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In Sumatra leben die matriarchalisch organisierten Minankabau

"Keiner gehört dem andern"

Von Günter Spreitzhofer

Es gibt viele Wege zu den Frauen von Tanah Minan. Ins Schwitzen kommt dabei so mancher Orang auf der indonesischen Insel Sumatra, der von den Rechten seiner muslimischen Landsleute nur träumen kann. Orang heißt Mann. Und Allah ist groß.

Es gibt schnellere Routen zu den Minankabau von Sumatra. Doch der Seeweg über Java verheißt eine Kreuzfahrt der besonderen Art durch das Gebiet der 16.000 Inseln, kulinarische Köstlichkeiten und Unterhaltung sind garantiert - für die Mitreisenden auf jeden Fall, die den eigenartigen Orang putih, den weißen Mann, freudig umringen und nicht mehr aus den Augen lassen wollen. Ekonomi heißt die indonesische Deckklasse der MS Kerinci, eines der Flaggschiffe der nationalen Pelni-Fährgesellschaft: Das bedeutet Reis und Fisch am Abend, Reis und Ei zum Frühstück, und manchmal Reis und Sojasprossen zwischendurch. Die Fahrt drohte lang zu werden. Mein Proviant aus Pisang goreng, gebratenen Bananen, schrumpfte rasch, so dass ich mich doch mit einem Blechnapf um einen leckeren Fischkopf anstellen musste: 127 Stufen und vier Etagen tiefer, wo sich eine schweigende Warteschlange durch die Katakomben neben dem Maschinenraum windet, an schlafenden Ziegen und schlaffen Kleiderballen vorbei. Unter Deck ist die Atmosphäre so dicht wie draußen in der Kleinen Sundastraße, wo sich der Sonnenuntergang über dem Krakatoa-Archipel gerade blutrot mit ersten Regentropfen mischt. 2.234 Menschen sind an Bord und mindestens 36 Stunden lang von Tanjung Priok, dem quirligen Hafen in Jakarta, nach Padang in Sumatra unterwegs. Vielleicht sind es sogar mehr, denn die übervolle Bordmoschee auf Steuerbord brachte den Riesenkahn sachte zum Schlingern.

Ins Land der Minankabau

"Are-you-married-and-how-many-children?" Haben das nicht zuvor schon mindestens 19 andere Kreuzfahrer in abenteuerlich farbenprächtigem Schuhwerk wissen wollen? (Nike macht's möglich.) Asiaten auf großer Fahrt sind neugierig, besonders wenn sie ihr Schulenglisch aufmöbeln wollen. Und da

40 Prozent der Bevölkerung des 220-Millionen-Staates Indonesien jünger als 15 Jahre sind, warten wohl noch viele Fragen auf mich, den Jäger nach dem verborgenen Matriarchat. Höchste Zeit, sich ein bisschen Schlaf hoch oben in einem Rettungsboot zu gönnen. Davon wäre während der zweitägigen Busfahrt durch die engen Kurven des Trans-Sumatra-Highway keine Rede gewesen. Also, gute Nacht, bis 4 Uhr früh, wenn der Schiffsmuezzin zum Morgengebet ruft und der Schiffskoch die ersten frischen Frühstücksfische köpft.

Selamat Datang, willkommen in Sumatra.

Tanah Minang, das Land der Minankabau, liegt gleich hinter dem Äquator, tief im Herzen Westsumatras. Doch davor wartet noch der Durchbruch nach Bukitinggi, dem Verwaltungszentrum der Region oben in den Bergen: zwei Stunden vom Hafen Padang auf einem alten Bemo - überdachter LKW mit Sitzpritschen - und vielen neuen Freunden, die ebenfalls sehr gesprächig sind. Die Frauen sind schweigsam. Matriarchat? Zumindest Fremden gegenüber haben Frauen wenig zu reden hier im größten Moslemstaat der Welt, dessen ethnische Vielfalt berühmt ist. "Einheit in der Vielfalt" lautete das indonesische Credo während der 32 Jahre andauernden autokratischen Herrschaft des Präsidentenclans um Suharto, der alle Minderheiten ihr Leben leben ließ - solange sie seine Geschäfte nicht störten. Seit 1998 ist Suharto Geschichte und in Jakarta alles anders, doch für die Dörfer Sumatras hat sich nicht viel geändert. Die Hälfte der Region besteht aus dampfendem Regenwald, oder zumindest aus den Resten, die nach den verheerenden Bränden der letzten Jahre übrig geblieben sind. Vulkankegel und Vulkanseen, fruchtbare Böden, ein friedliches Fleckchen Erde: Es gibt ärmere Gebiete in Indonesien. "Steck einen Stock in die Erde,

und er wird wachsen", sagt man hier und hat vielleicht recht. Dennoch werden nur 15 Prozent der Provinz landwirtschaftlich genutzt, das aber mit Erfolg: Kopra, Rotan, Harz und Gambir, ein Färbestoff, sind Exportprodukte. Westsumatra ist von Reisimporten unabhängig und versorgt auch die Nachbarprovinzen Riau und Jambi, unten in den Sümpfen an der Straße von Malakka. Über drei Millionen Minankabau leben hier ein beschauliches Leben, verteilt auf Tropenböden von der Fläche halb Österreichs.

Ackerland ist gemeinsamer und unveräußerlicher Gruppenbesitz. Alle Eigentümer müssen über die Verwendung gemeinsam entscheiden, sehr zum Leidwesen der europäischen Entwicklungshelfer, die den Gruppenbesitz seit geraumer Zeit kontinuierlich zerschlagen und ein revolutionäres Grundbuchsystem eingeführt haben. Präzise Namen und Adressen der Begünstigten sind einfach leichter zu verbuchen als ganze Dorfgesellschaften. Das trägt zur heimlichen Freude der Männer bei, die dann zumeist als Eigentümer ausgewiesen werden - was im krassen Widerspruch zur matrilinearen Erbfolge Westsumatras steht. Ob der Koran das so will, fragt Herr Soko Siswanto (44) zweifelnd und schultert seinen Buckelkorb vor der verwachsenen Moschee am Maninjau-See.

Dort hat sich schon vor langem eine kleine Hippie-Enklave gebildet, die an rauchigen Abenden im grasigen Grün die böse Konsumwelt vergessen konnte, bis die ersten Touristen den Zauber Sumatras entdeckten. So ist die kleine europäische Aussteigerkolonie nicht mehr ganz unter sich, seit Siswantos Sohn Bootsverleih und Müsli zum touristischen Programm gemacht hat. Was bleibt Budi (24) auch anderes übrig, denn die Reisfelder rundum gehören längst seiner Schwester.

Gast im Haus der Ehefrau

Es ist alles nicht so einfach: Im Haus seiner eigenen Frau gilt er als Gast, seine Arbeitskraft muss er zwischen Mutter und Frau aufteilen - von den Erträgen seiner Mutter erhält er zumindest einen Anteil, für eigene Familienarbeit gebührt ihm nichts. Die Brüder seiner Mutter tragen die Verantwortung für die Erziehung der Kinder seiner Schwester und die Brüder seiner Frau für seinen eigenen Nachwuchs. Seine Kinder werden den Familiennamen seiner Frau tragen, dafür trägt er stolz das orange Trikot von Ruud Gullit, dem niederländischen Fußballstar von einst. Es ist zwar etwas verwaschen wie die Erinnerung an koloniale Zeiten überhaupt, während die alten Traditionen auch in drei Jahrhunderten holländischer Herrschaft nicht ausgemerzt werden konnten.

"Keiner gehört dem andern", lautet das Credo der Minankabau, "Ohne Gruppensolidarität geht nichts". Budi ist recht billig gewesen, der Bräutigamspreis war für die Familie seiner Frau erschwinglich. Siswanto und Budi sind Systemerhalter und Beschützer ohne eigenen Besitz, doch im Familienrat voll dabei - und Budi als ältester Sohn darf das Vermögen seiner Mutter verwalten. Rechtlosigkeit sieht anders aus in Indonesien: Unterdrückung der Männer gibt es hier beileibe nicht, und wüsste man es nicht besser, würde man kaum einen Unterschied zur Rollenverteilung anderswo auf der Welt erkennen.

Minangkabau riecht nach Schweiß und modrigem Büffelhorn, das die Häuserfronten ziert - je mehr übereinander, desto angesehener ist die Familie. Viele der Holzgebäude auf hohen Stelzen haben bereits Blechdächer, jedoch in der traditionellen, geschwungenen Form. Auf den Lehmböden zwischen den Häusern trocknen rote Chillischoten und braune Kaffeebohnen in der bleiern-wolkigen Hitze vor sich hin. Schläfrige Hunde in schläfrigen Dörfern, die einmal wöchentlich zum Leben erwachen. Minang bedeutet Sieg, Kabau Büffel: Der samstägliche Kampf der Wasserbüffel gehört hierorts länger zur Tradition als die beliebte Minibus-Minankabau-Tour zu Webereien und Kaffeemühlen, bei der Budis Brüder schon bald als Tourguides ihr Glück versuchen wollen.

Die verblüffende Kombination aus Islam und Frauenpower lockt längst nicht mehr nur Ethnologen nach Sumatra. Das Gesellschaftssystem der Minankabau ist so schwer zu durchschauen wie die Dschungel hinter den Reisfeldern: Vier Clans (suku) gelten als die ältesten etablierten Volksgruppen - alle vier (bodi, caniago, koto und piliang) müssen in einem Dorf vertreten sein, um es zu einer vollständigen gesellschaftlichen Einheit zu machen.

Ungeschriebene Gesetze und Verhaltensweisen bestimmen immer noch das Leben, trotz MTV und CNN, die längst auch so manches Clanhaus, Rumah Adat, erobert haben. Dort leben bis zu 30 Minankabau unter einem büffelhornartigen Dach zusammen. Schweine und Asseln unten, Menschen oben, dazu noch allerlei exquisiter Geisterglaube. Ein bisschen Animismus, vermengt mit Ahnenkult und dazu ein Schuss Koran: Die wirklich bösartigen Geister, die urang jadi jadian, können schreckliche Tiger werden; die cindakau wiederum sehen aus wie Menschen, fressen aber gern Kinder. Und die garstigen cindai vermögen in Gestalt schöner Frauen arglosen Männern den Kopf zu verdrehen. Genug der abendlichen Geschichten, die zu Reiswein und leckerem Nasi Ayam, dem obligaten Reis mit Hähnchen, serviert werden. Hier gibt's nichts zu erben. Und Großonkel Wirosardjono hat schon zwei günstige Gangsitze (Nr. 69 und 70) für den Nachtbus zurück nach Jakarta gebucht, wo er Geschäfte mit Büffelhorn machen will. Klasse Ekonomi, mit engen Dreierbänken und Bordvideo rund um die Uhr. Budi reicht mir ein frisch geschältes Bambusrohr durchs Fenster, als Wegzehrung für 39 Stunden Fahrt, vielleicht auch für 50. Das kann ja heiter werden.

Die Frauen jedenfalls bleiben hier. Irgendjemand muss ja die Arbeit machen.

Freitag, 05. März 2004

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