Meister des Sichtbaren
Cézanne
Cézanne, einer der Väter der modernen, ins Ungegenständliche wandernden Malerei hat den oben gezeigten Berg, den Montagne Sainte-Victoire, auf 30 Ölbildern und 45 Aquarellen sichtbar werden
lassen. Wenn wir uns die Bilder ansehen, wird deutlich, dass Cézanne nicht Natur, Himmel, Erde, Berg und Gewächs abbildet, sondern Dinge im Augenblick des Wahrnehmens malt. Der Vorgang des
Sehgeschehens bringt sich mit in die Sichtbarkeit des Berges. Die eigentümliche Verschwommenheit oder Vibration der Bilder ergibt sich daraus, dass die Farbe nicht nur eine gegenständlich lesbare
Gestalt zitiert, sondern sich über die Gegenstandsdarstellung hinaus selbst ins Spiel bringt. Ontologisch gesprochen negiert sie ihr Für-sich-Sein nicht mehr zugunsten des Für-anderes-Sein, den
gezeigten Gegenstand.
Diese ent-gegenständliche Tendenz findet sich neben der modernen Malerei unter anderem auch in der modernen Lyrik. Hier ist es das Wort, ähnlich wie dort die Farbe, das nicht mehr darin aufgeht,
etwas zu beschreiben, zu erzählen oder darzustellen, sondern dem entgegen bringt es sich in seiner Klang- und Assoziationsaura selbst mit ins Gesagte ein.
Rilke schreibt in seinen Cézanne-Briefen an seine Frau Clara:
„Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte . . ." Rilke übersetzt das Wort Réalisation, mit dem Cézanne seine Malerei
verdeutlicht, mit Ding-werdung und Verwirklichung. Die Bilder sind keine Schilderung der Dinge, Cézanne malt Dinge im Moment ihres Sichtbar-werdens. Die Entgegenständlichung, die es vermag, Dinge in
ihrer Erscheinungs- und Phänomenwirklichkeit zu halten, hütet das Ding vor der Schärfe des zentralperspektivisch einzuordnenden Blicks und wird in ein Sehen zurückgenommen, welches das Sichtbare als
„Ding-Bild-Strich-Schrift-Tanz" wahrnimmt. Eine Formulierung, die Peter Handke in seinem Buch „Die Lehre der Sainte-Victoire" gebraucht, um die Sichtbarkeitserfahrung der Malerei Cézannes zu
umschreiben.
Wie steht es mit dem Sichtbaren? Lassen wir Cézanne selbst sprechen:
„Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet." Warum verschwindet alles? Eine mögliche Antwort gibt uns Rilke:
„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
. . .
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um."
Die verschwundenen Dinge sind in ihre Eindeutigkeit gebracht, bedeutungsleer, zentralperspektivisch in der Sichtbarkeitsschublade festgestellt, Dokument der verwalteten Welt. Als
Gegenstand stehen sie dem Sehen und Denken in ihrer Eindeutigkeit und Langeweile entgegen.
Mögliche entgegenständliche Darstellung und deren Analogie in der Sprache, entgegenständliches Sprechen (Dichten), hütet das Ding in seiner Geheimnishaftigkeit. Handke, seine Cézanne-Einsicht
wiedergebend: „Diese in Zweckformen funktionierende, bis auf die letzten Dinge beschriftete und zugleich völlig sprach- und stimmlose Welt hatte nicht recht. (. . .) Und so sehe ich jetzt auch
Cézannes ,Verwirklichung`: Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr."
Es ließen sich noch weitere Cézanne-Zeugen anführen, zum Beispiel der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty oder der deutsche Phänomenologe Martin Heidegger, der meinte, man müsste denken
können wie Cézanne malte. Was würden wir wohl den ganzen Tag denken?
Oder wäre es überhaupt noch ein Denken und nicht viel mehr ein Dichten?
Vielleicht ist es so:
Hätten wir alle Dinge in der Welt in weichen Konturen vor Augen, so wie das obige Bild es zeigt, wir kämen nicht einmal auf den Gedanken, die Welt besitzen und beherrschen zu wollen. Sehen und
Denken, wie Cézanne malte, würde heissen, die Dinge zu streicheln, oder vor der Natur zu stehen, wie er seine Maltechnik umschreibt, in der Farbfleck für Farbfleck miteinander verwächst und langsam
zum Bild wird. So wie Cézanne sagt: „Meine Leinwand verschränkt die Hände", so würden wir dann vor der Welt der Sichtbarkeit stehen, mit verschränkten Händen und staunend.
Vielleicht ist aber alles ganz anders:
Entgegenständliches Sehen und Denken ist nicht Dingbewahrung, sondern Reflex des Informationszeitalters. Im Zeichenrausch der Information formiert sich keine klare Gegenständlichkeit mehr heraus, die
seismographisch in der modernen Malerei und Dichtung angezeigt wird.
Für welche Ansicht man sich auch entscheiden möchte, gewiss ist, Cézanne hat den Montagne Sainte-Victoire auf 30 Ölbildern und 45 Aquarellen sichtbar werden lassen.Martin Poltrum
Im Kunstforum (Wien I, Freyung) wird vom 20. Jänner bis zum
25. April 2000 eine große Ausstellung über Paul Cézanne zu sehen sein. Öffnungszeiten täglich von 10 bis 19 Uhr, Mittwoch von 10 bis 21 Uhr.
Freitag, 14. Jänner 2000