Westportal Kirche von Semur en Brionnais
Westportal der Kirche von Semur en Brionnais/Frankreich - Burgund
Türsturz, 12. Jh. : Die Szene zeigt den Patron der Kirche, Hilarius, in einem Konzil
arianischer Bischöfe. Er sitzt am Boden, weil sie ihn nicht am Konzil teilhaben
lassen. Ein Engel setzt ihn wieder in seine Rechte ein, indem er ihn hebt.

Das 4. Jahrhundert

Das Römische Reich

Mit dem 2. Jahrhundert erreichte das Imperium Romanum seine größte Ausdehnung, die im 3. Jahrhundert schon leicht zurückgenommen werden mußte: im Norden bis zum Hadrianswall in Britannien und auf dem Festland bis zu Rhein und Donau (die Limes-Grenze mußte im 3. Jahrhundert zurückgenommen werden). Die Nordgrenze in Britannien war immer wieder durch keltische Einfälle, die auf dem Festland durch Einfälle germanischer Gruppen gefährdet. Permanente Gefährdung bestand auch für die Grenze des Imperium gegenüber dem neupersischen Sassanidenreich in Kleinasien und im Raum des oberen Euphrat und Tigris. Der südliche Mittelmeersaum und das Niltal unterstanden römischer Militärhoheit und Verwaltung, soweit wie sie bewässert, bewohnt und landwirtschaftlich kultiviert waren. Auch hier bestanden Bedrohungen durch Wüstennomaden, die aber weit weniger gefährlich waren als die Einfälle an der Nordgrenze.

Das Mittelmeer verband die einzelnen Provinzen des Römischen Reiches. Der Landhandel lief über das vorzügliche römische Straßennetz und über die schiffbaren Flüsse, der Seehandel über das Mittelmeer, wobei von den geruderten Galeeren nach Möglichkeit Küstenschiffahrt betrieben wurde, die die Verproviantierung erleichterte, wobei die Inseln, die Balearen, Sizilien, Kreta, Rhodos, Zypern und die Inseln der Ägäis, die Funktion von Zwischenstationen hatten. Italien nahm in diesem Gefüge eine geographische Mittelpunktsstellung ein, doch verlor die Stadt Rom zunehmend ihre Hauptstadtposition, da die Kaiser immer häufiger anderweitig residierten, teils weil sie den sozialen Unruhen der Stadt auswichen, teils weil sie als Imperatoren und damit Feldherren die Nähe zu ihren Truppen brauchten, die im übrigen bei den Kaisererhebungen eine wichtige Rolle spielten. Der Senat war seit den Tagen des Augustus eine honorige aber weitgehend unmaßgebliche Einrichtung. Die senatorischen Familien verankerten sich mit umfänglichem Grundbesitz zunehmend in den Provinzen; besonders in Gallien sind sie gut nachgewiesen.

Die römische Herrschaft hatte im östlichen Mittelmeeraum, in Syrien, Palästina und Ägypten die hellenistischen Diadochenreiche abgelöst, doch blieb die Bevölkerung dieser Gebiete auch unter römischer Verwaltung griechischer Sprache und griechisch-hellenistischer Kultur. Wie die Griechen seit den frühen Zeiten der Kolonienbildung den Handel mit Süditalien, Sizilien, Südgallien und der iberischen Ostküste dominiert hatten, blieben sie auch als Glieder des Imperium Romanum im Fernhandel führend. Die ethnische und kulturelle Vielfalt des Römischen Reiches wurde durch das römische Recht, die Verwaltung und das Heer zusammengehalten.

Seit dem Edikt des Kaisers Caracalla (212) waren alle freien Einwohner des Römischen Reiches römische Bürger, gleichviel welcher Sprache und ethnischen Herkunft. Für sie galten die öffentlichen Pflichten, die zivil- und strafrechtlichen Satzungen und die Prozeßverfahren, die in der Frühzeit durch Senatsbeschlüsse grundgelegt und dann durch Kaiseredikte und-konstitutionen ergänzt, verändert, korrigiert wurden. Eine umfängliche Rechtswissenschaft hatte sich entwickelt. Rechtsgelehrte genossen hohes Ansehen. Die Rechtsmaterie war für den Laien so kompliziert, daß sich zur Wahrung von Rechtspositionen Klientelverhältnisse um einflußreiche Männer entwickelt hatten. Initiativen der Kaiser zu einer verbindlichen Kodifizierung der disparaten Rechtssatzungen gab es verschiedentlich, von Konstantin (gestorben 337), von Theodosius II. (438), von Justinian (gestorben 565). Längerfristige Bedeutung gewannen der Codex Theodosianus, weil die Germanen das römische Recht in dieser Form kennen lernten, und der Codex Justinians, weil er bis ins Hochmittelalter die für die Römer Italiens gültige Rechtskodifizierung blieb, nach deren Grundsätzen auch bei den Rechtsgeschäften des Alltags verfahren wurde. Die Sklaven standen außerhalb jeder rechtlichen Sicherung. Sie waren Eigentum ihres Herrn und wurden rechtlich als Sache behandelt. Ihr Status konnte nur vonseiten des Herrn durch Freilassung geändert werden. Sklaven gab es als Haussklaven, als Arbeitssklaven eines Herrn im Transport- und Gewerbebereich und als Landarbeiter auf den Latifundien. War die Freilassung der Haus- und Arbeitssklaven üblicherweise mit einer Geldgabe verbunden, um ihnen die Eigenständigkeit zu ermöglichen (oder sie blieben als Freie weiter in den Diensten des Herrn, der sie dann auch ernährte), sah die Freilassung ländlicher Sklaven deren Ausstattung mit dem peculium vor, das ein bescheidener Haus-, Land- und/oder Viehbesitz sein konnte. Eine Verbesserung des Sklavenstatus setzte seit Kaiser Konstantin ein, wurde von der christlichen Kirche in Maßen gefördert, führte aber keinesfalls zu großen Sklavenbefreiungen. Vielmehr glich sich de facto die Stellung vieler persönlich freier, aber eigentumsloser Kolonen (Pächter) der Stellung der auf den Latifundien arbeitenden Landsklaven an. Beide Gruppen durften den Landbesitz des Herrn im Prinzip nicht ohne dessen Genehmigung verlassen und waren für ihre Ressourcen, für den Absatz ihrer Produkte, für ihre Wirtschaftsweise und für ihre rechtliche Sicherung auf diesen angewiesen.

Die Verwaltung des Römischen Reiches war durch die Kaiser Diokletian (der 305 abdankt) und Konstantin (gestorben 337) reformiert worden. Wie sich im 5. Jahrhundert zeigen sollte, hatten aber nicht die Verwaltungsobereinheiten der Prätorinaerpräfekturen, Diözesen und Provinzen lange Lebensdauer, sondern die lokale Untereinheit der civitas mit ihrem defensor oder comes an der Spitze, dem lokalen Herrn der Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Die spätrömische Verwaltungseinteilung gewann deswegen längerfristige Bedeutung, weil sie von der christlichen Kirche für den Aufbau ihrer Kirchenorganisation übernommen wurde: der Bischof (episcopus) war der mit Disziplinar- und Weihegewalt ausgestattete oberste Geistliche einer civitas, und Synoden zur Entscheidung überlokaler Kirchenrechts- und Disziplinarfragen fanden zunächst auf Provinzebene statt. Dazu gewann allmählich einer der Bischöfe aus den civitates einer (oder mehrerer) Provinz(en) einen höheren Rang und eine übergeordnete Weihegewalt, ohne daß sich in der Frühzeit mit dieser Metropolitanstellung schon der Erzbischofstitel verbunden hätte. Da die hohen Verwaltungspositionen zunehmend in die Hände der lokalen Honoratioren- und Senatorenfamilien gelangten, büßte die Verwaltung Effektivität vor allem gegenüber den großen, landbesitzenden Familien ein.

Das römische Heer war kein Bürgerheer mehr. Seit Etablierung des Prinzipats mit Augustus verlor der Heeresdienst für die jungen Römer seine Bedeutung für den politischen Aufstieg im älteren cursus honorum. Erfolgversprechender als langwierige Abwesenheit in umkämpften Provinzen war für die eigene Macht und Geltung der Aufenthalt in Kaisernähe, also am Kaiserhof. Viele kauften sich von den militärischen Pflichten frei. Zunehmend warben die Kaiser junge Männer von jenseits der Grenzen an, denen mit der Veteranisierung das römische Bürgerrecht geboten wurde. Die sogenannte Barbarisierung des Heeres setzte im 2. Jahrhundert in großem Umfang ein, nicht nur in den unteren Rängen sondern auch in den hohen Positionen. Die größten Anteile stellten die Völker des Kaukasus und die Germanen. Personale Bindungen wurden zunehmend wichtiger als Kommandostrukturen. Da die Alltagsexistenz in den weit gezogenen Grenzsäumen des Reiches allein von Heereskontingenten abhing, wuchs deren Ansehen und politische Bedeutung und verselbständigten sich deren Anführer zu kleinen Kriegsherren. Die Limitan(=Grenz)truppen, um castra (militärisch gesicherte Grenzorte) gruppiert, verbanden sich mit der ansässigen Bevölkerung, erwarben Grundbesitz und verteidigten mit der Grenze Haus und Herd. Für die comitatenses (ursprünglich den Kaiser begleitende - daher der Name - Feldtruppen) wurde mit dem hospitalitas-Gesetz von 398 im Gesamtreich eine Einquartierungsmöglichkeit geschaffen, die ihren "Gastgeber" verpflichtete, ihnen ein Drittel seines Hauses zu überlassen. Vielfach zogen die Kaiser noch selbst an der Spitze ihrer Truppen zu Felde, im übrigen lag der Oberbefehl bei den Heermeistern (für die Reiterei, für die Fußtruppen, für einzelne Provinzen). Die Kosten für Heer und Verteidigung sprengten alle finanziellen Möglichkeiten des Reiches.

Kaiser Diokletian (bis 305) hatte versucht, durch Bindung der freien Bauern an ihren Grundbesitz, durch Verpflichtung von Handwerkersöhnen, den Betrieb des Vaters weiterzuführen, durch Fixierung der Preise das Steueraufkommen zu sichern und die Wirtschaft zu stabilisieren. Geholfen hat dies nicht. Landflucht, Anwachsen der Latifundien, Abbau der wirtschaftlich-sozialen Mittelschichten, Inflation und Geldverschlechterung setzten sich besonders in den westlichen Provinzen fort.

Dies war - in groben Zügen - der Zustand des Römischen Reiches, auf das gegen Ende des 4. Jahrhunderts die verschiedenen germanischen Einwanderungswellen stießen.

Die zahlreichen Probleme hatten seit Kaiser Diokletian wiederholt zur Teilung der kaiserlichen Herrschaft geführt. Dauerhaft wurde die Aufteilung in weströmisches und oströmisches Reich aber erst mit dem Tod des Kaisers Theodosius I. im Jahr 395, d. h. zu einem Zeitpunkt, als die sogenannte Völkerwanderung schon voll im Gange war.

Die Germanen

Für die Herkunft der Bezeichnung gibt es mehrere Erklärungsansätze. Die Römer gebrauchten die Bezeichnung für die Völker östlich des Rheins und nördlich der Donau, bei denen sie gewisse, übereinstimmende Merkmale in Aussehen, Sprache und sozialer Organisation festzustellen glaubten. Unsere Kenntnisse der frühen Zustände bei den Germanen beruhen weitgehend auf römischen Quellen, deren Autoren zu einem erheblichen Teil nicht aus eigener Erfahrung berichten. Tacitus (um 100) z. B. hat seine Germania geschrieben, ohne jemals die Gebiete östlich des Rheins oder nördlich der Donau bereist zu haben. Hinzu kommt, daß man das, was er über die Germanen berichtet, im Licht der Tendenz sehen muß, die seinem Werk zugrunde liegt, und im übrigen die von ihm geschilderten Zustände nicht unbesehen für die Germanen des 4. Jahrhunderts voraussetzen kann. Bei anderen römischen Schriftstellern wie Ammianus Marcellinus (gestorben um 395) ist zwar Zeitzeugenschaft gegeben, aber die Germanen, über die er berichtet (die Alamannen), kennt er nur aus Kriegshandlungen. Die von ihm beobachteten politischen und sozialen Strukturen sind nicht ohne weiteres auf die Alamannen im Friedenszustand zu übertragen. Es fehlen uns "Innenberichte" über die Germanen. Was wir aus ihren sehr viel später erst schriftlich fixierten Sagen über sie erfahren, ist durch Jahrhunderte mündlicher Tradition hindurchgegangen. Archäologische Zeugnisse und Zeugnisse aus dem Sprachgut geben nur punktuelle Aufschlüsse. Es ist diese Quellensituation, die gesicherte Aussagen über den Zustand der Germanen Ende des 4. Jahrhunderts so schwer macht.

Das Problem beginnt schon bei der Verwendung der Begriffe "Völker" oder "Stämme". In den Quellen sind Völkernamen überliefert. Die Kimbern und Teutonen der Zeit um 100 v. Chr., die Cherusker des 1. Jahrhunderts n. Chr. sind in den für sie in der Frühzeit bezeugten Räumen im 4./5. Jahrhundert anderen Völkern gewichen. Ihre Namen gehen unter oder leben nur als gelehrte Relikte weiter. Sind sie untergegangen, weiter gewandert (wohin?), unterworfen oder durch Eroberer überschichtet worden oder haben sie sich mit anderen Gruppierungen zu neuen "Völkern" zusammengeschlossen? Die drei letzten Möglichkeiten sind die wahrscheinlichsten und auch in Einzelfällen ausdrücklich belegt. Das heißt also: die Ende des 4. Jahrhunderts nördlich der Donau und östlich des Rheins bezeugten Gruppen sind nicht genealogisch oder ethnisch geschlossen, sondern historisch geworden, durch Anführer, Kriege, Eroberungen, zeitweise Ansiedlung zusammengefügt. Wie die Anführer ihre Stellung gern durch göttliche Abkunft begründeten, so auch der "Stamm" durch gemeinsame, möglichst überirdische Abstammung. Die Römer bezeichneten sie als "nationes" oder "gentes", was ebenfalls auf die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung hinweist. Tatsächlich aber sind und bleiben diese Gruppen heterogen, nehmen im Lauf von Kriegen und Wanderungen und durch personale Bindungen (Gefolgschaft) immer neue (und andere) Individuen auf. Es handelt sich um nur teilweise stabile Personenverbände. Die moderne Forschung geht nicht von beständigen Ethnien aus, sondern hat fortlaufenden Ethnogenesen erwiesen.

Zusammengehalten werden diese Personenverbände durch gemeinsamen Kult (heilige Orte und Feste), gemeinsame Gebräuche (Kleidung, Hausbau), gemeinsame mündliche Traditionen (Sagen, Rechtspraxis, damit also auch eine "Mehrheits-" bzw. "Verständigungs"sprache), gemeinsame Siedlung, gemeinsame (kriegerische) Aktionen und gemeinsame(n) Anführer. Besonders bei Wanderungen und Kriegen sind Anführer nötig. Diese werden aufgrund ihres Ansehens, ihrer Erfolge, ihres Reichtums, des Umfangs der sie umgebenden bewaffneten Gefolgschaft, ihrer angenommenen Nähe zu den Göttern "gewählt", d. h. durch Akklamation von den "wichtigen Personen", also den freien, Waffen führenden Männern bestimmt, gelegentlich auch in ritueller Form (auf den Schild) erhoben. Die lateinischen Quellen bezeichnen diese Anführer als duces (d. h. Heerführer, Herzöge), (sub)reguli (Kleinkönige), gelegentlich auch als reges (Könige).

Viele Elemente dieses frühen germanischen Königtums werden bis zum 12. Jahrhundert erhalten bleiben. Der König ist in erster Linie (möglichst erfolgreicher) kriegerischer Anführer. Er verdankt seine Stellung dem Ansehen seiner Familie, der Zustimmung ("Wahl") der wichtigsten Männer seines Volkes, in christlicher Zeit einer angenommenen und seit dem 8. Jahrhundert rituell bekräftigten Nähe zu Gott, einer "Erhebung" (Thronsetzung). Aufgabe des Königs ist vor allem die Kriegführung, deren Sinn bis etwa 800 nicht hinterfragt wird, dann auch die Wahrung des Rechts als Gemeinschaftsgut des Stammes oder Volkes.

Die früh bezeugte "Wahl" des Anführers/Königs schließt Erblichkeit des Königtums ("Geblütsrecht") nicht aus. Beide ergänzen sich: gewählt wird, wer durch seine Herkunft Ansehen, gute geerbte Fähigkeiten, Reichtum, eine große Gefolgschaft hat. Da der Anführer/König zunächst nur für den Krieg gewählt wurde und (erfolgreiche) Kriegführung wesentlicher Inhalt von Königtum ist, liegt ein dauernder, erfolgreicher Kriegszustand im Interesse eines solchen "Heerkönigs". Erfolgreiche Kriege bringen neue Siedlungsräume und Beute, können damit die Stellung des ursprünglichen Heerkönigs stärken und verfestigen, seinen Reichtum und den seiner Gefolgsleute mehren und ihm die Möglichkeit geben, seine Gefolgschaft zu vergrößern.

Lebensgrundlage der verschiedenen germanischen Verbände waren Ackerbau und Viehhaltung. Beides legte in klimatisch schlechten Jahren und, was den Ackerbau betrifft, bei Erschöpfung des Bodens, der nur geringfügig bearbeitet und kaum gedüngt wurde, Siedlungsverlagerungen nahe. Der Fleischbedarf wurde zu einem erheblichen Teil durch die Jagd befriedigt. Der Umgang mit Waffen war daher für die Lebenserhaltung notwendig und ist in der Frühzeit wie im Mittelalter Kennzeichen des Freienstatus. Diejenigen, die keine Waffen führen konnten oder durften, Kinder, Frauen, Abhängige, später auch christliche Priester, bedurften des Schutzes eines Waffenfähigen (mundeburdium). Die waffenfähigen Freien sind diejenigen, die den Anführer (König) wählen oder, wenn er versagt, entmachten, über militärische und politische Fragen auf Versammlungen entscheiden, Gericht halten, Krieg führen, an der Beute beteiligt sind. Sie wahren in mündlicher Überlieferung Gebräuche, Recht und historische Tradition des Volkes oder Stammes. In den seit dem 6. Jahrhundert schriftlich fixierten Stammes- oder Volksrechten (Leges Barbarorum) erscheinen sie als rechtlich einheitliche Gruppe, in der sozialen Realität waren sie jedoch zweifellos gegliedert nach Ansehen, Macht und Reichtum. Die Frage, ob es bei den Germanen von Anfang an einen Adel gegeben habe, oder ob dieser erst im Lauf der Wanderbewegung und nach der Ansiedlung in Provinzen des Römischen Reiches entstanden sei, wird heute mit guten Gründen zugunsten der ersten Möglichkeit beantwortet. In den durch Ansehen und Tradition der Familie begründeten geburtsständischen Adel hat es jedoch immer Aufstiegsmöglichkeiten durch besondere Verdienste und durch Nähe zum Anführer gegeben, wie überhaupt das rechtlich-soziale Gefüge nicht stabil war: Abstieg war möglich z. B. durch Kriegsgefangenschaft und damit verbundene Verknechtung oder durch wirtschaftliche Verluste, die dann auch zur Unfähigkeit führen konnten, sich gerichtlich zu behaupten.

Die Volks- oder Stammesrechte differenzieren zwischen Freien, Halbfreien und Sklaven; zwischen Männern und Frauen (also auch freien, halbfreien usw. Frauen); einige bei den Frauen überdies zwischen gebärfähigen und noch nicht oder nicht mehr gebärfähigen. In Relation zum Ansehen und zur Werteinschätzung des jeweiligen Individuums in der Gemeinschaft wird es durch hohe oder weniger hohe Gerichtsbußen in Leben und leiblicher Unversehrtheit mehr oder weniger gut geschützt. Die Halbfreien und Sklaven sind insofern nicht schutzlos. Sie haben einen (Sach)wert für ihren Herrn und in der Gemeinschaft, der jedoch nur durch eben diesen waffen- und gerichtsfähigen freien Herrn realisiert werden kann, und ebenso kann Tötung oder Körperverletzung von Frauen nur durch ihren jeweiligen Muntherrn, Vater, Bruder, Ehemann oder, bei Witwen, auch Sohn geahndet oder gerichtlich verfolgt werden.

Die unterste soziale Einheit ist das Haus mit dem freien, waffen- und gerichtsfähigen Herrn an der Spitze, der Frieden und Recht zwischen den Hausgenossen wahrt, sie nach außen schützt und vertritt. Erst mit der Begründung eines eigenen Hauses (Heirat, Gesinde, Gefolgschaft) tritt ein Freier in die vollen Rechte der Gemeinschaft (Stamm, Volk) ein. Die nächst höhere, aber schon sehr viel lockerere soziale Einheit ist die Sippe, die mehrere Häuser solcher Hausherren umfaßt, die miteinander in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen. Auch sie wahrt Recht und Schutz, indem sie Sippenangehörige, die gegen tradierte Normen verstoßen zur Rechenschaft zieht und solche, die von außen in ihren Rechten und in Unversehrtheit von Leib und Leben angegriffen werden, schützt. Die Sippe verfolgt kriegerisch oder gerichtlich solche Personen, die ihre Sippenangehörigen schädigen, und sie muß im Fall des gewaltsamen Todes eines Sippenangehörigen durch den Schädiger "entschädigt" werden (Wergeld).

Wanderungen solcher, mehr oder weniger umfangreicher germanischer Personenverbände sind, wie das Beispiel der Kimbern und Teutonen zeigt, schon vor der Zeitenwende bezeugt und haben das Imperium Romanum im 2. und 3. Jahrhundert in Atem gehalten. Sie sind durch die beschriebenen sozialen Gegebenheiten und durch Suche nach besserem Siedlungsland bedingt. Die eigentliche Völkerwanderung seit dem letzten Viertel des 4. Jahrhunderts wurde durch die Westwanderung asiatischer Steppenvölker, speziell der Hunnen, ausgelöst, die germanische Gruppen, zuerst die nördlich des Schwarzen Meeres ansässigen Goten, überrannten. Diese wurden teils von den Hunnen besiegt, teils wichen sie vor ihnen aus und erbaten Aufnahme in das Imperium Romanum, mit dem sie seit langem in Nachbarschaft und Austausch lebten, in dem viele von ihnen militärische Dienste getan hatten und das ihnen als reich und relativ sicher galt. Die seit Jahrhunderten andauernde germanische Immigration bekam für das Römische Reich dadurch eine neue Qualität, weil jetzt nicht mehr Einzelne oder kleinere Gefolgschaften sich in römischen Diensten verdingten, sondern ganze Stammesgruppen unter ihren eigenen Anführern einbrachen, unter Wahrung ihrer sozialen Strukturen und Gebräuche aufgenommen werden wollten und dies nicht, weil sie im römischen Heer dienen wollten, sondern weil sie für ihre Häuser, Sippen und Gefolgschaften Siedlungsland und Schutz suchten.

Die ersten, die, vor dem Hunnensturm ausweichend, über die Donau in deren Unterlauf ins Römische Reich einbrachen, waren im Jahr 376 Westgoten. Sie erreichten mit den Römern eine Lösung, die jedoch baldigen Konflikten nicht gewachsen war. Nach einer verheerenden römischen Niederlage (378) handelten die westgotischen Anführer schließlich mit dem römischen Kaiser Theodosius und seinen Beauftragten im Jahr 382 einen Vertrag aus, durch den den Westgoten als Foederati (Vertragspartnern) die Ansiedlung in der weitgehend entvölkerten römischen Provinz Moesien südlich der Donaumündung gestattet wurde unter Beibehaltung ihrer sozialen Einheiten und ihres Rechts. Sie bildeten eine rechtlich und militärisch autonome Einheit innerhalb des Imperium Romanum, konnten ihre Anführer weiterhin selbst bestimmen ("wählen") und waren dem Römischen Reich nur insofern zugeordnet, als sie dessen Verteidigung an der Grenze des ihnen überlassenen Siedlungsraumes, also Moesien, übernahmen. Dafür erhielten sie überdies noch Geldleistungen.

Das hier grundgelegte Foederatenverhältnis sollte das Muster für alle späteren germanischen Ansiedlungen auf dem Boden des Römischen Reiches bilden, soweit sie nicht durch einfache Eroberung erfolgten. Die römischen Kaiser wählten zur Lösung des Problems den Weg vertraglicher Einbindung größerer Germanenverbände als rechtlicher und militärischer Sondereinheiten, die nicht der römischen Verwaltung und den römischen Heerführern unterstellt wurden, sondern mit dem Römischen Reich eben nur "föderiert" waren. Siedlungsraum wurde durch die Römer verteilt. Konflikte zwischen (römischen) Altsiedlern und (germanischen) Neusiedlern wurden im Ernstfall durch die waffenführenden Germanen entschieden. Andererseits beließen diese noch funktionierende Verwaltungs- und Rechtsstrukturen, die sie nicht tangierten, und lernten deren Vorzüge (und Schriftlichkeit) zu schätzen. Besonders was Heerwesen und Recht anging, mußte sich das Römische Reich längerfristig infolge dieser Foederatenansiedlungen grundlegend verändern.

Christentum und christliche Kirchen

Im spätrömischen Reich gab es eine Vielzahl von Glaubensgemeinschaften, Anhänger des antiken Götterglaubens, verschiedener orientalischer Kulte, verschiedener philosophischer Richtungen, Juden und Christen. Die christlichen Kirchen waren seit der Zeit Kaiser Konstantins im Aufwind, aber das frühe Christentum war in Lehrmeinungen gespalten, die um das Verständnis der Trinität aufbrachen. Für die historische Entwicklung wurde vor allem die Lehre des Arius (gestorben 336), Priester im ägyptischen Alexandria, wichtig, der die Wesensgleichheit der zweiten göttlichen Person (Christus, Sohn Gottes) mit der ersten (Gottvater) bestritten und den Sohn dem Vater untergeordnet hatte. Dies hatte Auswirkungen auf Verkündigung und Kultus. Zwar war die Lehre des Arius auf dem von Kaiser Konstantin 325 nach Nikaea (Kleinasien) einberufenen Konzil verurteilt worden, doch sollte es bis zum Ende des 4. Jahrhunderts dauern, ehe sie aus den Kirchen des römischen Reiches ganz verdrängt wurde. Gravierender war, daß die Goten als erste Germanen das Christentum in arianischer Form kennen lernten und aufnahmen, und der Arianismus von dort aus auch die anderen Ostgermanen (Vandalen, Sueben, Burgunder, Teile der Langobarden) erreichte. Der Gotenbischof (W)Ulfila, der Teile der Bibel übersetzte, war Arianer. Die Einwanderung von Goten, Sueben, Burgundern, Vandalen in Teile des Römischen Reiches hatte nicht nur das Nebeneinanderbestehen von Romanen und Germanen in zwei unterschiedlichen Rechtskreisen und in unterschiedlichen kulturellen Traditionen, sondern auch in zwei sich bekämpfenden christlichen Glaubensgemeinschaften zur Folge.

Die christliche Kirche innerhalb des Römischen Reiches hatte den Aufbau ihrer Organisation an der Verwaltungsstruktur des Römischen Reiches, civitates und Provinzen, orientiert. Mit Durchsetzung der Weihe seit dem 2. Jahrhundert und Ausformung der Weihegrade für die Ausübung pastoraler und lehrender Funktionen in den Gemeinden etablierte sich eine kirchliche Hierarchie. Unter den Bischöfen und den Metropoliten waren diejenigen (als Patriarchate) besonders angesehen, deren Sitze eine besondere historische Nähe zum biblischen Geschehen oder zur Tätigkeit der Apostel aufwiesen: Jerusalem, Antiochia, Alexandrien, Karthago, Konstantinopel und vor allem Rom. In den dogmatischen Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts litt das Ansehen von Alexandrien und Antiochia. Karthago verlor seine Bedeutung in der Zeit der Vandalenherrschaft (5. Jahrhundert), Jerusalem nach der arabischen Eroberung (7. Jahrhundert). Rom und Konstantinopel bewahrten ihren Vorrang auch aufgrund ihrer Tradition als Kaiserstädte. Rom war zwar faktisch nicht mehr Kaiserresidenz, berief sich aber umso stärker auf die sogenannte doppelte apostolische Tradition (Petrus und Paulus hatten hier gewirkt). Dagegen etablierte sich Konstantinopel seit Konstantin als Kaiserresidenz.

Kultische Formen waren in der Entwicklung und keineswegs einheitlich. Es gab auch noch keine vorrangige Kultsprache. Kultstätten waren zunächst Privathäuser, an deren Bau sich auch die frühen Kirchen als Gemeindeversammlungshäuser orientierten. Fragen der kirchlichen Organisation, kirchlichen Disziplin und des kirchlichen Rechts wurden bei geringerer Bedeutung durch den kirchlichen Oberen, den Bischof, entschieden, bei übergreifenden und schwierigeren Problemen durch Synoden (kirchliche Versammlungen). Aus solchen Synodalbeschlüssen begann sich das Kirchenrecht zu entwickeln, das in der westlichen (lateinischen) Kirche erst im 12. Jahrhundert zu einer verbindlichen Form gelangte.

Es waren die Dogmenstreitigkeiten des 4. bis 6. Jahrhunderts, die die Versammlungen der gesamten christlichen Oekumene, die Konzilien, nötig machten. Da die christliche Oekumene in dieser frühen Zeit noch nicht wesentlich über die Grenzen des Römischen Reiches hinaus reichte, wurden die ersten oekumenischen Konzilien durch die Kaiser einberufen und standen unter ihrer Obhut. Die nunmehr christlichen römischen Kaiser übten gegenüber den christlichen Kirchen in ähnlicher Weise Schutz und Überwachung, wie es der "heidnische" römische Kaiser als Pontifex maximus gegenüber dem römischen Kultus getan hatte. Nikaea im Jahr 325 war das erste der oekumenischen Konzilien, das zweite oekumenische Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 formulierte in Auseinandersetzung mit dem Arianismus die Wesensgleichheit der beiden ersten göttlichen Personen in der Form, die für die christliche Kirche verbindlich blieb.

Einerseits festigte sich seit dem 2. Jahrhundert in den christlichen Gemeinden, die sich am frühesten in den Städten konstituierten (Adressaten der Paulus-Briefe: Römer, Korinther, Epheser, Galater!), die Zweiteilung in christliche Laien und geweihte kirchliche Amtsträger mit pastoralen und lehrenden Funktionen, wobei die Diakonie, die Armenpflege, noch am längsten eine Mitwirkung von Laien zuließ. Andererseits wählten einzelne Laien oder Laiengruppen seit etwa 300 besondere Formen frommer Lebensführung und zogen sich von den Pflichten und Freuden der Welt zum Zweck des Gebets und größerer Gottnähe auch durch räumliche Isolierung zurück. Das berühmteste Beispiel des 4. Jahrhunderts ist der ägyptische Einsiedler Antonios (gestorben 356). Da Sexualität (auch in der Ehe) schon Paulus aus jüdischer Tradition als die geringer geachtete Lebensform gegenüber dem zölibatären Leben galt, war sexuelle Askese eine Grundform dieser frommen Lebensführung Einzelner (Eremiten) oder (zönobitischer) Gemeinschaften. Es gab jeweils gesonderte zönobitische Gemeinschaften von Männern und solche von Frauen (Witwen, Jungfrauen). Wenn die asketischen Ideale nicht von dem Einzelnen allein, sondern in der Gemeinschaft realisiert werden sollten, bedurfte es, so zeigte sich bald, eines gewissen Regelkanons. Zunächst entwickelte jede Gemeinschaft ihre eigenen Regeln. Für das östliche Christentum gewann die Schrift "Asketikon" des Basileios von Kaisareia (Metropolit seit 370) prägende Bedeutung, ohne eigentlich eine Regel zu sein.

Von Anfang an mußte die Versorgung solcher Gemeinschaften, die sich ja bewußt von der Welt lösten, entweder durch vorhandenes Eigenvermögen oder durch Fürsorge vonseiten der Gemeinde gewährleistet werden. Dies bedeutete, daß die beabsichtigte Lösung von der Welt nur bedingt realisiert werden konnte bzw. daß Armut zwar für den Einzelnen, nicht aber für die Gemeinschaft möglich war.


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