KIRSCHROTER ALB MIT ZAHLEN


Dreihundertvierundzwanzig, dreihundertfünfundzwanzig, dreihundert...

Ich muss sie alle zusammenzählen, muss sie multiplizieren, sie verrechnen, in den Taschenrechner tippen, auf der Festplatte speichern und gegebenenfalls per Post verschicken.

Ich muss Ordnung in sie bringen und habe nicht viel Zeit.

Die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen, mischen sich zu einer trüben Brühe, verklumpen, verlieren ihre Form.

Dreihunderteinundvierzig, vierhundertfünfundsechzig, Zehn...

Da ist sie! Sie trägt kirschrote Ledersandalen, ein pfirsichrotes Sommerkleid, hat erdbeerfarbene Lippen – sie ist der Sommer selbst. Ihre Schritte sind leicht, so leicht, dass ihre Füße den Boden nicht einmal berühren.

Mein Herz bleibt stehen, als sie näher kommt. Zum ersten Mal im Leben kommt sie direkt auf mich zu! Schweiß perlt auf meiner Stirn, eine Strähne hat sich aus ihrem Zopf gelöst. Ihr Lächeln erlischt drei Schritte von mir entfernt und mein Herzschlag setzt wieder ein.

„Dreihundertundsechsundzwanzig“, sagt sie und ihre großen braunen Augen schauen mir traurig ins Gesicht. Was...?, will ich fragen, aber es kommt kein Wort über meine Lippen.

„Ich bin die Nummer Dreihundertundsechsundzwanzig.“

Ihre Stimme ist leise und sie geht an mir vorbei. Ich habe ihre Stimme noch nie gehört.

Nein, du bist meine Nummer Eins, will ich ihr nachrufen, schweige aber.

Sie bleibt kurz stehen, hält sich am Brückengeländer fest.

Nein, versuche ich zu sagen, Du bist überhaupt keine Nummer. Du bist keine Zahl, die verrechnet, multipliziert und gespeichert wird!

Sie hört mich nicht, streicht sich die lose Strähne aus dem Gesicht, weit über das Geländer beugt sie sich, schaut ins Wasser hinunter. Meine Augen folgen ihrem Blick, im Wasser schwimmen Zahlen. Dort treibt die Nummer Zweihundertachtundsiebzig, die eben gezählte Dreihundertundzwanzig, die Zwei liegt am Grund des Flusses.

Ihr Kleid wird vom Wind hin- und hergeweht, als sie auf das Geländer steigt.

Nein, denke ich und stehe auf, ganz langsam. Meine Beine sind schwer, ich will rennen, aber mein Rücken schmerzt. Mühevoll setze ich einen Schritt vor den anderen, strecke den Arm nach ihr aus, aber sie dreht sich nicht zu mir um. Ich komme nur langsam näher, sie hat beide Arme ausgestreckt, balanciert auf dem Brückengeländer wie eine Seiltänzerin im Zirkus. Es stürmt, viele Zahlen fallen ins Wasser, werden einfach von der Brücke geweht. Mein Chef hält seinen Hut mit der linken Hand auf dem Kopf, kommt auf mich zugerannt.

„Passen Sie doch auf!“, schreit er und übertönt das Heulen des Windes, „Sie müssen schneller arbeiten, die Zahlen fallen alle ins Wasser! Die schönen Zahlen...“

Eine der Zahlen zappelt verzweifelt mit den dürren Beinchen, hat sich am Brückengeländer verfangen und schreit um Hilfe.

Sie mit den kirschroten Sandalen an den Füßen ist stehen geblieben, schaut wieder hinunter, ihre Haare werden vom Wind durch die Luft gepeitscht, der Himmel ist schwarz. Ein Gefühl grenzenloser Panik, gepaart mit Hoffnungslosigkeit überkommt mich, krallt sich in meine Gedanken. Ich halte ihr meine Hand entgegen, sie blickt mich einen Moment lang mit ihren traurigen Augen an.

„Es hat keinen Sinn“, sagt sie, „es ist alles vorbei, das Leben ist nichts als der Sarkasmus eines...“

Den Rest verstehe ich nicht.

„Meine schönen Zahlen!“, jammert der Chef hinter mir, während der Wind laut kreischt.

Du bist keine Zahl, sage ich, als sie springt. Ihre Haare wehen immer noch, ich sehe ihr nach. Die Tränen in meinen Augen bläst der Wind davon. Mühsam ziehe ich mich am Geländer hoch, schaue nach unten.

Dann steh ich auf und hole meinen Taschenrechner. Verrechnet.