Otto!

Warum die Schweiz gerade in diesen Krisenzeiten mehr Anti-Politiker wie den Politiker Otto Ineichen braucht.

28.08.2009 von Martin Beglinger

Vor acht Wochen lag Otto Ineichen am Boden. Kaputt, zerstört, total deprimiert. «Was soll das alles noch? Es macht doch keinen Sinn, ich schmeisse den Bettel hin», hatte er seiner Ehefrau gesagt, den Parteikollegen, seinen Söhnen, seiner Assistentin, dem Journalisten, der seit einer halben Minute in seinem Büro sitzt — eigentlich jedem, den er kennt.
«Platz 214!»
Andere Politiker, wären sie in seiner Lage, hätten das Parlamentarier-Rating der «SonntagsZeitung» gar nicht erst erwähnt oder als Schwachsinn abgetan. Nicht Otto Ineichen! Einer, wie er, das Herz stets auf der Zunge, kann gar nicht verschweigen, wie tief ihn traf, dass man ihn auf Platz 214 von 246 Bundesparlamentariern gesetzt hatte, zur Fraktion der bedeutungslosen Hinterbänkler, ihn, auf dessen Homepage der Slogan steht: «Ich bewege garantiert.»
Dass er den Bettel nicht hingeschmissen hat, ist erstens gut für ihn selber, denn Nichtstun macht ihn krank. Und zweitens ist es gut für das Land, denn die Schweiz braucht mehr Ineichens und nicht weniger. Gäbe es diesen Mann nicht, dann hätte sich auch keine Parlamentariergruppe zu einem 10-Punkte-Programm aufgerafft, mit dem sich 1,5 Milliarden Franken in der Gesundheitspolitik einsparen lassen — sofort, unbürokratisch, mit wenigen gesetzlichen Eingriffen. Massgebende Gesundheitspolitiker von links bis rechts stehen für diesen Kompromiss ein, den sie vor den Sommerferien präsentiert haben: eine Sensation. Seit Jahren wird gestritten und gedealt in Bern, doch passiert ist wenig bis nichts in der Gesundheitspolitik, ausser dass die Prämien seit ebenso vielen Jahren steigen, in diesem Krisenherbst um bis zu zwanzig Prozent.
Das wird zwar in allen Lagern als «inakzeptabel» beklagt, doch wer Ende Mai zum Handy griff und die besagte überparteiliche Parlamentariergruppe an einen Tisch brachte, war: Otto Ineichen. Er selber, die reine Ungeduld, mochte sich gar nicht erst in die Details knien, dafür fehlen ihm die Nerven. Otto, wie ihn alle nennen, konzentrierte sich aufs Anschieben. «Er ist ein hervorragender Netzwerker», sagt die mitbeteiligte Berner SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga.
Das Resultat ist noch offen. Ob der Kompromiss zwischen den Fronten zerrieben wird, zeigt sich in der kommenden Session. So oder so, die Gesundheitsgruppe ist eine typische Otto-Aktion. Es ist die Suche nach pragmatischen Lösungen jenseits der verkrusteten parteipolitischen und ideologischen Schützengräben. Ihm ist wurscht, wenn jemand in der sogenannt falschen Partei sitzt. Hauptsache, man bringt eine gemeinsame Lösung in Gang. Etwas Analoges ist Ineichen bereits mit der «Energie-Allianz» geglückt, wo er, wiederum mit Simonetta Sommaruga, eine Parteien- und Verbandskoalition von WWF und Hauseigentümern bis zu SVP und Grünen zusammenbrachte, um ein Drittel der CO2-Abgaben für energetische Gebäudesanierungen zu nutzen.
Endlich!, rufen alle jene Leute im Land, die das fruchtlose Gezerre der Parteipolitiker und Lobbyisten zunehmend satt haben. Ganz anders das Echo in Bern. Namentlich Pascal Couchepin «fand es gar nicht lustig, dass sich eine überparteiliche Gruppe erfrecht hat, eigene Vorschläge zu machen», sagt Simonetta Sommaruga. Kein Wunder, denn man hatte dem Gesundheitsminister schlicht das Heft aus der Hand genommen.

Allein auf weiter Flur
Der freisinnige Auslaufminister hat die Kraft nicht mehr, das Paket von Ineichens Gruppe zu hintertreiben. Doch umso heftiger versuchen die diversen Lobbys seit Wochen, die elf Mitglieder aus allen Parteien wieder auseinanderzubrechen. Die Lobbyisten wissen, wie das Spiel läuft: Knacken sie einen der elf, kippen bald auch weitere, weil der Kompromiss aus dem Lot gerät. «Diesem enormen Druck standzuhalten und den Kompromiss als Ganzen vor den Leuten in der eigenen Fraktion zu verteidigen, das ist die hohe Kunst der Politik», sagt Simonetta Sommaruga.
Doch die SP-Ständerätin weiss aus eigener Erfahrung, wie gross der Argwohn der Apparatschiks ist, wenn einzelne Parlamentarier sich über Parteigrenzen und -raison hinwegsetzen. Otto Ineichen weiss es mindestens so gut. 2003 war er als Nationalrat nach Bern gegangen, «weil ich dachte, man wolle dort Probleme pragmatisch lösen und könne in der Bundespolitik ähnlich viel bewegen wie als Unternehmer». Er hatte im Ernst geglaubt, es werde dort jemand auf ihn warten, dem Begründer von Otto’s Warenposten gar «den Teppich ausrollen». So naiv ist er nicht mehr. Ineichen hat bald gemerkt, dass er vor allem ein Konkurrent ist im grossen Gerangel um Aufmerksamkeit.
Auch die eigene Fraktion hat ihn rasch am Rand versenkt. Manchen Freisinnigen im Bundeshaus gilt Otto Ineichen als Spinner oder als kreativer Chaot. Für Parteipräsidenten und Fraktionschefs sind Politiker wie er ein einziger Schrecken, weil kaum steuerbar und nie richtig einzubinden. Fulvio Pelli und Otto Ineichen, das funktioniert nicht. Zu oft kritisiert der Undiplomat die eigene Partei.
Wären alle Politiker wie er, es wäre zu viel des Guten. Denn es gäbe keine Parteien mehr. Im Grunde ist er ein Anti-Politiker, zumindest ein Anti-Parteipolitiker, eigentlich auch kein Parlamentarier. Wer sein Naturell hat, müsste in die Regierung, doch auf diese Idee ist nicht einmal Ineichen gekommen, und Otto Ineichen hatte schon viele Ideen.
In knapp zwei Wochen wird gewählt in Bern, doch das ist die hohe Zeit der Parteitaktiker, und zu denen zählt Ineichen nicht. Die Spielchen der Machtmechaniker öden ihn an. Wer ihn so reden hört in seinem mit Büchern voll gestopften Büro im luzernischen Sursee, der spürt rasch, dass es für ihn gewiss keine Katastrophe wäre, ginge der Couchepin-Sitz nicht mehr an die FDP. Sondern, zum Beispiel, an Jean-François Rime, ein SVPler, gewiss, aber aus Ineichens Sicht eben ein Beweger wie er selber. Otto Ineichen sieht sich selber gut verankert im «Unternehmerflügel» seiner Partei, nur dünkt ihn, dass «die FDP immer mehr zur Juristenpartei verkommt», und die Juristen hält er beileibe nicht für sehr bewegungsfreudig. Manchmal allerdings ist der Otto selbst in seinem Unternehmerflügel ganz allein: zum Beispiel mit seinem Beharren auf Parallelimporten. Oder mit seiner Unterstützung für Thomas Minders Abzocker-Initiative.

Die Frauen mögen ihn
Es ist tatsächlich so: Otto Ineichen hat jede Menge Ideen. Und natürlich stimmt auch, dass jeweils ein paar aus Schnaps darunter sind. Wobei manche, die dies kritisieren, oft genug noch nie eine eigene hatten, aber immer eine Erklärung, warum diese Idee schlecht ist und jene sowieso. Das Gute wiederum an Otto ist, sagen jene Politiker, die mit ihm zu tun haben, dass sie ihm geradewegs auf seinen kantigkahlen Schädel zu sagen können: «Otto, das isch Chabis!»
Auffallend dabei, dass es in erster Linie Politikerinnen sind, die den Rank mit ihm finden; die seine guten Ideen gerne auf- und den Rest mit Nachsicht hinnehmen. Von den elf Mitgliedern seiner Gesundheitsgruppe sind nicht weniger als sieben Frauen (nebst Simonetta Sommaruga sind dies Verena Diener, Erika Forster, Christine Egerszegy, Ruth Humbel, Jacqueline Fehr und Yvonne Gilli). Otto rühmt sie alle (wie die drei Männer auch) als «grosse Brückenbauerinnen» — zu Recht.
Doch auch diese Brückenbauerinnen ärgert gelegentlich sehr, wenn der Otto wieder mal vorschnell mit einer Idee in die Medien drängelt, weil er glaubt, er setze die Verantwortlichen damit unter Erfolgsdruck und sich selber am meisten. Doch sie nehmen ihm ab, dass er dies nicht aus Selbstverliebtheit tut, sondern weil ihm das Temperament durchgeht, wenn sich die Politik nicht rührt. Die Politikerinnen anerkennen auch, dass er sich nach aussen nicht als der grosse Experte aufspielt, obwohl sie es sind, die im kleinen Kreis die Knochenarbeit leisten. Und die weiss Ineichen zu schätzen. Ohne ordnende Hand im Hintergrund, verlöre sich sein Aktivismus im Chaos. Er geht gar so weit, dass er Ruth Humbel, die Aargauer CVP-Nationalrätin, für deren Arbeit als Präsidentin der Gesundheitsgruppe bezahlt. Da finanziert also ein Luzerner FDP-Nationalrat mit privaten Mitteln eine Aargauer CVP-Nationalrätin, damit sie jenes Kompromisspapier erarbeitet, zu welchem der FDP-Gesundheitsminister seit Jahren nicht fähig ist.
Warum tut er das alles? Warum geniesst er nicht das Leben, das ihm nach 68 Jahren und zwei Herzinfarkten noch bleibt? Otto Ineichen, bis zur letztjährigen Erbteilung mit seinen vier Söhnen alleiniger Inhaber von Otto’s Warenposten, gemäss «Bilanz» mehrhundertfacher Millionär, könnte auch in aller Ruhe Golf auf Marbella spielen oder sich mehr um seine Enkel kümmern, anstatt sich wieder gewaltig darüber aufzuregen, wie die Pharmalobby nun die Gesundheitsgruppe bearbeitet, bis der Erste einknickt. Sein Problem ist nur: Er kann nicht anders. Otto Ineichen ist ein Getriebener, auch wenn er heute sagt, er sei «ruhiger geworden und nicht mehr so extrem emotional wie früher».

Gegen Kartelle
Was aber treibt ihn an? Drang nach Anerkennung? Die Frage beschäftigt ihn derart, dass er vier Tage nach unserem Gespräch eine dreiseitige Antwort hinterherschickt. Ein bemerkenswertes Dokument der Offenheit. Es skizziert den Werdegang des Metzgersohnes Otto Ineichen, der am 8. Juni 1941 in Sursee auf die Welt kam und der sich schon als Bub seinen Platz erkämpfen musste, weil er ein trauriger Gschtabi war. Otti war der Schlechteste im Fussball, und mit seinen zwei linken Händen schaffte er es auch nie, ein rechtes Stück Fleisch zu zerteilen. Ebenso schwach war er im Lesen und Schreiben, nur merkte in den frühen Fünfzigerjahren noch keiner, dass er ein schwerer Legastheniker war. Manche hielten ihn deshalb für dumm, doch mit der Mutter im Genick, die ihn gnadenlos forderte, lernte er dreimal so viel wie seine Klassenkameraden, um in der Schule zu bestehen. Bis zum Abschluss an der HSG biss er sich schliesslich durch.
Gerne wäre Otto Offizier geworden. Doch man wollte ihn kaum Soldat werden lassen, so ungeschickt war der junge Mann. Als Nichtoffizier blieb er auch unter seinen HSG-Mitstudenten ein Aussenseiter. Aber ihnen schwor er damals: «In zwanzig Jahren werde ich es weiter gebracht haben als ihr.» Fünf Jahre später ging Otto Ineichen mit dem Fleischbetrieb pleite, den er und sein Bruder gegründet hatten, worauf der Rotary-Club, der ihn hatte aufnehmen wollen, den Pleitier Ineichen umgehend wieder auslud. Otto war untendurch, hatte nur noch seine Familie und vor allem seine Frau, eine zierliche Person, die besser als alle andern weiss, wie viel Nerven ein Leben mit diesem Mann braucht.
Boden unter den Füssen fand er wieder bei einem Mönch im Freiburger Kloster Hauterive. 1978 dann der nächste Versuch, als Ineichen die Ware aus Konkursen und anderen Firmenkatastrophen zu kaufen und zu verramschen begann. Das war Otto’s Schadenposten. Ineichen wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann, aber viele Unternehmer wahrten Distanz zum «Schaden-Otti», den sie als eine Art Geier empfanden, der vom Absturz anderer Firmen profitierte. Noch schlimmer wurde es, als er Markenartikel billiger zu verkaufen begann als die heimischen Detaillisten und damit die Kreise der Etablierten erst recht störte. Mindestens dreissig Bussen hat Ineichen kassiert, weil er alle möglichen Marken heimlich importiert und hier billiger verkauft hatte. Schweizer Fabrikanten waren beleidigt, wenn Ineichen sich nach Ware von zweiter Qualität bei ihnen erkundigte.

Erst Recht
Als er mal einen Posten Calida-Wäsche ergattern konnte, fuhr Calida, selber ein Unternehmen aus Sursee, mit zwei Lastwagen vor und kaufte die gesamte Ware zurück, nur damit ihre feine Marke nicht beim billigen Otto zu haben war. Wann immer einer sagte, Otto’s werde es bald nicht mehr geben, dann gab er doppelt Gas, um es allen zu zeigen. «Nie aufgeben und immer weiterkämpfen, bei Widerstand erst recht»: Das ist Otto Ineichens Lehre des Lebens.
Mittlerweile hat Otto’s gegen hundert Filialen, meistens im Agglobrei, und man muss sagen: Schöner ist die Schweiz dadurch nicht geworden. Aber zumindest finden dort 1600 Personen Arbeit und ein paar Hunderttausend Kunden alles Mögliche etwas billiger. Otto betritt Otto’s nur noch als Privatmann, seit er 2001 die Unternehmensleitung seinem Sohn Mark abtrat. Doch er begriff rasch, dass er «für den Ruhestand nicht geschaffen» ist. Auch deshalb der Wechsel in die Politik, den er im Herbst 2003 schaffte.
Mit jedem Mal, bei dem er im Parlament auflief, wurde die Schlange seiner Neider und Spötter länger. Umso grösser jedoch die Genugtuung, als Otto Ineichen im Herbst 2007 mit riesigem Vorsprung auf alle anderen Luzerner Nationalratskandidaten wieder gewählt wurde.
Heute gönnt Ineichen sich den Luxus, täglich fünfzehn Kilometer auf dem Hometrainer zu strampeln oder sich auf sein Bike zu setzen. Doch rund um Sursee schafft er kaum einen Kilometer ohne Pause, nicht weil ihm der Schnauf fehlen würde, sondern weil ihn hier alle kennen und er garantiert auf eine Grossmuttertrifft, die ihn umHilfe bittet, weil ihr Enkel seit einemJahr keine Lehrstelle findet. Ineichen kennt Dutzende solcher Familiengeschichten. Es sind junge Leute, oft kaum über zwanzig und doch schon abgestellt und ausgesteuert, Chaos in der Schule, Chaos in der Familie. Gerade ihnen will Ineichen eine neue Chance geben. Aber nur, wenn er auch den Willen bei den Jungen spürt, sie auch zu nutzen. Auch bei Otto’s selber arbeiten solche Leute. Oder 50- und 60-Jährige, die man auf die Strasse gestellt hatte und die jetzt «bei uns einen super Job machen, weil sie bei der Arbeit Anerkennung finden». Selbst ein 79-Jähriger arbeitet noch stundenweise für ihn und ist glücklich.
2006, als eine «Lehrstellenkrise» drohte, preschte Nationalrat Ineichen vor mit dem Ziel, 2000 neue Ausbildungsplätze in der Privatwirtschaft zu schaffen. Die Idee dazu hiess «Speranza», es war für einmal nicht seine eigene, sondern ursprünglich ein Projekt der FDP Baselland, dem er nun Schub verpasste und eine Stiftung daraus machte.
In den knapp drei Jahren seither wurden dank «Speranza» 7500 Ausbildungsplätze geschaffen, mehrheitlich Lehrstellen, in dem 120 sogenannte Netzwerker in 21 Kantonen ihre lokalen Kontakte zu Firmenchefs nutzen. Oft sind die Netzwerker selber Gewerbler, und auch wenn sie die Sprache der Gegenseite reden, so ist es ein beinharter Job, Spenglermeister, Coiffeuse-Filialleiterinnen und Detaillisten davon zu überzeugen, jungen Leuten eine letzte Chance zu geben, obwohl sie bisher noch jede vergeben haben. Ineichen kennt selber so manchen Gewerbler, der ihm sagt: «Du kannst mir hundert Schweizer Bauernsöhne bringen, aber keinen Albaner mehr.» «Jeder, den du einstellst, ist ein teurer Sozialfall weniger», gibt Otto jeweils zur Antwort. Bei «Speranza» landen mittlerweile 22-Jährige, die ihren Wohnkanton einehalbe Million Sozialausgaben gekostet und laut Sozialdienst «eine Null-Prozent-Perspektive» haben. Damit diese wieder steigt, setzt Ineichen auf «unternehmerisch eingestellte Sozialarbeiter und sozial eingestellte Unternehmer», und die finden tatsächlich für fast jeden Fall einen Platz.
Otto Ineichen hat bislang 400 000 private Franken in «Speranza» gesteckt, aber nicht weil er hofft, er müsse dank diesem Programm der letzten Chance weniger Steuern zahlen. Er will, so pathetisch das heute klingen mag, tatsächlich «eine bessere Schweiz»; eine Schweiz «mit weniger Wohlstandsgefälle und mehr sozial verantwortlichen Unternehmern»; und nicht zuletzt will er «eine Schweiz ohne Arbeitslosigkeit».
Heute ist «Speranza» ein toller (und wissenschaftlich evaluierter) Erfolg, doch vor drei Jahren war die Skepsis beim Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) noch gross, als die Beteiligung des Bundes an «Speranza» aufgegleist wurde. Es grenzt an ein Wunder, dass es funktioniert hat, denn die Bundesverwaltung wartet im Allgemeinen nicht auf Parlamentarier, die in den Amtsstuben erst mal kräftig einheizen wollen und im Übrigen eine Allergie gegen alles haben, was nach Verwaltung riecht. Ineichens Glück ist, dass die Chefin des BBT Ursula Renold heisst. Obwohl selber eine unkomplizierte und zackige Amtsdirektorin, musste auch sie sich erst an Ineichens Stil gewöhnen. Jetzt sind die beiden per Du und reden gerne Tacheles. Er kann sie jederzeit direkt anrufen und sie ihm immer sagen, wenn sie seine neuste Idee einen Schmarren findet. Doch in erster Linie lobt sie ihn: «In Sachen Lehrstellen ist er mit «Speranza» ein einzigartiger Türöffner. Als Amtsdirektorin kann ich nicht ohne Weiteres ein Unternehmen anrufen. Der Otto hingegen nimmt das Telefon in die Hand oder geht gleich persönlich vorbei, um für Lehrstellen zu werben.»
Das Gegenteil passiert im Bundesamt für Sozialversicherung (BSV). Dort ist die gegenseitige Abneigung solide. Ineichens Projekt Job-Passerelle, mit dem er IV-Bezüger besser in die Arbeitswelt integrieren möchte und das viel Goodwill bei den kantonalen IV-Stellen hätte, ist am Widerstand des BSV gescheitert. (Ineichen würde sagen: «am Widerstand der Couchepin-Boys».) Handkehrum profitiert er von seinem guten Draht zu Doris Leuthard, (der wiederum das BBT von Ursula Renold untersteht). Es war auch die Wirtschaftsministerin, die Otto Ineichen den heutigen Geschäftsführer von «Speranza» empfahl.

Otto gibt Gas
In diesen Monaten sind es aber nicht nur Arbeitslose, die sich von Ineichen Arbeit erhoffen. Immer öfter sind es auch Kleinunternehmer auf der Suche nach Geld. Täglich kriegt er Anfragen, bürgt einmal hier, hilft dort bei einem neuen Businessplan, oder er steigt gar mit eigenem Geld ein, weil eine Grossbank ihre Kredite abgezogen hat.
Auf das Stichwort Grossbanken oder Hedge-Funds reagiert Otto Ineichen so allergisch wie auf «Bürokraten». Vor zehn Jahren schon zog er in einer Broschüre gegen Martin Ebner als «Totengräber der Schweizer Wirtschaft» los. Und schon damals warnte er vor dem Überhandnehmen der Finanz- gegenüber der Realwirtschaft. Viel milder ist er seither nicht geworden, und dass die «Heuschrecken» fast schon wieder abkassieren wie vor der Krise, während sie den KMUs die Kredite abklemmen, das empört den Unternehmer derzeit mehr als alles andere. Es jagt seinen Blutdruck in gefährliche Höhen, was im leichteren Fall der Arzt mit einer Spritze korrigiert und im Notfall, wie während der letzten Dezembersession, der Herzchirurg mit fünf Stents.
Doch Otto Ineichen weibelt weiter, auch wenn er sich manchmal selber im Weg steht. In diesen Wochen will er die Kantonalbanken, Doris Leuthards Wirtschaftsministerium und seinen Unternehmerflügel zu einem Kreditfonds für KMUs bewegen, «weil die sonst reihenweise in Konkurs gehen werden». Wenigstens 100 Millionen sollen in diesem Fonds landen, und der Otto gibt wieder Gas, als ginge es um seine eigene Existenz. Er erklärt vom Morgen bis am Abend, warum es «hundertmal gescheiter ist, die Existenz vieler KMUs mit Krediten zu überbrücken, als die Firmen in die Pleite und die Leute in die Arbeitslosigkeit und schliesslich in die Sozialhilfe rutschen zu lassen».
Rang 214?
Otto Ineichen ist Avantgarde!

«Mehr Bewegung, Leute!»: Otto Ineichen, Ideenproduzent | Linus Bill
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