Karl Prümm

Hitlerjunge Quex

Psychopolitik der Nazipropaganda durch das Medium Film


Ludwig Harig ist ein sehr bewusster Ohrenzeuge und Augenzeuge der Mediengeschichte - auch unter diesem Aspekt lassen sich seine autobiographischen Romane lesen. Harigs romanhafte Erinnerung bestätigt, dass der Film von den Dreißigern bis zu den Fünfziger Jahren das alles beherrschende Leitmedium war und das Alltagsleben entscheidend prägte. Im Kino ist Harig ein eher distanzierter Zuschauer, auch dort bleibt er der Büchernarr, der sich mit seiner ganzen Begeisterung der Literatur verschrieben hat. Der Kinogänger, der seine Filmerfahrung beständig in seine Rede einfließen läßt, ist in Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf ein anderer, ein zynischer und zugleich lethargischer Lehrerkollege, der unter seinem Beruf leidet und mit seiner Nazivergangenheit nicht ins Reine kommt. Aber auch Harig erzählt von seiner Teilhabe an der Filmgeschichte. Er beschreibt die enorme Ausstrahlung von Leni Riefenstahls Olympiafilm, dessen suggestive Bilder und rasante Montagen bis in die Knabenträume weiterwirken. Im Rausch der Blitzsiege verwandeln die sehnlichst erwarteten Wochenschauen, die nun gar die Spielfilme in den Schatten stellen, den Krieg in eine einzige unaufhaltsame Bewegung fröhlich marschierender Soldaten. Diese Inszenierung, die Verwundung und Tod ausblendete, vermischt der bildertrunkene junge Harig mit den heroischen und christlichen Mythologien zu einem ebenso bizarren wie unverbrüchlichen "Glauben". Nach 1945 beginnt dann die "Zeit des guten Kinos", die Zeit der Spätvorstellungen. Wie viele seiner Generation genießt Harig das bislang Verbotene in vollen Zügen. Die amerikanischen Gangsterfilme, die B-Pictures und Film Noirs heben die Enge auf, weiten den Blick und enthüllen eine unbekannte Welt. Das Kino stiftet nun ein kollektives Einverständnis ohne Mythenschwere und Gemeinschaftspathos, ein Einverständnis, für das man sich nicht zu schämen braucht. Die Kinobilder werden ganz alltäglich, und selbst Harig übernimmt die Gesten und Attitüden der Filmheroen, trägt stolz die Frisur von Burt Lancaster. Mitte der Fünfziger Jahre erlebt seine Filmbegeisterung noch einmal einen letzten Höhepunkt, dann bricht sie ab.

Es gibt einen Film, den Ludwig Harig nie vergessen wird, der sich in sein Gedächtnis regelrecht eingebrannt hat und an dem er sich mehr als fünfzig Jahre danach im Akt des Schreibens noch einmal "abarbeitet", zu dem er unbedingt Klarheit gewinnen will: Hitlerjunge Quex (Regie: Hans Steinhoff nach einem Roman von Karl A. Schenzinger) aus dem Jahr 1933. Die Erinnerung an dieses Kinoerlebnis ist für Harig schmerzlich, repräsentiert doch dieser Jugendfilm wie kein zweiter die nazistische Verführung wie ein Abbild. An diesem Kinostück wird sichtbar, wie perfekt hier Gefolgschaft und Opfer inszeniert waren und wie rückhaltlos der Knabe diesen Verlockungen verfiel. Mit diesem Film begann eine Verblendung, aus der Harig erst bei seiner Gefangennahme nach Kriegsende herausgerissen wurde, als ihm ein amerikanischer Soldat ins Gesicht schlug. Hier steht also mehr auf dem Spiel, als die Kinogefühle der Kindheit zurückzuholen. Der Sich-Erinnernde und der Schreibende muss sich immer wieder die Fragen stellen: Wie konnte dies mit mir geschehen? Warum behauptete sich diese Verführung so lange gegen die Wirklichkeit? Weshalb bin ich aus diesem Rausch erst erwacht, als es zu spät war und alles in Trümmern lag? Die Vergegenwärtigung dieses Films ist der vielleicht heikelste Moment im autobiographischen Schreiben von Ludwig Harig.

Mit seiner eingestandenen Hingabe an diesen Film steht Harig nicht allein. Ganz ähnlich erinnert sich auch der 1925 geborene Hartmut von Hentig: "Wie andere Jungen auch habe ich Quex zugleich geliebt und beneidet. Auch ich wäre gerne für eine große Sache in den Kampf gegangen und gestorben; auch ich wollte mich bewähren; auch ich sehnte mich nach den Starken und der Gemeinschaft, die sie zu bilden schienen." [1]

Hitlerjunge Quex bringt sehr widersprüchliche Elemente zusammen. Der Film ist im Stil einer Märtyrerlegende gehalten und thematisiert zugleich die moderne Stadt, er ist eine Jugendgeschichte und zugleich soziales Drama und Familientragödie. Er ist ein Gegenwartsfilm und geht doch in die Vergangenheit zurück. Hitlerjunge Quex erzählt eine Geschichte aus der "Kampfzeit", aus der bürgerkriegsähnlichen Konfrontation zwischen NSDAP und KPD am Ende der Weimarer Republik und glorifiziert so die geglückte "nationale Revolution", weil sie das Elend beseitigt und die Ordnung wiederhergestellt habe. Der Held dieses Films, Heini Völker, löst sich immer mehr aus dem proletarischen Milieu des Weddinger Beussel-Kiez, befreit sich aus der zerrütteten Familie und schüttelt den Einfluss der Kommunisten ab. Instinktiv fühlt er sich zur neuen Familiarität der Gruppe, der Hitlerjugend, hingezogen. Als er diese neue Gemeinschaft vor einem Anschlag der "Roten" bewahrt, wird er von den Kommunisten als Verräter gejagt und brutal ermordet. Der Film hat eine klare transparente Struktur und löst doch unglaubliche Gefühle aus. Er kreist um zwei Fetische, um Fahne und Uniform. Die Fahne wird zum Symbol der neuen, mit Blut besiegelten Gemeinschaft, und die Uniform ist Signum der neugewonnenen Identität. Die Filmerzählung kaschiert diesen Fetischcharakter, und außerdem sieht Harig diesen Film zu einem Zeitpunkt, als der Alltag von diesen Fetischen beherrscht war: 1935, unmittelbar nach der "Heimkehr" der Saar ins Reich. Das Saarland versank damals in einer Fahnenseligkeit, die Hakenkreuze waren allgegenwärtig, und nun wurden die vorher versteckten braunen Uniformen offen gezeigt. Eher mit Befremden registriert der kindliche Blick den Kult der Fahnen und das Gerede der Erwachsenen von "Heiligkeit" und "Heldentum". Bei allem Schmuck und Glanz dieses schier grenzenlosen Festes blieben Fahne und Uniform für den Knaben Harig banale Objekte, bloße Stofffetzen. Erst der Film Hitlerjunge Quex hebt die alltäglichen Gegenstände ins Mythische und Religiöse, beseitigt so jede Distanz und schwört den "verhexten" kindlichen Kinobesucher ein auf "Opfer" und "Gemeinschaft".

Gerade dieser Film verzaubert durch Musik und Stimmen. Von "vielerlei Arten und Abwandlungen des Klangs" spricht Harig.(Weh dem S.76) In der Tat war in diesem Film eine besondere Anstrengung darauf gerichtet, effektiv mit den noch neuen und revolutionären Möglichkeiten des Tons zu arbeiten. Hitlerjunge Quex, einer der ersten programmatischen Filme des "Dritten Reichs" sollte technisch auf der Höhe der Zeit sein. Vor allem auf der Tonspur wird die nazistische Verführung vorangetrieben, auf der Ebene des Tons wird der Gegner diffamiert. Unentwegt putscht das Marschlied Unsere Fahne flattert uns voran die Emotionen auf, dynamisiert auch den erzählerischen Rhythmus. Eine simple, dem Publikum sehr vertraute Tonfilmkonvention wird aufgenommen und ideologisch besetzt. In beinahe allen frühen Tonfilmen waren die Gesangsszenen und Liedeinlagen Höhepunkte, ein feierliches, fast opernhaftes Ritual, ein Sich-Erheben über das bloße Sprechen. Solche Kinoeffekte werden auch hier genutzt und bis zur Schlussapotheose gesteigert. Selbst die Begleitmusik ist in diesem Film weit mehr als bloße Illustration. Das fast träumerische Hinübergleiten vom Schrecken der alten Welt zur strahlenden neuen Ordnung materialisiert sich erst eigentlich in der Musik. Entsetzt flieht der Held vor der schrillen, ordinären Tanzmusik und dem Gegröle, die im proletarischen Camp angestimmt werden. Im dunklen Wald wird er wie magisch vom Lager der HJ angezogen, und je näher er sich herantastet, um so klarer und fester werden die Akkorde. Mit voller Bruststimme schmettert die Gruppe ihr mitreißendes Lied. Warm und weich klingen die Stimmen der HJ-Führer. Bei den politischen Kontrahenten wird alles konsequent ins Gegenteil verkehrt, Stimme und Körper treten auseinander, das Singen ist hier pure Disharmonie. Höhepunkt dieser tonalen Diffamierung ist die Sequenz, als der proletarische, der KPD zugehörige Vater (gespielt von Heinrich George) seinen "abtrünnigen" Sohn zur Rede stellt und auf den "richtigen" Weg zurückbringen will. George liefert eine bösartige Karikatur des politischen Bekenntnisses. Er presst die Internationale aus seinem schweren Körper heraus, drückt entsetzlich auf die Stimmbänder und prügelt das Lied in seinen Sohn hinein. Unangenehm schneidend ist die Stimme des kommunistischen Agitators, der aufhetzende Reden hält und schließlich Heini Völker den tödlichen Stich ins Herz versetzt. Die überscharfen Pfiffe, mit denen sich die Verfolger verständigen und im Labyrinth der Straßen ihr Netz immer dichter knüpfen, schneiden ins Ohr und nehmen den Messerstich vorweg.

Einer präzisen binären Ordnung ist der ganze Film unterworfen. Harigs Filmerinnerungen sind ein Beleg dafür, wie unmittelbar der Film an Alltagserfahrung und an ideologische Muster anknüpft, um ihnen universelle Gültigkeit zu verleihen. Die Kommunisten werden als ungezügelter Haufen, als undiszipliniert und ausschweifend gezeigt. Der achtjährige Harig, der Sohn eines Malermeisters, hatte im "roten" Sulzbach beständig vor Augen, wie deutlich die ihm ohnehin fernstehenden KP-Anhänger von den bürgerlichen Normen von Ordnung und Sauberkeit abwichen. Nun bestätigt dieser Kinobesuch, der ja selbst als streng geordnetes, uniformiertes Ritual ablief, dieses Vorurteil als nicht mehr angreifbare Wahrheit. Von der Leinwand erstrahlte um so heller das Selbstbild der sauberen Opfergemeinschaft.

Hitlerjunge Quex ist alles andere als ein tumber Propagandafilm. Seine Überzeugungskraft erhöht er, indem er der Gegenpartei Differenzierung gestattet und sympathische Züge zuläßt. Der kommunistische Funktionär Stoppel (gespielt von Hermann Speelmans) bemüht sich mit echtem Ethos und mit Anteilnahme um seine Jugendlichen. An der Verfolgung und am Mord des Heini Völker nimmt er nicht teil. Noch wollen die Nazis die "guten" Elemente der Kommunisten auf ihre Seite ziehen. Hitlerjunge Quex ist daher auch ein Film der Konversionen. Er will bekehren und tut dies mit ideologisch sehr simplen Positionen, aber mit großem ästhetischem Raffinement. Dieser Film des Anfangs und des Übergangs nimmt sich aus wie eine Summe des Weimarer Kinos, wie eine Erbschaft dieser Zeit. Seine wirkungsvollsten Inszenierungsstrategien hat Hitlerjunge Quex beim Gegner abgeschaut. Schon die virtuose Anfangssequenz lässt sich als Hommage an das russische Revolutionskino lesen. Vom unscheinbaren Detail aus, einem Apfel in der Auslage eines Straßenhändlers, wird eine Szenerie der Gewalt, des Hasses und der unerträglichen Verhältnisse entworfen. Die physiognomische Genauigkeit, die ätzende Schärfe der Sozialkritik und die effektvoll rhythmisierte Montage erinnern an Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925). Ebenso macht sich der Film das anrührende Pathos des proletarisch-revolutionären Kinos zu eigen, schließt offen an Filme wie Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) an. Berta Drews, die im Leid erstarrte Mutter von Heini Völker, spielt ganz im Sinne dieser Tradition so, als sei sie den Zeichnungen von Käthe Kollwitz entstiegen. Die Genauigkeit der sozialen Gesten ist an den Filmen von G.W.Pabst orientiert.

Das Kunstvolle und das Gemachte verschwanden jedoch damals im Nebel der Opferbereitschaft und der Todessehnsucht. Das Gefühlskino war nur Fassade, in Wirklichkeit war der Film Resultat einer kalten Psychopolitik, war auf die idealistische Empfänglichkeit des jugendlichen Publikums ausgerichtet. "Deutschland, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergeh'n", hieß es im Liedtext des Reichsjugendführers Baldur von Schirach. "Führer! Dir gehören wir, Wir, Kam'raden, Dir!", lautete die Schlussstrophe. Im Februar 1934, mitten im Saarkampf, fand in einem Saarbrücker Kino eine geschlossene Vorführung des eigentlich verbotenen Films Hitlerjunge Quex statt, quasi als ein Test der künftigen "nationalen" Jugend-Filmarbeit. Das "Experiment" gelingt, der Film erreicht sein Ziel, wie ein Kinobesucher, der jedoch nur das jugendliche Publikum im Auge hat, begeistert vermeldet: "Man muss erlebt haben, wie diese Jungen und Mädel mitgingen, wie die Heiligkeit völkischen Ringens über sie kam, wie ihr Blut und ihre Seelen gepackt wurden."[2]

Der Schrecken über dieses "Mitgehen" und "Gepacktwerden" durchzittert auch noch die Erinnerung von Ludwig Harig, ein Erschaudern darüber, was jene Schattenbilder auszurichten vermochten. Im Kopf, in den Imaginationen und Phantasien wirkten sie fort, kehrten immer wieder, schlugen eine ganze Generation in Bann. Tief erschrocken ist der Sich-Erinnernde aber auch darüber, wie prophetisch der Filmschluß von Hitlerjunge Quex, dieser Film des Anfangs und der Verheißung im Jahre 1933 bereits war. Die schier endlosen Kolonnen, die im Rausch des Fahnenliedes marschieren, werden dem Tod überantwortet.

Karl Prümm ist Professor für Medienwissenschaften in Marburg.

Vgl. Karl Prümm: "Der Ohrenzeuge. Filmerinnerungen in den autobiographischen Romanen von Ludwig Harig." In: "Sprache fürs Leben. Wörter gegen den Tod." Hrsg. von Benno Rech. Blieskastel (Gollenstein) 1997


© imprimatur April 2000
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[1] Hartmut von Hentig. Zit. nach: Gerd Albrecht: Arbeitsmaterialien zum nationalsozialistischen Propagandafilm: Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend. Frankfurt/Main O.J. S.31.
[2]Otto Kriegk: Der deutsche Film im Spiegel der Ufa. Berlin 1943. Zit. nach: Albrecht: Arbeitsmaterialien S.32.