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Kuratorium für den Journalistenpreis
der deutschen Zeitungen
THEODOR-WOLFF-PREIS


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Prämierter Text

Lob der Provinz

Von Heribert Prantl

 

Das Märchen heißt: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Es handelt von einem Burschen, der vermeintlich nur zu wenigem taugt, aber schließlich doch König, Königstochter und Königreich für sich gewinnt. Der Bursche ist groß gewachsen, aber kein junger Herkules, und er ist auch keiner, den man, weil es um einen Sohn kleiner Leute geht, blitzgescheit nennen könnte. Manche sagen sogar abfällig, er habe ein Brett vor dem Kopf. Aber: Er ist furchtlos wie kein anderer, und seine herzhafte Ungeniertheit sucht weit und breit ihresgleichen. Andere, nicht ganz so couragiert wie er, werden Leiter des örtlichen Fanfarenzuges. Er aber zieht hinaus in die Welt. Viel lieber lässt er sich mit Tod und Teufel ein als mit dem Alltag - und geht mit ihnen um wie mit Requisiten aus Holz und Pappmaché. Mit einer Tatkraft, die fast schon etwas Stumpfes hat, übersteht er jede Gefahr. Später, der Furchtlose ist älter geworden, nennt man seine stoische Unerschütterlichkeit "Aussitzen".

Es ist nämlich so: Dort, wo das alte Märchen von dem, der das Fürchten lernen wollte, mit dem Gewinn des Königreiches endet, genau dort geht die Geschichte des Helmut Kohl erst richtig los - weil er mehr kann als der Held des Märchens, dem nie einer hilft, der immer mutterseelenallein ist: Helmut Kohl, aus kleinen Verhältnissen stammend, kann sich Freunde machen. Die Gescheiten, die Wohlhabenden, die Arrivierten, alle, die mit dem Silberlöffel im Mund geboren sind - er sticht sie nicht nur aus, er zieht sie auch in seinen Bann. Sie mögen und sie fürchten ihn. Kohl hat nämlich ein entwaffnendes Talent, stärker als Gelehrsamkeit, geschliffenes Auftreten und geschliffene Rede: Er kann für sich begeistern, und er hat Erfolg. Er hat aber auch die furchtbare Gabe, seine Freunde zu opfern, wenn sie nicht so wollen, wie er will, wenn sie sich seinem totalen Zugriff entziehen; der Letzte, der das spüren musste, war Wolfgang Schäuble.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Die Altvorderen in seiner Heimat lehrten es ihn nicht; er lehrte es sie. Er war der Schrecken der alten Garde, der mit wohl überlegten Attacken die alten Herren mürbe machte. Und auch später gelang es keinem, ihm das Gruseln beizubringen: seinem CDU-Konkurrenten Rainer Barzel nicht, dem Männerfreund Franz Josef Strauß nicht, nicht seinem klugen und gerissenen Generalsekretär Heiner Geißler, nicht den Journalisten und nicht dem Medium Fernsehen - auch wenn es für Kohl immer eine feindselige Macht blieb. Vom aufgeklärten und alternativen Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre ließ Kohl sich nicht erschrecken, und er bestrafte diesen Zeitgeist schlicht dadurch, dass er ihn überlebte. Von Gesetz und Verfassung ließ er sich schon gar nicht einschüchtern: Entweder er achtete, wie bei seinem Finanzgebaren, gar nicht darauf, oder er rief, wenn es, wie in der Asyldebatte, eng wurde, den "Staatsnotstand" aus.

Kohl, der Furchtlose: Als ihm dann in den Jahren 1989 ff. die Weltgeschichte begegnete, begrüßte er sie so jovial und ausgekocht, wie der Brandner-Kasper den Tod; in diesem Volksstück, das auf allen bayerischen Bühnen gern gespielt wird, macht der Brandner-Kasper den Gevatter Tod betrunken und luchst ihm so das Weiterleben ab. Der Pfälzer Kohl hat besser als der Bayer Strauß verstanden, wie man das macht. Und so ähnlich wie in diesem Theaterspiel "Der Brandner-Kasper schaut ins Paradies" war es denn auch, als Helmut Kohl den Staatsmännern der Welt die Zustimmung zur deutschen Einheit abtrotzte. Wie heißt es so schön im alten Bauernsprichwort über einen wie Kohl: Wem das Glück wohl will, dem kälbert der Ochs.

Provinziell muss die Welt werden, dann wird sie menschlich: Der Schriftsteller Oskar Maria Graf hat das geschrieben, und der Politiker Helmut Kohl hat das gelebt. Provinz: Wem dazu nichts anderes als der Saumagen einfällt, Kohls Lieblingsspeise, der hat keine Ahnung. Und wer nur an die Feste und Trinkgelage denkt, die der Ministerpräsident Kohl zu Mainz gegeben hat, der weiß nicht, dass diese Weinabende eine pfälzische Form des assessment centers waren: Kohl gab den Ton an, diktierte seinen Gästen und Mitzechern ihre Rollen im weinseligen Spiel, ließ sie schon einmal auf dem Tisch tanzen ("mach de Aff", wie er es dem Bernhard Vogel befahl) - und die ließen sich das von ihrem Impresario auch gefallen, weil er sie dann zu Ministern oder Ähnlichem kürte.

In der Tat: Kohl ist provinziell. Wer freilich Provinz gleichsetzt mit Dummsdorf, ist selbst provinzlerisch. Provinz ist ein gutes Wort: Provinz ist, wo Zusammenhänge überschaubar sind. Provinz ist der Raum der übersichtlichen Lebenseinheiten, der Raum, in dem die Menschen sich kennen. Provinz ist auch die Überschaubarkeit der Machtverhältnisse. In einer Zeit der Globalisierung, in der sich der Eindruck verfestigt, dass die Macht immer weniger greifbar, also heimatlos ist, wahrte Kohl den schönen Schein der alten Machtordnung.

Kirchturmpolitik - wer das abschätzig sagt, meint, dass der Politiker, der sie macht, einen begrenzten und beschränkten Horizont hat. Kirchturmpolitik ist etwas ganz anderes: Man steigt auf den höchsten Punkt seiner Heimat und trifft Entscheidungen, deren Auswirkungen man übersehen kann. Deshalb sagt Kohl so gerne, wenn er seine Politik erklärt: "Sehen Sie, die Sache ist doch ganz einfach." Wo immer er den Fuß aufsetzt, er spürt die Sicherheit heimatlichen Bodens. Das war zwar bisweilen eine Täuschung, aber Kohl hat es dann gar nicht gemerkt. Mit dieser Sicherheit ist es ihm jedenfalls gelungen, aus seiner Vision von Europa ein Fundament für die Europäische Union zu machen. Es war, ist und bleibt seine größte Leistung.

Helmut Kohl hat seine Mitstreiter und die Staatsmänner der Welt so kennen gelernt, wie man in der Provinz Menschen eben kennen lernt: Man fragt sie aus. Man fragt sie nach Herkommen, Elternhaus, man sucht nach Gemeinsamkeiten. So hat Kohl es mit Mitterrand gemacht, mit Gorbatschow, Reagan, Bush und Clinton. "Und dann haben wir geredet", sagt Kohl, "wie halt normale Leute miteinander reden." Es war, sagt er, "der Beginn von Freundschaften". Es gibt schlechtere Arten, Politik zu machen. Und deshalb fragt er auch den Journalisten, mit dem er sich länger als eine halbe Stunde unterhalten will, erst einmal: "Sagen Sie, wo kommen Sie eigentlich her?" Kohl sucht und findet, das gehört zu seinen politischen Erfolgsrezepten, die Provinz des Menschen.

Worüber hat er mit dem SED-Chef Erich Honecker geredet, als der ihm zum ersten Mal in Moskau begegnet ist? "Er war ja praktisch Nachbar von der Pfalz, wir haben einen Haufen gemeinsamer Bekannter." Nachbar? Honecker war vor 1935 führender Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes in Südwestdeutschland. Also hat Kohl mit ihm über die Leute geredet, die Honecker noch von damals kannte und die dann später in der Pfalz Pfarrer geworden sind. Und dann hat Kohl dem seinerzeitigen SED-Chef vorgeschlagen: "Wenn wir miteinander mal pfälzisch reden würden, könnten die beim Abhören uns nicht verstehen." Provinz schafft halt Verbindungen - auch dort, wo man es nicht für möglich hält. Papst Johannes Paul küsst die Erde der Länder, in die er reist. Helmut Kohl hat sozusagen die pfälzische Erde in alle Länder mitgenommen, in die er gereist ist.

Provinz ist Geborgenheit in vertrauten Formen und vertrauten Regeln. Die Bauern entnehmen die Regeln dem Bauernkalender. Und der Landarzt tröstet seine Patienten mit dem Satz: "Hab' ich auch schon gehabt!" - was bedeutet, dass die Krankheit so schlimm nicht sein kann. Von dieser Art sind auch die politischen Lebensweisheiten des Helmut Kohl. Provinz bewahrt Geschichte nicht im Museum, sondern in Geschichten. Aus diesen Geschichten hat Kohl Geschichte gemacht, aus Geschichten wie dieser: "Ich habe einmal eine Rede in Metz gehalten. Da sagte mir der dortige Oberbürgermeister, wie ich Jahrgang 1930, dass er in Erinnerung hat, wie man in Metz vom Gehsteig runtergehen musste, wenn ein deutscher Offizier kam. Das war im Jahr 1943. Und dann hatte ich ihm gesagt, ich habe eine Erinnerung an 1945 in meiner Heimatstadt, wo es dann umgekehrt war. Wir mussten vom Gehsteig runter, wenn ein französischer Offizier kam. Die beiden Städte liegen gerade 200 Kilometer auseinander."

Das sind die Erlebnisse, die Helmut Kohls Europapolitik geformt haben. Diese Politik war so lebendig, wie es auch Kohls Erinnerungen sind: "Ich habe den Krieg mit all seinen Schrecken und seinem Grauen erlebt und dann als Fünfzehnjähriger das Kriegsende. Alle Erfahrungen dieser Zeit haben mein weiteres Leben tief geprägt." Es sind dies Sätze, die wie Formeln und Phrasen klingen, es aber nicht sind: "Mir wurde vor allem klar, dass die Zeit der Kriege in Europa beendet werden muss, dass wir eine politische Ordnung schaffen müssen, die das friedliche Zusammenleben dauerhaft sichert." Konrad Adenauer hat auch so holzgeschnitzt formuliert. Aber in dieser Simplizität steckt die Kraft zu einer furiosen und grandiosen Europapolitik.

Die kleine Welt wird zum Muster und zur Vorlage für die große: Wenn er in Rheinland-Pfalz, in einem Land, nach dem Krieg zusammengestückelt aus verschiedenen Provinzen, eine Gebiets- und Verwaltungsreform durchsetzen konnte - dann klappt das, davon ist Kohl überzeugt, auch mit Europa. Damals hat er es fertig bekommen, mit aufgebrachten Bürgerinnen und Bürgern so lange zu diskutieren, bis sie sich der höheren Einsicht oder seiner Überredungskunst beugten. Und genau so muss man, sagt er, für Europa werben. Wer, so fragt er, erinnert sich heute noch daran, wie vor ein paar Jahrzehnten in Südtirol Strommasten gesprengt und Seilbahnen angesägt wurden? Die wunderbare Befriedung Südtirols ist ihm Beispiel dafür, wie man ein friedliches Europa schaffen kann.

"Hildegard, stell dir vor, der Helmut geht nach Bonn. Der spinnt doch." Kohls Vater, Finanzbeamter a. D., Oberleutnant bei der berittenen Artillerie im Ersten Weltkrieg und aus bäuerlichen Verhältnissen stammend, war gar nicht einverstanden, als sein Sohn, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, sich entschloss, in die Bundespolitik zu wechseln; und Kohls Schwester Hildegard hatte auch ihre großen Zweifel: Er hatte es doch so schön in Mainz! Dass Helmut Kohl das kurfürstliche Amtieren zu Mainz mit einem Büro im Bonner Bundeshaus vertauschte, war die mutigste Entscheidung seiner politischen Karriere.

Diese Courage hat sein Männerfreund Franz Josef Strauß, der hinter einer abwechselnd intellektuell-hochgestochenen und dann wieder polternden Kraftmeierei seine eher zaudernde Natur versteckte, immer unterschätzt. Der berühmteste Beleg dafür ist die Rede, die Strauß vor dem Landesausschuss der Jungen Union Bayern in der Münchner "Wienerwald"-Zentrale gehalten hat: "Kohl wird nie Kanzler werden. Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen und geistigen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür." Da verkannte einer, der so gern die Kraft der Provinz spielte, was die Kraft der Provinz wirklich ist.

Helmut Kohl hat sie gezeigt. Er hatte die äußerste Form von Mut, die einer braucht, der auf einem hohen Turm stehen und zehntausend Menschen erklären will, dass zwei mal zwei vier ist. Helmut Kohl wurde dafür mit Hohn und Spott überschüttet. Für das geistige Deutschland war er die Verkörperung der Geistlosigkeit. Man wollte ihm nicht verzeihen, dass "so einer" Kanzler geworden war, einer, der auch nicht im Entferntesten so aussah wie Helmut Schmidt und dem die Kritische Theorie so fremd war wie der Andromeda-Nebel. Man betrachtete Kohl als bloßen Profiteur der Regierungsunfähigkeit der SPD, als kleinbürgerlichen Usurpator, durch ein Versehen der Geschichte an die Macht gekommen. Fritz J. Raddatz beschrieb ihn als einen, "der selbstgewiss ist, aber nicht reflektiert, der sich seiner sicher dünkt, aber unsicher denkt".

Provinz - mit diesem Wort setzte man sich ab von ihm, in dieses Wort legte man den eigenen Dünkel, zeigte seine Überlegenheit. Doch der belächelte Kanzler, "die Birne", wie man ihn nannte, blamierte sie alle durch seinen Erfolg. Wo Helmut Schmidt sich mit "Krisenmanagement" gebrüstet hatte, weigerte er sich, überhaupt von Krisen zu reden - und so überstand er sie auch. Auch als Kohl einigen Erfolg hatte, wollte das Publikum diesen nicht als Kohls Erfolg würdigen. Seine Sympathiewerte blieben hinter denen für seine Partei weit zurück, und das war während der ganzen ersten Hälfte seiner Kanzlerschaft so.

Das Publikum fand zunächst das, was man an Kohl vermisste, bei Richard von Weizsäcker, dem Bundespräsidenten: Er war, vom Herkommen und vom Habitus, von Attitüde und Artikulation, der Gegentyp zu Helmut Kohl, nicht Provinz, sondern Weltmann und Weltgeist. Als Weizsäcker der "Politikerschicht" insgesamt vorwarf, sie erliege einer "Machtversessenheit in Bezug auf Wahlkampferfolge", und seine Politikerkollegen attackierte als Generalisten mit dem Spezialwissen, den politischen Gegner fertig zu machen - da wusste jeder, dass er damit vor allem Helmut Kohl meinte.

Weizsäckers Glanz begann freilich zu verblassen, als Helmut Kohl bei der deutschen Einheit für alle sichtbar, von allen anerkannt, auch von denen, die ihn früher verspottet hatten, in die Rolle des Weltpolitikers hineinwuchs. Als Kohl von der Geschichte zum Präsidentenkanzler geadelt wurde, waren Amtszeit und historische Mission Weizsäckers zu Ende. Nicht der Weltgeist hatte Weltgeschichte gemacht, sondern der Provinzler - auch deshalb, weil die Welt vor ihm keine Angst hatte; Angst, die sie vor einem Helmut-Schmidt-Deutschen wahrscheinlich gehabt hätte. Kohl stieg jetzt auf den hohen Sockel - von dem aus aber, wie sich zeigte und wie schon der Schriftsteller Robert Musil wusste, sich Alltags-Politik schwer machen lässt: "Auch Denkmäler sollten sich, wie wir alle es tun müssen, etwas mehr anstrengen. Ruhig am Wege stehen und sich Blicke schenken lassen, das kann jeder; wir dürfen aber von einem Monument mehr erwarten." Kohl hatte nicht mehr viel Verständnis und kaum noch Gefühl für die sozialen Sorgen der Menschen. Er vergaß die Provinz, er vergaß, dass zu ihr die Anteilnahme, das Sich-Kümmern gehört. Klagen waren für ihn nur noch Genörgel und Gejammer einer zu satten Bevölkerung, die nicht mehr merkt, dass sie in einem Paradies lebt.

Helmut Kohl, schon in der Ruhmeshalle Walhalla, nahm nicht mehr zur Kenntnis, dass es hier zu Lande immer mehr Menschen gibt, denen es gar nicht paradiesisch geht. Am Ende seiner fünften Amtszeit stand Kohl daher innenpolitisch schlechter da als jemals zuvor: Das Bündnis für Arbeit war gescheitert, aus Sozialpartnern waren Feinde geworden. Deutschland war in Europa integriert, die Aufgaben der gesellschaftlichen Integration in Deutschland aber blieben ungelöst, die Einwanderer in Deutschland Fremde in der neuen Heimat. Kohl redete zwar von Wachstum, aber es wuchs nur noch die Zahl der Arbeitslosen, auf mehr als fünf Millionen, es wuchs das Unbehagen in der Bevölkerung und das Gefühl, von einem entrückten Kanzler regiert zu werden.

Regiert? Der Kanzler ließ die Dinge treiben. Seine CDU war ausgebrannt, der Vorsitzende Kohl selbst hatte ihr Feuer erstickt. Nach wie vor war er furchtlos. Doch diese Gabe beruhigte die CDU nicht mehr, sondern machte ihr Angst: Erschüttert sah sie Kohls Unerschütterlichkeit. "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik." So steht es im Grundgesetz, aber so war das nicht mehr, es gab keine Innenpolitik mehr, sondern nur Untätigkeit. Die Auftritte Kohls im Bundestag wurden zum Introitus einer Tragödie mit dem Titel: Wie ein großer Kanzler, den Blick in den europäischen Himmel gerichtet, in den Abgrund stürzt.

Wenn ein neu gewählter Papst die Peterskirche betritt, verbrennt der Zeremonienmeister dreimal ein Büschel Werg, das an einem Stab befestigt ist, und ruft dazu aus: "Pater sancte, sic transit gloria mundi - Heiliger Vater, so vergeht der Ruhm der Welt." Es ist eine Mahnung, die nicht nur für den Papst gilt. Für den Bundeskanzler Kohl hätten auf dem Weg zu jeder Regierungserklärung einer neuen Amtszeit nicht drei, sondern neun Büschel Werg verbrannt werden müssen.

So vergeht der Ruhm der Welt: Der Einheitskanzler, der Vater der Europäischen Währungsunion, versuchte ein Jahr nach seiner Abwahl, wenigstens mit einem Zipfel vom Mantel der Geschichte seine Blöße zu bedecken. Man hört die Ausflüchte, seine Notlügen: Kohl, Kanther & Co haben Recht und Ordnung gepredigt, aber selbst Bilanzen gefälscht. Hier zeigt sich die andere Seite der Provinz: kumpelhafte Mauschelei, Usancen des Eine-Hand-wäscht-die-andere.

Die öffentliche Besichtigung dieser Schwächen in den Monaten des Finanzskandals holt den Mann, der dem Alltag entrückt war, wieder dorthin zurück. Die Aufdeckung und Aufklärung dieses Skandals ist auch so eine Art zeitliche Sündenstrafe für die Selbstüberhebung eines Mächtigen bei der Ausübung der Macht. Und die Aufdeckung und Aufklärung des Skandals war und ist auch ein Volksfest der Demokratie. Kohl hat zu seinem 70. Geburtstag der deutschen Demokratie einen Skandal geschenkt, an dem sie ihre Kräfte - volkstümlich und erfolgreich - erproben konnte.

Als Helmut Kohl nach 16 Kanzlerjahren abgewählt wurde, blieb er gelassen. Ohne Bitterkeit nahm er wieder auf dem Abgeordnetenstuhl Platz. Auch die große Niederlage, so schien es, konnte ihn nicht erschrecken. Man erinnert sich an das Ende des Märchens von dem, der auszog, das Gruseln zu lernen: Am Schluss, als alle Gefahren bestanden waren, ruhte der Held sich aus. Da schüttete man ihm dann einen Eimer mit Gründlingen und Elritzen, mit kleinen, glitschigen Fischen also, ins Bett. Da schnapperte der Furchtlose, und er bekam eine Gänsehaut: "Endlich nun", so sprach er zu seiner Frau, "kann ich das Gruseln auch."

Es ist dies ein merkwürdiger Schluss eines merkwürdigen Märchens. Das Gruseln dort ist nämlich kein richtiges Gruseln, es bleibt ein Reiz an der Oberfläche. So ähnlich ist es mit der Schuldeinsicht Kohls: Er lässt die Kritik an sich ablaufen. Er, der im Strom der Geschichte stand, hält das, was man ihm vorwirft, tatsächlich für kleine Fische. Das gehört zur stoischen Hybris des Mannes, der auszog, das Fürchten zu lernen. Er hat zu viel Glück gehabt, um noch zu erkennen, was er auch angerichtet hat.

Süddeutsche Zeitung

Nr. 77 vom 1./2. April 2000

Bewertung der Jury

Heribert Prantl erhält den Journalistenpreis der deutschen Zeitungen - Theodor-Wolff-Preis 2001 in der Kategorie "Essay" für den Beitrag "Lob der Provinz", erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 1./2. April 2000.

Friedrich Dürrenmatt hat einmal geschrieben, dem modernen Menschen könne man nur mit der Komödie beikommen. Vermutlich gilt Vergleichbares für das Märchen: Heribert Prantl, einem ehemaligen Staatsanwalt, ist es gelungen, die Robe des journalistischen Anklägers in diesem Beitrag abzulegen und Helmut Kohl mit Bildern aus der Märchenwelt gerecht zu werden. Damit kommt er der Wirklichkeit dieses im doppelten Sinn des Wortes großen Mannes sehr nahe. Prantl bestätigt gerade wegen seiner stetigen Verfolgung der Fehler von Politikern, dass kritischer Journalismus nur dann wirklich kritisch ist, wenn er im Sinn des Begriffs unterscheidet und in einem Albumblatt zum 70. Geburtstag Helmut Kohls ein differenzierendes "Lob der Provinz" ausspricht und damit Vorurteile widerlegt.

Kurzbiographie

Gezeichnet: pra

 

Geboren am 30. Juli 1953 in Nittenau/Oberpfalz.

Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte und anschließender Promotion folgt eine journalistische Ausbildung u. a. beim Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses, München. Danach als Richter an bayerischen Amts- und Landgerichten sowie als Staatsanwalt tätig.

1988 Eintritt in die Redaktion der Süddeutschen Zeitung, München, als innenpolitischer Redakteur mit Schwerpunkt Rechtspolitik; ab 1992 stellvertretender Ressortleiter Innenpolitik; seit 1995 Ressortleiter Innenpolitik.

1989 ausgezeichnet mit dem Leitartikelpreis der Pressestiftung Der Tagesspiegel in Berlin; 1992 Pressepreis des deutschen Anwaltsvereins; 1994 Geschwister-Scholl-Literaturpreis der Stadt München; 1996 Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik; 1998 Siebenpfeiffer-Preis.

Heribert Prantl hat mehrere Bücher veröffentlicht; u. a. 1999 eine erste Bilanz über das rot-grüne Regierungsbündnis (bei Hoffmann und Campe) sowie mit Hans Leyendecker und Michael Stiller eine Biografie über "Helmut Kohl - Geld und Macht", 2000 erschienen im Steidl Verlag.

   





 
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