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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Die uralten "Chondren" bereiten Forschern Kopfzerbrechen

Rätselhafte Kügelchen

Von Christian Pinter

Man zersäge einen Steinmeteoriten, schleife und poliere die beiden Schnittflächen: Mit großer Wahrscheinlichkeit tauchen millimeterkleine Kugeln auf, grau, braun, manchmal schwarz, grünlich oder gelb. Das Mikroskop zeigt darin schon bei 10- bis 30-facher Vergrößerung verblüffend viele, unterschiedliche Details. Fast meint man, die einzelnen Kügelchen wären Individuen. In irdischem Gestein gibt es nichts, das ihnen entspricht. Sie sind auch viel älter, erzählen von den Anfängen des Sonnensystems. Leider verstehen Wissenschaftler ihre Erzählungen nur bruchstückhaft. Sogar die Entstehung der runden Gebilde selbst ist umstritten.

Jacques de Bournon war 1802 wohl der erste Gelehrte, der die Kügelchen eingehend studierte. Er löste hundert davon aus Steinen, die im italienischen Siena, im englischen Wold Cottage und nahe dem indischen Benares zu Boden gestürzt waren. Gustav Rose taufte sie "Chondren", nach dem griechischen Wort für Korn oder Knorpel. In der Antike war "chondros" auch Pate bei der Benennung der Brustbeinknorpel gestanden. Darunter - griech. "hypo" - sollten die Gemütserkrankungen beheimatet sein. So entstand der "Hypochonder", in dessen sprachlicher Verwandtschaft sich die kosmischen Kügelchen seit Rose befinden.

Rose ersann zudem ein System, um die 181 Meteorite der mineralogischen Sammlung Berlin in Klassen einzuteilen. Die meisten Stücke besaßen Chondren. Deshalb gab er solchen Himmelssteinen 1864 den Sammelnamen "Chondrite". Das angeschlossene "it" stammte vom griechischen "lithos" (Stein). 1857 hatte Wilhelm Reichenbach erstmals Meteorite unter ein Mikroskop gelegt. Um sie auch im Durchlicht mustern zu können, fertigten Henry Sorby und Nevil Story-Maskelyne in England papierdünne Schliffe an.

Maskelynes Assistent war Victor von Lang, später Physikprofessor in Wien. Hier bannte Gustav Tschermak, Kurator der kaiserlichen Mineraliensammlung, den mikroskopischen Anblick 1876 auch auf Fotoplatte. Die Vielfalt der nun erkennbaren Strukturen forderte Erklärungen geradezu heraus. Innerhalb weniger Jahre erschien eine ganze Serie verschiedenster Theorien. Sie machten z. B. außerirdische Vulkane, Kometen oder die heiße Sonnenoberfläche für die Chondrenbildung verantwortlich. Otto Hahn sah in den Kugeln 1879 gar fossile Pflanzen, gewachsen und gestorben in einer fernen Welt.

Meteorkies

Einst trieb eine riesige, vielleicht 100 Lichtjahre weite, interstellare Wolke aus Gas und etwas Staub in der Milchstraße. Sie enthielt alle chemischen Elemente, wobei Wasserstoff und Helium klar dominierten. Ein plötzliches Ereignis, vielleicht die Explosion einer nahen Supernova, verdichtete das Gebilde. Rascher rotierend, zerfiel es in kugelige Teilwolken. Eine davon sollte später unser Sonnensystem gebären.

Dieser rundliche "Kokon" von wenigen Lichtjahren Durchmesser stürzte seiner eigenen Masse wegen in sich zusammen. Das erhitzte die Materie im Innersten des Sonnennebels so stark, dass sämtlicher Staub verdampfte. Bald erstrahlte ein Ball aus heißem Gas in seinem Zentrum: die Protosonne (griech. protos, erster, vorderster, Ur-). Sie durchlief zunächst die äußerst unruhige, zehn Millionen Jahre währende T-Tauri-Phase, benannt nach einem jungen Stern im Stier. Es kam dabei zu spektakulären Strahlungsausbrüchen, die ihren Glanz um ein Vielfaches erhöhten.

Während sich der Protostern formte, veränderte sich der anfangs rundliche Sonnennebel. Immer mehr nahm er scheibenförmige Gestalt an. Diese protoplanetare Scheibe war in Sonnennähe ungemütlich heiß. Weiter draußen herrschten gemäßigtere Bedingungen. Bei fallender Temperatur bildeten sich aus dem Nebelgas wieder feste Materiekörner - ein Vorgang, den man "Kondensation" nennt. Bartträger erfahren sie jeden Winter am eigenen Leib: Bei frostigen Temperaturen erstarrt die zunächst warme Atemluft an den Barthaaren zu Eis.

Leichtflüchtig - schwerflüchtig

Erhitzt man chemische Verbindungen im irdischen Labor, werden sie flüssig und verdampfen. Zuerst verwandeln sich die leichtflüchtigeren - "volatilen" - in Gas. Dazu zählt etwa Kohlendioxideis. Die schwerflüchtigen - "refraktionären" - benötigen höhere Temperaturen. In umgekehrter Reihenfolge kondensierten einst die Elemente aus dem Nebelgas. Zunächst verfestigten sich refraktionäre wie Aluminium, Titan, Kalzium und Magnesium. Dann kam Silizium. Erste Minerale wie Korund, Perowskit, Spinell oder Diopsid entstanden.

Später folgte Eisen. Es ermöglichte die Bildung der wichtigen Magnesium-Eisen-Silikate Olivin und Pyroxen; auch die des Schwefeleisens Troilit, früher "Meteorkies" genannt. Sie alle sind prominent in Chondriten vertreten. Anhand von refraktionären Einschlüssen in den Himmelsboten gelang sogar eine verblüffend genaue Zeitbestimmung: Demnach begann die Kondensation vor exakt 4,567 Milliarden Jahren.

Draußen im Kosmos sehen Astronomen verschiedene Stadien der Sterngeburt tatsächlich: interstellare Wolken, kugelige Urnebel, junge Sterne im T-Tauri-Stadium und protoplanetare Scheiben. In unserem Sonnensystem bietet sich zudem die Chance, Urmaterie ins Labor zu tragen. Deshalb werden Chondrite hoch geschätzt. In manchen ihrer Kügelchen entdeckt man schmale Pyroxennadeln in radialer Anordnung; sie erinnern an Fächer. In anderen bildet Olivin parallele Stäbchen, sodass man von "Harfen-" oder "Balkenchondren" spricht. Meist jedoch sind Olivin- oder Pyroxenkörner scheinbar regellos in Glas aus Siliziumoxid eingebettet.

Aus Zahl, Struktur und Zusammensetzung der Chondren zeichnet man folgendes Bild: Flockig aufgebaute Staubkörner sind einige Zeit nach ihrer frühen Bildung noch einmal bis zum Schmelzpunkt erhitzt worden. Das seltsame Ereignis dauerte nur Sekunden bis Minuten. Dann versiegte die Hitzequelle. Zurück blieben Kügelchen, die innerhalb einer Stunde auskühlten. Wenige stießen, gerade noch heiß und formbar, mit anderen zusammen. Dabei hinterließen sie kugelige Einbuchtungen oder blieben gar haften.

Oft eilten die erkalteten Kugeln dann durch "verschmutzte" Regionen des Sonnensystems. Staub lagerte sich auf ihnen ab. Im Anschnitt sind viele Chondren deshalb von einem oder mehreren Rändern umgeben. Solche "Rinden"- sogar solche aus Nickeleisen - wurden schon 1861 von Wilhelm Haidinger und 1883 von Gustav Tschermak in Wien studiert .

Manchmal müssen auch diese Hüllen noch einmal zum Schmelzen gebracht worden sein. Rose beschrieb bereits 1863 eine Chondre, die eine kleinere gleichsam "verschluckt" hatte. Ganz offensichtlich erlebten zahlreiche Kügelchen also nicht bloß eine, sondern zwei oder drei Episoden des Schmelzens und Wiedererstarrens. Wie ihre rundliche Gestalt belegt, geschah dies stets im freien Raum, ohne nennenswerte Beeinträchtigung durch Schwerkraft.

In der protoplanetaren Scheibe trafen die Kugeln später auf silikatische Olivin- und Pyroxenkörner. Sie blieben daran kleben. Bei sanften, zufälligen Zusammenstößen zwischen derartigen Klümpchen entstanden immer größere Blöcke. Ab einigen hundert Metern Durchmesser hatten diese genug Masse, um andere auch "aktiv" anzuziehen. Milliarden solcher so genannter "Planetesimale" wurden schließlich zu jenen Bausteinen, aus denen sich Kleinplaneten und Planeten wie unsere Erde formten.

Die neu gebildeten Himmelskörper steuerten einem recht unterschiedlichen Schicksal entgegen. Jene von mehreren hundert Kilometern Durchmesser erhitzten sich beim Zerfall radioaktiver Isotope dramatisch: Sie schmolzen auf. Ihre ursprünglichen Mineralien und Gesteine, auch die Chondren, wurden zerstört. Daher ist der kanadische Acasta-Gneis mit seinen knapp vier Milliarden Jahren auf Erden bereits ein "Methusalem". Älteres Gestein wird man hier nicht finden - obwohl unser Planet eine halbe Jahrmilliarde früher entstanden ist.

Kleine Himmelskörper von wenigen Dutzend Kilometern Radius entgingen der Aufschmelzung. Zu ihnen zählen die allermeisten Kleinplaneten, die zwischen Mars und Jupiter kreisen. Chondrite sind Materialproben dieser Mini-Welten, gratis zugestellt von Mutter Natur. Die kosmischen Sendungen bestehen gewöhnlich aus einer feinkörnigen Grundmasse von Olivin, Pyroxen, Plagioklas, Troilit, Nickeleisen und flüchtigeren Verbindungen. Diese Matrix hält - so Jacques Bournon 1802 - alles "wie Kitt" zusammen. Chondren inklusive.

Metamorphose

Die kleinen Mutterkörper produzierten nur relativ wenig Wärme. Doch auch sie zeigte Wirkung. Das Glas vieler Chondren wurde trübe, wie jenes sehr alter Fensterscheiben. Es kristallisierte. Olivin- und Pyroxenkristalle wuchsen; Chondren verzahnten sich mit der Matrix, lösten sich darin auf.

Diese thermisch bedingte Metamorphose (griech. metamorphosis, Verwandlung), gibt rückblickend Aufschluss über die Temperatur im Mutterkörper. Wo sich Chondren dicht aneinander drängen, hat sie 550 Grad nicht überschritten. Wo hingegen nur noch wenige Kügelchen auszumachen sind, muss sie über 800 Grad geklettert sein.

Manche Kleinplaneten besaßen eine effiziente Kühlung - durch das langsame Schmelzen von Eis, das in ihnen steckte. Allerdings reagierte das Wasser mit ihren Mineralien, veränderte auch die Schmelzkügelchen. Deshalb kennen wir paradoxerweise auch Chondrite ganz ohne Chondren - dafür aber mit

einem Wassergehalt von 20 Prozent.

Blitzschäden

Die Existenz der Chondren verrät, dass es in den ersten paar Millionen Jahren des Sonnensystems zu impulsiven, lokalen und episodenhaften Hitzeereignissen mit jeweils mehr als 1.500 Grad Celsius gekommen sein muss. Doch was lieferte hierzu die Energie?

Bei heftigen Zusammenstößen von Himmelskörpern wird Gestein geschmolzen. Ein Teil der glühenden Masse schießt ins All, bildet dort vermutlich auch kleine Kügelchen. Als Mechanismus zur Chondrenbildung taugt dieser Vorgang aber nur bedingt. Denn solche Kollisions- und Einschlagskatastrophen plagten das Sonnensystem hunderte Millionen Jahre lang. Neben uralten müsste es somit auch jüngere Chondren geben. Und die hat man bisher nicht gefunden.

Vielleicht sorgten stattdessen sanfte Zusammenstöße zwischen Staubteilchen für elektrostatische Aufladung, die sich in Form enormer Blitze entlud. In diesem Szenarium wären die Schmelzkügelchen also "kosmische Blitzschäden". Auch mächtige solare Strahlungsausbrüche während der T-Tauri-Phase werden als Energiequelle vermutet. Diese dauern bei jungen Sternen jeweils Monate. Sie wiederholen sich wohl unzählige Male. Unsere Kügelchen berichten aber nur von kurzen und wenigen Schmelzvorgängen.

Die Begegnung von Staubteilchen mit besonders dichten, gasreichen Zonen der protoplanetaren Scheibe mag ebenfalls eine schockartige Erhitzung bewirkt haben. Für solche Verdichtungen werden Strahlungsausbrüche der Sonne oder gravitationelle Störungen des rasch wachsenden Planeten Jupiter verantwortlich gemacht; heute besitzt der Riese immerhin mehr als doppelt soviel Masse wie alle anderen Planeten zusammen.

Das "X-Wind-Modell"

Möglicherweise spiralisierten die einstigen Staubteilchen der unberechenbaren, wilden Protosonne entgegen, wurden von kräftigen Magnetfeldern gepackt und im hohen Bogen fortgeschleudert. Wieder abgekühlt, fielen sie als Chondren - nach Größe sortiert - in die protoplanetare Scheibe zurück. Das Hubble-Weltraumteleskop hat passende Gasströme bei jungen Sternen tatsächlich beobachtet. Sie

sind mehrere hunderttausend Stundenkilometer schnell, aber auch extrem heiß. Auf Fotos ähneln

sie einem "X". Daher wird diese Theorie der Chondrenentstehung gerne als "X-Wind-Modell" bezeichnet.

Bisher hat sich allerdings keine der konkurrierenden Vorstellungen wirklich durchgesetzt. Jede stößt auf kritische, durchaus gewichtige Einwände. Vielleicht bleibt es gar einer zukünftigen Forschergeneration vorbehalten, das Rätsel um die uralten Schmelzkügelchen zu lösen.

 

Freitag, 20. Februar 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:14:00

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