisterung über sich selber kann ermüden. Nur einmal gerät er während des Gesprächs ins Stocken: Bei der Frage, wie sich der Selbstmord seines jüngeren Bruders auf ihn ausgewirkt hat.

«Das war fürchterlich. Ich stand ihm nahe, wir teilten unser Zimmer. Er entwickelte sich ganz anders als ich, war volkstümlicher, beliebter, freundlicher, ein einfacher junger Mann, der gewissen Erwartungen offensichtlich nicht entsprechen konnte. Ich glaube, dass mein Bruder hinter seiner Leutseligkeit mit einer grossen inneren Leere zu kämpfen hatte. Er hatte offenbar das Gefühl, sein Leben bringe nichts. Jedenfalls hat er seine Entscheidung bewusst getroffen. Ich habe mich damals natürlich auch gefragt, ob ich versagt hätte. Dann lernte ich zu verstehen, wie sehr jede Existenz ein Geheimnis bleibt. Wie sehr man lernen muss, zu akzeptieren ohne Urteil.»

Wenig später hat er sich wieder gefangen und parliert in der gewohnt fugenlosen Art, redet alle Widersprüche und Einwände von sich weg. So bleibt der Eindruck, Pater Roland-Bernhard Trauffer sei, ungeachtet seines Glaubens und jenseits eines nie erlahmenden Einsatzes für seine Kirche, zuallererst zu sich selber konvertiert.

Der Verlorene: Kenneth Angst, politischer Berater

Zum ersten Treffen erscheint er ganz in Weiss, beim zweiten ganz in Schwarz. Er trägt eine Goldkette und raucht. Sein Haar ist dicht und lang und kaum ergraut, er sieht jünger aus als seine 52 Jahre. Er formuliert gestochen scharf, benutzt viele Fremdwörter und englische Managervobakeln. Er kann selbstironisch über sich reden, dafür ist Zuhören nicht seine Stärke. Er war einem als laut, eitel und egozentrisch beschrieben worden, unkontrolliert launisch. Im Gespräch wirkt er nachdenklich, bisweilen zweifelnd. Er versucht auch keinen Moment, seine jetzige Position zu verklären; er scheint sich nicht einmal damit zu identifizieren.

«Ich würde meine Entwicklung als Kontinuum beschreiben, das noch nicht abgeschlossen ist. Man kann von einer sukzessiven Integration in die bürgerliche Welt sprechen, verbunden mit einer Abwendung von politischen Idealen, gefolgt von einer melancholischen Resignation auf hohem Niveau.»

Kenneth Angst ist einen ziemlichen Weg gegangen. Der einstige Mitdenker der Zürcher Bewegung operiert heute als Berater für bürgerliche Politiker und Parteien, hilft der Verwaltung und betreut konservative Abstimmungskämpfe. Als Rekrut im Soldatenkomitee aktiv und vom Staatsschutz fichiert, lässt er sich später vom Verteidigungsminister anstellen. Der Hedonist, der zu Hause laute Musik hörte und in Punk-Klubs herumhing, antichambriert bei den Krawattenträgern in Politik und Wirtschaft. Der einstige WG-Mitbenutzer wohnt heute im braven Küsnacht. Der Linksintellektuelle, der sich unter dem Pseudonym «Redshoe» über Basisdemokratie, linke Filmästhetik und bürgerliche Ängste ausliess, schrieb später bei der «Neuen Zürcher Zeitung» mit funkelnder Arroganz gegen die früheren Positionen an. Einst spuckte er von seinem Balkon herunter auf die Polizei, wie sich ein Nachbar erinnert, mittlerweile bietet er sich im Internet als Spezialist für «Egomarketing» an, wie er es selber nennt: als Ghostwriter für Führungskräfte in Politik und Wirtschaft.

Der promovierte Wirtschaftshistoriker liest schon in der Mittelschule die schweren linken Denker von Adorno bis Marcuse und begehrt gegen den Vater auf, einen Maschineningenieur und aus Sicht des Sohnes ein Diener des Kapitals. Nach dem Studium wendet sich Kenneth Angst dem Neomarxismus zu und schreibt im «Tell» und vor allem im «Konzept», dem Vorläufer der «Wochenzeitung», oft zusammen mit seinem zehn Jahre älteren Freund Oskar Scheiben. Als die Jugendunruhen ausbrechen, erleben die beiden sie als Befreiung. Die Stimmung sei grossartig, schreiben sie, und Zürich «einfach herrlich unordentlich». Der Opernhauskrawall überrascht sie nicht. Angst geht mitdemonstrieren. «Ich warf selber keine Steine», sagt er, «versuchte aber immer zu verstehen, was passierte.» Schon damals nimmt er zwischen der Neuen Linken und der «hedonistisch bis destruktiven Allianz» enorme Spannungen wahr. Über keine der beiden Seiten macht er sich Illusionen.

Die Agonie

«Ich habe keinen Moment gedacht, dass da tatsächlich etwas Tragendes entsteht und zog mich zunehmend auf die Position einer intellektuellen Kritik an der Modernisierung zurück. Es gab redliche Bemühungen, diese Erlebnisse in Worte zu fassen. Das wurde vom System auch erwartet. Im Gegensatz dazu radikalisierten sich die dadaistisch Konsequenten, die wussten, dass etwas verloren ging, wenn man sich einliess. Viele von ihnen sind in der Folge abgestürzt, emigriert oder ins Private abgetaucht. Sie haben sich subito verabschiedet, als konstruktives Engagement gefragt war.»

Kenneth Angst sucht sich seine Freiräume woanders: Im Januar 1983 erscheint ein erster Text von ihm in der «Neuen Zürcher Zeitung», in dem er «auf hohem Niveau jammert», wie er es nennt, den er aber noch heute unterschreiben könne. Titel des Artikels: «Hunger nach Ergriffenheit – Sinnfindung als Problem der Industriegesellschaft». In der Folge entfernt er sich immer mehr von den Anliegen der Bewegung.

«Irgendwann setzte die Agonie ein, zirka 1982. Die einen suchten den Kontakt mit den Behörden, bauten Kulturzentren auf und etablierten sie. Die anderen ergingen sich in paramilitärischen Scharmützeln mit der Polizei, wieder andere meldeten sich ganz ab. Das alles

beelendete mich, es kam Enttäuschung auf. Jedes Kollektiv, ob bürgerlich oder libertär, geht eben immer auf Kosten

des Einzelnen. Also kam der Moment, in dem man sich entscheiden musste: Marsch durch die Institutionen, Kleinarbeit oder Rückzug ins Private? Aus Enttäuschung, aber auch aus geläuterter Einsicht heraus fand ich schliesslich, ein Engagement bei der NZZ könnte ein neuer Platz sein für mich. Ich konnte auch dort hemmungslos intellektuell sein, also elitär. Zugleich wusste ich, wie die Gegenseite fühlt und denkt, habe also nicht einfach konvertitisch mit dem Zweihänder um mich geschlagen.»

Ab Mitte der Achtziger, als K. A. bei der NZZ fest angestellt wird, gerät er «dann doch phasenweise auf die neokonservative Seite», wie er selber einräumt. «Ich habe eine Zeit lang relativ scharf gegen den rotgrünen Urschrei und die pubertären Alternativbewegungen geschossen. Auch dabei schwang die Enttäuschung mit.» Sein Seitenwechsel habe ihn viele Beziehungen gekostet. In der neuen Umgebung habe er den ideologischen Tatbeweis erbringen müssen und sei dafür von der alten als Überläufer beschimpft worden.

Dabei fühlt sich Kenneth Angst auch in der neuen Rolle nicht wohl. So hasst er die öffentlichen Anlässe als NZZ-Redaktor. Neue Freunde habe er sich auch nicht geschaffen, sagt er, «man konnte mit allen reden, aber nur von Amtes wegen». Er selbst sei im Grunde immer «eine Ich-AG, eine Patchwork-Persönlichkeit» geblieben, die ihren hedonistischen Lebensstil als Kompensation zur neuen Aufgabe beibehalten habe. Sein Unbehagen macht noch schwerer nachvollziehbar, warum er sich zu Beginn der Neunziger beim damaligen EMD-Chef Villiger meldet, den er als redlich empfindet und auch als «erfrischend intellektuell». 1992 stellt ihn Villiger an, gegen den Willen der Kalten Krieger im Departement. Angst dient ihm als Sparringpartner, schreibt staatsbürgerliche Reden und hilft ihm und seinem Sprecher Daniel Eckmann, den F/A-18-Flieger durch die Abstimmung zu bringen. «Er war analytisch ausserordentlich trennscharf und brachte seine Folgerungen kompromisslos ein», erinnert sich Eckmann an den Kollegen. Dass dieser sich weder mit dem Militärdepartement noch mit dem Abstimmungsziel identifizieren konnte, hätte er ihm nicht zugetraut.

Frage an den Konvertiten: Wieso hat er sich auf etwas eingelassen, woran

er gar nicht glaubte? Kenneth Angst schweigt unüblich lange und überrascht sich mit der Antwort dann selber.

«Wir behandelten das mehr im sportlichen Sinn und mit der Frage: Wie kann man so etwas gewinnen, das man nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich nicht mehr mit Herzblut vertreten kann? Es war schon etwas machiavellistisch. Mich reizte die Rolle des politischen Kommunikators. Ich konnte mir guten Gewissens sagen, das sei doch ein interessanter Job, da lernst du die Verwaltung kennen, die Entscheidungsabläufe. Was das mit mir selber als Person zu tun habe und was ich mit diesem Wissen später hätte anfangen wollen: Diese Fragen haben sich mir damals nicht gestellt. Heute muss ich sagen: Es war eine lehrreiche Umsetzung meiner eigenen Orientierungslosigkeit. Ich kam als persönlicher Berater und teilnehmender Beobachter zwar näher ran, wusste aber nicht wirklich wozu. So hielt ich mir wenigstens alle Optionen offen und schob den Entscheid darüber hinaus, was ich eigentlich bewirken wollte. Ein gewisses Gamblertum hat auch mit hineingespielt.»

Die Woche durch arbeitet der Gambler krawattiert in Bern, am Wochenende festet er in Zürich die Nächte durch, um dann entsprechend erschöpft wieder nach Bern zu fahren. Darüber reden will er weiter nicht und zitiert stattdessen Charles Baudelaires Hymne auf den Rausch, sein «Enivrez-vous»: «Um nicht die fürchterliche Bürde der Zeit zu spüren, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müsst ihr euch trunken machen ohne Unterlass – mit Wein, Poesie oder mit Tugend, wie es euch gefällt.»

Drei Jahre später kehrt der Gambler aus Bern in die NZZ zurück, diesmal als stellvertretender Chefredaktor. Seine Leitartikel klingen milder, weniger konvertitisch. Im August 2001 holt ihn Roger Köppel zur allgemeinen Überraschung zur neuen «Weltwoche». Die Zusammenarbeit scheitert nach sechs Monaten. Es habe «unterschiedliche Auffassungen über die Redaktionsführung» gegeben, sagt Köppel dazu. Er sei als Ko-Chefredaktor geholt, aber nicht als solcher behandelt worden, sagt wiederum Angst. Zudem habe es Köppel mit der gemeinsamen Absicht gar nie ernst gemeint, gegen den Konformismus von links wie von rechts anzuschreiben. Seither berät Kenneth Angst wieder die Politiker und publiziert nebenher. Als Berater könne er sich «im Hintergrund abwartend parkieren», sagt er. Man erreiche dabei eine bestimmte Nähe zu den Machern und bewahre sich zugleich eine gewisse Autonomie. Man sei zwar dabei, aber nicht als Täter. Leider wollen ihn die wenigsten Mandanten als Advocatus diaboli und intellektuellen Sparringpartner haben: «Man muss sie verkaufen oder vor dem Absturz retten oder ihnen sagen, was sie selbst sagen müssen.» In diesem Job bleibe man im Wesentlichen ein Erfüllungsgehilfe, ein bezahlter Lakai.

Das klingt ziemlich unfroh für einen Hedonisten. Vergleicht man seine Artikel im CVP-Parteiheft «Die Politik» mit seiner melancholischen Analyse zur Auswirkung der 80er-Bewegung, veröffentlicht im Jubiläumsbuch zum «Xenix»-Kino, klingt der politische Berater deutlich weniger motiviert als der Kulturpessimist. Letzten Endes, schreibt Angst in seinem Aufsatz über 1980 und die Folgen, habe die Zürcher Bewegung nicht nur die Alternativkultur mitgezähmt. Sie habe auch zur Spassgesellschaft und zur chemischen Techno-Glückseligkeit geführt, zu einer Inflation der «marketinggesteuerten Event- und Selbstinszenierungsgesellschaft», zur «gnadenlosen Auslieferung des öffentlichen Raumes an die Kräfte des Marktes». Man könnte meinen, er schreibe über sich selber.

Konvertiten, schreibt Theologe Heidrich in seinem Buch, seien «Seismografen einer Idee». Das macht Sinn aus Sicht eines Seelsorgers, der zuvor Hunderte von Seiten lang Konversionen als mentale Einbahnstrassen zum Katholizismus gefeiert hat, als Einkehr in das religiöse Haus, in das er die Bekehrten dann gütig willkommen heisst. Aber es stimmt, was er sagt, und es stimmt auch für die politische Konversion: Trauffer, Held und Angst waren Pioniere ihrer Art. Ihre Einkehr beim ehemaligen Gegner, die ihnen auch einigen Mut abverlangte, hat sich als Avantgarde einer politischen Entwicklung erwiesen. Was früher progressiv war, gilt inzwischen als konservativ und umgekehrt. Immer mehr Linke entwickeln sich zu neuen Rechten, vor allem in den Medien. Die SVP und ihre Bewunderer haben sich die Protestkultur der Linken angeeignet und lancieren ihrerseits Provokationen, Tabubrüche und revolutionäre Forderungen in ihrem Sinne. Die Rechte hat die intellektuelle Definitionsmacht übernommen und bestimmt die politische Agenda. Begriffe wie Reform, Erneuerung, Aufbruch und sogar Zerschlagung werden nicht mehr auf der Strasse skandiert, sondern auf den Teppichetagen aufgelistet. Der Staat wird von rechts angegriffen und von links verteidigt, früher war es umgekehrt. Die Linke ist unter politischen Legitimierungszwang geraten, ihre Vertreter gelten als unbeweglich, langweilig und nicht fähig, auf neue Fragen mehr zu liefern als die immergleichen Antworten.

Wer früher konvertierte, galt als Verräter. Wer heute nicht konvertiert, wird zum Verlierer.

Einst war Held der Rädelsführer der linken Studentenschaft, heute leitet er den Wirtschafts-Thinktank Avenir Suisse. | Bild: Regina Hügli, Thomas Held
Einst war Held der Rädelsführer der linken Studentenschaft, heute leitet er den Wirtschafts-Thinktank Avenir Suisse. | Bild: Regina Hügli, Thomas Held
Trauffer solidarisierte sich einst mit einem progressiven Theologen, heute hält er strikt zu Rom. | Regina Hügli, Roland-Bernhard Trauffer
Trauffer solidarisierte sich einst mit einem progressiven Theologen, heute hält er strikt zu Rom. | Regina Hügli, Roland-Bernhard Trauffer
Als Student war Kenneth Angst in der Jugendbewegung aktiv, später liess er sich vom Verteidigungsminister anstellen. | Regina Hügli, Kenneth Angst
Als Student war Kenneth Angst in der Jugendbewegung aktiv, später liess er sich vom Verteidigungsminister anstellen. | Regina Hügli, Kenneth Angst

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