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Thema 2006/05: Gleichstellung auf dem Prüfstand

DJI-Projekt - Thema 2006/05: Gleichstellung auf dem Prüfstand

Interview

mit PD Dr. Waltraud Cornelißen, DJI
Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung

"Von der Frauenbewegung zur Genderforschung"

 

Frau Dr. Cornelißen, wo stehen wir heute im Bemühen um die Gleichstellung der Frau – sagen wir auf einer Skala von 1 bis 10?

Da haben sie zu Anfang gleich eine ganz schwierige Frage gestellt. Die Entwicklungen laufen ja in verschiedenen Lebensbereichen so unterschiedlich, dass ich keine Gesamtnote vergeben kann. Ich müsste Gleichstellung aufgefächert nach einzelnen Bereichen bewerten. Sagen wir, im Erwerbsleben steht die Gleichstellung schon auf Stufe 7, bei der Arbeitsteilung zu Hause sind wir eher noch auf Stufe 2 bis 3.

Auf dem Papier sind Frauen heute bereits gleichberechtigt. Was sind die wichtigsten rechtlichen Errungenschaften der letzten Jahre?

Es gab einige. Zum Beispiel 1992 die Verbesserung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Pro Kind werden nun drei Jahre statt bisher nur eines angerechnet. Seit 1999 werden Kindererziehungszeiten mit 100% des Durchschnittseinkommens statt bisher nur 75% angerechnet.

Im selben Jahr wurde der Erziehungsurlaub mit einer dreijährigen Arbeitsplatzgarantie verbunden. 1996 wurde der Rechtsanspruch auf einen (halb-tägigen) Kindergartenplatz für Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr Gesetz. Und 2001 wurde aus dem „Erziehungsurlaub“ die „Elternzeit“, die das Elternpaar nun auch gleichzeitig nehmen kann. Außerdem ist seitdem Teilzeitarbeit während der Elternzeit zulässig.

Was könnte über politische Steuerungsinstrumente zusätzlich noch durchgesetzt werden, um der Diskriminierung von Frauen entgegen zu wirken?

Die Aufstiegschancen in den klassischen Frauenberufen müssten verbessert werden. Dies erfordert auch eine Veränderung der Ausbildungsstrukturen.

Außerdem wäre es wichtig, mehr Anreize für Eltern zu schaffen, sich die Familienarbeit wirklich zu teilen. Dazu gehört, dass Väter gleichermaßen Elternzeit nehmen und Teilzeit arbeiten können, aber auch bei Vollzeitarbeit verlässlich Termine mit ihren Kindern einhalten. Mütter könnten und sollten dann von vornherein eine Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit nach einer im Durchschnitt kürzeren Erwerbsunterbrechung einplanen.

Arbeitgeber müssten dann bei Frauen nicht häufiger als bei Männern befürchten, dass sie für einige Jahre neben dem Beruf noch andere wichtige Aufgaben wahrnehmen. Sie müssten auch nicht befürchten, dass ihnen weibliche Arbeitskräfte häufiger als männliche familienbedingt nicht mehr zur Verfügung stehen. Es sollte für Arbeitgeber klar sein, dass es lohnt, gleichermaßen in die Fortbildung von Frauen wie in die von Männern zu investieren.

Das heißt, der vehement diskutierte Vorschlag von Familienministerin Ursula von der Leyen, Elternzeit nur in vollem Umfang zu gewähren, wenn auch die Männer einen Teil der Elternzeit in Anspruch nehmen, geht für Sie in die richtige Richtung?

Ja, das finde ich sehr richtig.

Derartigen Vorschlägen liegt ja ein bestimmtes Familien-Leitbild zugrunde. Wie sieht das aktuell aus: Hausfrauen-Versorger-Modell, Zuverdiener-Modell oder Zwei-Verdiener-Modell?

Gegenwärtig sind gleichzeitig Maßnahmen in Kraft, die von sehr unterschiedlichen Leitbildern ausgehen. Einerseits haben wir das Ehegatten-Splitting. Der Steuervorteil ist hier am größten, wenn einer der Partner (meist ist das die Frau) sehr wenig oder gar nichts verdient. Das heißt, das Splitting fördert die typische „Versorger-Ehe“. Dasselbe gilt auch für die geringe Versorgung mit Kinderbetreuungsangeboten im Westen Deutschlands. Der Mangel an guten zeitlich passenden Angeboten stützt, ja erzwingt oft den Verzicht eines Elternteils auf Erwerbsarbeit.

Die Unterstützung des Versorgermodells passt überhaupt nicht mit der steigenden Qualifizierung und Erwerbsorientierung von Frauen zusammen. Die Elternzeit-Regelung trägt diesem Interesse von Müttern an Erwerbsarbeit inzwischen Rechnung. Die Elternzeit ist ja vom Konzept her für Mütter und Väter gleichermaßen vorgesehen. Sie bietet Eltern eine Arbeitsplatzgarantie bis zu drei Jahren nach der Geburt des Kindes und erleichtert damit den Wiedereinstieg von Müttern in den Beruf.

Angesichts der schwindenden Zahl von Personen im erwerbsfähigen Alter wird von ökonomischer Seite sehr stark dafür plädiert, dass sich Frauen stärker als bisher am Erwerbsleben beteiligen. Um die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands zu erhalten, wird ein Zwei-Verdiener-Modell empfohlen.

Auch wegen der zunehmenden Erwerbsorientierung von Frauen wird in Zukunft weiter nach Lösungen gesucht, die Frauen eine eher kontinuierliche Beschäftigung ermöglichen. Dazu gehören auch alle Pläne zum Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen. Denn zur Zeit ist es ja immer noch ein Problem, Kinder ausreichend und qualifiziert betreut zu finden.

Ist die gleiche Teilhabe an der Erwerbsarbeit, wie sie das Zwei-Verdiener-Modell propagiert, für Sie der (einzige) Schlüssel zur Gleichstellung von Mann und Frau?

Zur Gleichstellung im Beruf gehört meines Erachtens nicht unbedingt, dass beide Partner voll erwerbstätig sind, sondern dass sich beide in gleicher Weise an Erwerbs- und Familienarbeit beteiligen.

Verschiedene Befragungen haben gezeigt, dass sich Mütter von kleinen Kindern nur selten eine Vollzeitstelle wünschen. Sie bevorzugen das 1 ½ Verdiener-Modell, jedenfalls solange die Kinder noch klein sind, in einigen Befragungen sogar bis zum 10. Lebensjahr des Kindes (OECD-Studie 1998, IAB-Studie 2002).

In den letzten Jahrzehnten ist der Anteil der jungen Männer gestiegen, die sich aktiv und verantwortlich an der Familienarbeit beteiligen wollen. Realisiert wird dieses Ziel aber nur in Ausnahmefällen. Die Teilzeitquote bei Männern liegt derzeit bei 6% gegenüber 42% bei den weiblichen Beschäftigten. Und von den 6% sind es wiederum nur wenige, die tatsächlich aus familiären Gründen Teilzeit arbeiten. Meist hat ihre Teilzeitarbeit andere Gründe.

Für mich ist der Schlüssel zur Gleichstellung von Frauen und Männern nicht die Vollzeiterwerbstätigkeit für beide möglichst ohne Unterbrechung durch Elternzeiten, sondern die gleiche Teilhabe an Familienarbeit. Bislang nehmen sich überwiegend die Frauen Zeit für die Familie. Es wäre wünschenswert, dass sich auch Männer hierfür Lösungen erarbeiten und dass sie die Politik dabei unterstützt.

Könnte sich das 1 ½ Verdiener-Modell nicht auch aus zwei Drei-Viertel-Verdienern zusammen setzen?

Theoretisch ja. Dann kämen wir der Gleichstellung auch mit Sicherheit ein Stück näher. Die Beeinträchtigung der beruflichen Entwicklung von Frauen durch familienbedingte Arbeitszeitreduktion wäre dann geringer und zwischen den Geschlechtern gleich verteilt. Praktisch ist die Umsetzung solcher Pläne oft schwierig. Vor allem, weil es für die meisten Unternehmen immer noch sehr ungewöhnlich ist. Jedenfalls berichten die wenigen Väter, die die Arbeitszeit verringern, dass sie noch stärker diskriminiert werden als Mütter in vergleichbarer Situation. Da muss sich die Unternehmenskultur sicher noch ändern.

Ohne eine gut geregelte und qualifizierte außer familiale Kinderbetreuung kann dieses Modell allerdings nicht funktionieren.

Was muss über gesetzliche Regelungen oder Vorschriften hinaus noch geschehen, um zu einem wirklich partnerschaftlichen und ausgewogenen Verhältnis der Geschlechter zu kommen?

Ein Ausbau von guten, kostengünstigen, kindbezogenen Dienstleistungen kann die bisher ungleich höhere Beanspruchung von Müttern reduzieren. Hierzu gehören Betreuungsplätze für unter Dreijährige, mehr Ganztagsplätze für das Kindergartenalter, mehr Ganztagsschulen oder wenigstens mehr Halbtagsschulen mit Mittagstisch.

Im Familienalltag muss sich auch noch einiges ändern. Junge Leute sagen in Befragungen gern, dass sie sich die Familienarbeit mit ihrem Partner teilen wollen. Der Ansicht sind 75% der Mädchen und 69% der Jungen. Auf der diskursiven Ebene ist demnach schon viel erreicht. Aber wenn es darum geht, konkret zu teilen, findet es noch in sehr ungleichen Relationen statt. Wie man das nun beheben kann ...

... bleibt jeder Familie allein überlassen und wird weiterhin im täglichen Kleinkrieg ausgehandelt. Oder kündigt sich doch noch unverhoffte Hilfe von außen an?

Von Seiten mancher Verbände gibt es ja schon Überlegungen, dass von 18 Monaten Elternzeit nicht nur 2 sondern 9 Monate den Vätern vorbehalten bleiben sollten. Das wäre sehr konsequent. Problematisch ist dies natürlich für die Allein-Erziehenden-Familien. Aber trotz solcher Einschränkungen würde ich versuchen, auf diesem Wege konsequent weiter zu gehen – ist aber politisch vermutlich schwer durchsetzbar. Teilzeitphasen für Väter müssten gefördert werden. Ich sehe nicht, dass sich hier derzeit schon Unterstützung ankündigt.

Manche Frauen behaupten: eine Kämpferin für die Frauenrechte wie Alice Schwarzer brauchen die emanzipierten Frauen von heute nicht mehr. Ein Trugschluss?

Alice Schwarzer hat ja nicht nur für die Frauenrechte gekämpft, sondern sich auch stark mit den Geschlechterkulturen auseinander gesetzt. Zum Beispiel mit der frühen PorNo-Kampagne, in der es um die Darstellung von (nackten) Frauen in den Medien ging. Das war eine kulturelle Debatte, die sie entfacht hat. Und solche Debatten sind nach wie vor nötig. Zum Beispiel jetzt, wenn die „Schuld“ an der geringen Geburtenrate den Frauen in die Schuhe geschoben wird, statt nach den gesellschaftlichen Ursachen und auch der Motivlage der Männer zu fragen.

Stichwort kulturelle Auseinandersetzungen. Wie wird sich der zunehmende Anteil an Mädchen und Frauen, die aus streng gläubigen muslimischen Familien stammen, auf den Abbau der Benachteiligung von Frauen auswirken?

Die Gefahr, dass sich dadurch ein rückschrittliches Frauenbild verbreiten könnte, sehe ich nicht. Die Entwicklung, die wir bisher erreicht haben, lässt sich sicher nicht zurück drehen.

Auch die Möglichkeit, dass sich junge Männer nun eher streng muslimisch erzogene, vermeintlich unterwürfige Mädchen als Partnerinnen wünschen, schätze ich als unwahrscheinlich ein. Die „Heiratsmärkte“ sind völlig gegeneinander abgeschottet. Eine muslimische Frau wird nicht an einen deutschen Mann verheiratet. Wenn sie selbst diesen Weg geht, ist sie der kulturellen Tradition ihres Heimatlandes schon nicht mehr streng verhaftet.

Auf der anderen Seite lässt es uns natürlich nicht kalt, was mit muslimischen Frauen in der deutschen Gesellschaft passiert. Da ist ein schwieriger Balanceakt angesagt. Wir haben auch in der deutschen Kultur die Vorstellung von der Familie als Privatbereich, in den der Staat nicht zu stark hinein wirken sollte. Das hat dazu beigetragen, dass wir uns lange Zeit nicht genug damit auseinander gesetzt haben, was in muslimischen Familien mit Frauen und Mädchen passiert. Aber spätestens seit die „Ehrenmorde“ an jungen Frauen, die sich nicht in die Tradition gefügt haben, in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ist klar, dass es neben der polizeilichen Verfolgung der Straftäter in Deutschland unbedingt mehr Unterstützung für diejenigen muslimischen Frauen geben muss, die versuchen, aus der Unterdrückung auszubrechen.

Früher sprach man von Gleichberechtigung. Heute hören wir häufig den Begriff Gleichstellung. Worauf ist dieser Wechsel zurück zu führen?

Im Grunde genommen sind es sogar noch mehr Begriffe, die einen Wandel in der Entwicklung anzeigen. Angefangen hat es in der Tat mit dem Begriff der Gleichberechtigung, dann kamen das Konzept der Chancengleichheit und das der Gleichstellung hinzu. Aktuell ist eher der Begriff Geschlechtergerechtigkeit en vogue.

Der Terminus Gleichberechtigung bezog sich ganz klar auf die formalen rechtlichen Grundlagen – wie in Artikel 3 (Abs. 2) des Grundgesetzes festgelegt: Männer und Frauen sind gleich berechtigt. Der Verfassungsauftrag erzeugte allerdings auch die Erwartung, dass sich die gesellschaftliche Praxis entsprechend ändert. Es zeigte sich aber, dass dieser Grundsatz allein Frauen und Männern noch keineswegs die gleichen Handlungsspielräume eröffnet. Deswegen wurde der Artikel 3 1994 mit dem Zusatz versehen: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Dieser Zusatz gibt dem Staat mehr Pflichten und Eingriffsrechte.

Auch im Familienrecht hat es lange gedauert, bis eine Gleichstellung erfolgt ist. Erst 1976 wurde der „Stich-Entscheid“ des Ehemannes abgeschafft, der dem Mann die letztendliche Entscheidung zubilligte, falls sich die Eheleute nicht auf einen Wohnort oder über die Erziehung des Kindes einigen konnten.

... und im Arbeitsleben?

Um dort Geschlechtergerechtigkeit zu kennzeichnen, bietet sich der Begriff der Chancengleichheit und der der Gleichstellung an. Chancengleichheit wird so interpretiert, dass Personen mit gleichen Voraussetzungen auch gleiche Startchancen erhalten. Die Beeinträchtigung der beruflichen Entwicklung von Frauen durch familiale Aufgaben findet bei diesem Konzept meist keine Beachtung. Das Konzept der Gleichstellung wird meist so verstanden, dass Frauen und Männer auf allen hierarchischen Positionen zu gleichen Teilen vertreten sein sollen. Aus verschiedenen Gründen ist dies noch lange nicht erreicht, obwohl wir eine formale Gleichstellung im Erwerbsleben haben.

Wenn Frauen heute benachteiligt werden, dann eher indirekt, das heißt, niemand lehnt eine Frau ausdrücklich deshalb ab, weil sie eine Frau ist. Es werden mit dem Geschlecht allerdings gelegentlich noch immer Erwartungen verknüpft, die für Frauen beruflich von Nachteil sind. Nachteile haben Frauen auch zum Beispiel in den Fällen, in denen ein beruflicher Aufstieg von der Anzahl der Berufsjahre abhängt. Für Frauen, die viel häufiger als Männer diskontinuierliche Erwerbsbiographien haben, bedeutet dies trotz eines formal gleichen Rechts einen Nachteil gegenüber männlichen Kollegen. Solche Benachteiligungen haben wir immer noch nicht regeln können.

Wenn wir heute statt von Gleichstellung häufiger von Geschlechtergerechtigkeit sprechen, so liegt dies daran, dass der Begriff der Gleichstellung nicht auf alle Lebensbereiche so gut passt, wie auf das Erwerbsleben. Im familialen Bereich geht es zum Beispiel um eine gleiche Verteilung der Hausarbeit, um gleichen Zugang zum Haushaltseinkommen oder um eine eigenständige Freizeitgestaltung. Da ist der Begriff der Gleichstellung nicht immer passend.

Auch im Bildungsbereich, in dem es um die Förderung von Mädchen und Jungen geht, sind Begriffe wie Chancengerechtigkeit oder Geschlechtergerechtigkeit passender als der der Gleichstellung.

Verschiebungen in der Perspektive schlagen sich nicht nur semantisch nieder. Wie reflektiert die Forschung, in der Sie seit über 30 Jahren tätig sind, die bisherigen Entwicklungen?

Aus meiner Sicht hat die Forschung eine rasante Entwicklung vollzogen. Sie hat sich zunächst an der Frauenbewegung orientiert und war in den 1970er und frühen 1980er Jahren ganz auf Parteilichkeit für Frauen ausgerichtet. Sie war darauf festgelegt, die Benachteiligungen von Frauen sichtbar zu machen. Fast durchgängig wurde in Forschungsprojekten nur die Situation von Frauen in den Blick genommen und die der Männer völlig ausgeklammert. Außerdem rückten nie die Vorzüge von Frauen(leben) in den Fokus, sondern Frauen erschienen vorrangig im Licht der Diskriminierung. Diese frühe Frauenforschung war sehr wichtig, weil die soziale Situation von Frauen bis dahin in der Forschung viel zu wenig Beachtung gefunden hatte. Auch waren einige tabuisierte Forschungsfelder zu bearbeiten, beispielsweise das Thema der häuslichen Gewalt.

In den späten 1980er Jahren haben wir erkannt, dass mit einer allein auf Frauen gerichteten Forschung politisch nur begrenzt etwas zu erreichen ist. Um zeigen zu können, dass für Frauen etwas getan werden muss, ist ein Geschlechtervergleich notwendig. Auch deshalb wurde aus der Frauenforschung eine Geschlechterforschung, eine Forschung also, bei der auch die Männer mit in den Blick genommen wurden. Anders als im Mainstream der Sozialforschung bestand in der Geschlechterforschung ein ausdrückliches Interesse daran, Geschlechterdiskrepanzen sichtbar zu machen und nach deren Ursachen, der „Herstellung von Geschlecht“, dem „doing gender“ zu fragen. In der Geschlechterforschung wurde zudem immer reflektiert, ob das gewählte Untersuchungsdesign wirklich sicher stellt, dass die unterschiedlichen Chancen, aber auch die verschiedenen Lebens- und Problemlagen von Frauen und Männern berücksichtigt werden und deren Kontext tatsächlich sichtbar werden kann.

Geben Sie uns ein Beispiel?

Ich persönlich war in den 1970erJahren mit Medienforschung befasst. Im Mainstream interessierte man sich für Frauen- und Männerbilder in den Medien nicht. Auffällig war, dass wir uns anfangs nur für das Frauenbild in den Medien interessierten. 1973 erschien dazu eine erste große vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) geförderte Studie. Sie zeigte einerseits, dass Frauen in vielen Bereichen unterrepräsentiert waren, dass sie zum Beispiel viel seltener als erwerbstätige Frauen dargestellt wurden als sie tatsächlich am Erwerbsleben teilnahmen. Es konnte auch belegt werden, dass Frauen in den Medien im Wesentlichen auf zwei Klischees festgelegt wurden: einerseits auf das der Hausfrau und andererseits auf das der glamourösen Frau, die in den Medien heute noch weit häufiger vertreten ist als damals. Das Männerbild wurde zunächst nicht erforscht, weil implizit vorausgesetzt wurde, dass das Männerbild keinen Klischees unterliegt – was sich durch spätere Untersuchungen durchaus als Trugschluss belegen ließ. Heute gehen viele davon aus, dass medial inszenierte Männlichkeitsbilder, wie das des Abenteurers, des Draufgängers oder des Kriegers den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten gelebter Männlichkeit verengen und zu den erheblichen Problemen mit männlicher Gewalt in unserer Gesellschaft zumindest beitragen.

Aber zurück zur Historie ...

Ja, der Einbezug von Männern als Forschungsgegenstand war nicht nur wichtig, um eine Vergleichbarkeit herstellen zu können. Die theoretischen Ansätze haben immer deutlicher werden lassen, dass wir die Situation eines Geschlechts nur dann verstehen können, wenn wir analysieren, wie Frauen- und Männerleben miteinander zusammenhängen. Also wie das Geschlechterverhältnis durch Institutionen, aber auch durch die alltäglichen Interaktionen von Frauen und Männern und durch aufeinander abgestimmte biographische Entscheidungen hergestellt wird.

Heute geht es vor allem darum, diese komplexe wechselseitige Verknüpfung der Geschlechter zu erforschen, wie sie sich im Privatleben, am Arbeitsplatz aber zum Beispiel auch in Parteien und Verbänden ergeben. Denn die Frauenrolle kann sich nur ändern, wenn sich auch die Männerrolle ändert.

Und in den letzten Jahren ...?

Hat es eine ungeheure Ausdifferenzierung der Gender- bzw. Geschlechterforschung gegeben. Während am Anfang die Hauptthemen Arbeitsteilung in der Familie oder Sozialisationsforschung (Wie werde ich zum Jungen, zum Mädchen?), Gewalt oder Frauengesundheitsforschung standen, haben sich die Felder inzwischen sehr stark aufgefächert. In jedem Bereich der Sozialwissenschaften gibt es inzwischen Ansätze, der Konstruktion der Geschlechterdifferenz Beachtung zu schenken. In der Organisationssoziologie, der Kriminalitätssoziologie, in den Politikwissenschaften, der Bildungssoziologie, in der Städteplanung, in der Therapieforschung – überall gibt es heute wissenschaftliche Netzwerke, die sich mit Geschlechterfragen im jeweiligen Feld befassen.

Eine der jüngeren Entwicklungen ist nun, Geschlechterdifferenz nicht mehr isoliert zu betrachten. Weil sie sich in der Gesellschaft immer durchkreuzt mit anderen Formen von Ungleichheit findet. Die Geschlechterforschung befasst sich also heute stärker als früher auch mit den Unterschieden innerhalb der Gruppe der Frauen und innerhalb der Gruppe der Männer. Zum Beispiel haben Frauen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen unterschiedliche Chancen, die aber wiederum anders sind als die der Männer mit vergleichbarem Bildungshintergrund.

Daneben betrachtet die Forschung auch verstärkt die Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen Milieus oder Regionen. Im Genderreport haben wir zum Beispiel sehr ausführliche Ost-West-Vergleiche angestellt. Aber auch Stadt-Land-Differenzen der Geschlechterarrangements werden erforscht. Auch wird untersucht, wie sich die Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen unterscheiden.

Wie kann eine zukünftige Genderforschung Männer und Frauen auf dem Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit unterstützend begleiten?

Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, dass wir den Stand der Geschlechtergerechtigkeit kontinuierlich dokumentieren, um Entwicklungen deutlich zu machen. In der DDR war jahrzehntelang verkündet worden, dass die Gleichberechtigung erreicht ist. Dies wurde weitgehend geglaubt, weil Daten, die dies hätten wiederlegen können, kaum erhoben, nicht ausgewertet oder nicht publiziert werden durften. Eine Gesellschaft, die sich ihrem Verfassungsanspruch auf Gleichberechtigung ehrlich stellen will, braucht also erst einmal ein fundiertes öffentlich zugängliches Wissen über den Stand der Geschlechtergerechtigkeit. Deshalb ist es wichtig, die Berichterstattung zur Geschlechtergerechtigkeit aufrecht zu erhalten und differenzierend auszubauen. So kann einer kritischen Öffentlichkeit aufgezeigt werden, auf welchem Stand sich die Gleichberechtigung in welchen Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft tatsächlich befindet. Denjenigen, die gleichstellungspolitisch aktiv werden wollen, sind aktuelle Zahlen eine wichtige Argumentationshilfe.

Zweitens dürfen wir es nicht bei einer Beschreibung der Ungleichheit bewenden lassen. Wir müssen vielmehr weiterhin hinterfragen und untersuchen, auf welch wechselnden Wegen Geschlechterdiskrepanzen und -hierarchien immer wieder neu hergestellt werden. Wir können uns nicht nur auf die Wirksamkeit vorhandener gleichstellungspolitischer Maßnahmen verlassen, denn die Mechanismen der Reproduktion von Geschlecht verändern sich ständig und wirken in verschiedenen Sektoren ganz unterschiedlich.

Außerdem tun sich immer wieder neue Problemlagen auf, etwa mit der Entwicklung neuer Medien oder mit der Verbreitung neuer Beschäftigungsformen. Deshalb sind unsere permanenten Leitfragen: Welche Geschlechterdiskrepanzen gibt es heute? In welchem sozialen Kontext treten sie auf? Wie entstehen sie dort? Und wie können diese Benachteiligungen behoben werden?

Welche konkreten Projekte/Studien planen Sie in der nahen Zukunft?

Ich möchte mich in den nächsten Jahren genauer mit den Lebensentwürfen junger Frauen und Männer und mit deren Realisierung befassen. Dabei ist mir besonders wichtig, der Rolle von Institutionen diesbezüglich nachzugehen. Hierzu gehören das Ausbildungssystem und der Arbeitsmarkt für junge Frauen und Männer. Hierzu gehören aber auch unser Steuer- und Sozialsystem, sowie die kulturellen Muster, die zum Beispiel Herkunftsfamilien, Betriebe oder die globalisierte Medienkultur vermitteln bzw. unterstellen.

Ich möchte untersuchen, wie junge Frauen und Männer mit den vielfältigen Modernisierungsprozessen umgehen, wie sie die neuen Freiheiten nutzen und die neuen Risiken bewältigen. Der Wunsch nach einem Leben in Beziehungen und der Wunsch, auch einmal Kinder zu haben, ist in der jungen Generation keineswegs zurückgegangen, sondern in den letzten 15 Jahren eher wieder größer geworden. Gleichzeitig ist die Ausgestaltung von Paarbeziehungen offener und die familiale Arbeitsteilung keineswegs mehr selbstverständlich. Hohe Anforderungen an die berufliche Qualifikation von jungen Männern und Frauen und die Regulierung des Ausbildungs- und Berufssystems erzeugen zusammen mit einem knappen Arbeitsplatzangebot zudem einen starken Druck auf junge Frauen und Männer, sich vor dem Berufseinstieg und vor einer eventuellen Familiengründung mit einer möglichst weit reichenden Ausbildung günstige Chancen für eine hohe erste Platzierung auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. Zunehmend längere Ausbildungen, zeitlich befristete Berufseinstiege, Praktika und Volontariate und die damit zusammen hängende Mobilität zögern die Etablierung auf dem Arbeitsmarkt und damit eine mögliche Familiengründung hinaus.

So schwierig unter diesen Umständen eine langfristige Planung auch ist, diese Situation bietet jungen Frauen und Männern gleichzeitig die Möglichkeit, eine frühe Festlegung auf traditionsreiche Geschlechtsrollenkonzepte (männliche Ernährerrolle, weibliche Zuständigkeit für Familienarbeit) aufzuschieben und mit neuen Mustern der Lebensführung und einer offenen Lebensplanung zu experimentieren. Wie junge Frauen und Männer mit dieser Situation umgehen, welche Institutionen sie dabei stützen und welche sie behindern, soll in verschiedenen sozialen Kontexten untersucht werden. Ziel ist es, fundierte Anregungen für eine geschlechtergerechte Neuorganisation der Rahmenbedingungen für das junge Erwachsenenalter zu geben.

Es sind folgende Projekte geplant:

Studieren mit Kind. Unter welchen Bedingungen ist dies möglich?

Fernbeziehungen beim Berufseinstieg

Ursachen von Schwangerschaftsabbrüchen im jungen Erwachsenenalter

Frau Dr. Cornelißen, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Zum Weiterlesen:

Gespräch mit Dr. Waltraud Cornelißen zum Girls Day

DJI Online / Stand: 1. Mai 2006

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