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Ein Besuch in der größten türkischen Teppichknüpferei

Türkei: Die Heimat der feinen Knoten

Von Barbara Schleicher

Die südtürkische Provinzstadt Denizli lockt täglich Touristen aus aller Welt an, die hoch oben im Taurusgebirge die kalkweißen Thermalterrassen von Pamukkale und die antike Ruinenstadt Hierapolis besichtigen wollen. Vielfach wird der Tagesausflug nach Denizli, rund 200 km nordwestlich von Antalya gelegen, mit dem Besuch der größten türkischen Teppichknüpferei verbunden. Dass sich die Teppichwerkstätte ausgerechnet im strukturschwachen Taurusgebirge ansiedelt, hat verschiedene Gründe. Mit finanziellen Anreizen fördert der türkische Staat Betriebsansiedlungen in ländlichen Regionen, um der wachsenden Landflucht entgegen zu steuern. Grund und Boden sind dem Unternehmen für einen Zeitraum von 49 Jahren gratis zur Verfügung gestellt worden, bis heute schlagen sich Strom und Wasser mit nur 10 Prozent des eigentlichen Kostenbetrages zu Buche. Staatlich subventioniert sind auch Kantine, Kindergarten und die Lohnkosten. Standortvorteile ganz anderer Art winken durch die Nachbarschaft zu den erwähnten Ausflugszielen Pamukkale und Hierapolis.

Diese finanziellen Anreize ließen bei der Sentez AG, mit Stammhaus in Istanbul, den Entschluss zur Gründung der Tochtergesellschaft Denizli Hali (Hali = Teppich) reifen. Diese Werkstätte entstand auf dem Reißbrett, ehe sie im Jahre 1993 ihre Arbeit aufnahm. Heute gibt es hier 11.000 Webstühle, an denen 220 Knüpferinnen aus den umliegenden Dörfern arbeiten, denen die Landwirtschaft auf dem Hochplateau nur ein kärgliches Auskommen gestattet. In der Teppichmanufaktur kann das Familieneinkommen erheblich aufgebessert werden.

Ein Musterbetrieb

Denizli Hali gilt als Musterbetrieb der Branche, da - selbst nach westeuropäischen Maßstäben - die Arbeitsbedingungen sozialverträglich sind. Die Knüpferinnen bringen meistens Vorkenntnisse in der traditionellen Teppichwebkunst mit. In zweijähriger Ausbildung werden die handwerklichen Fähigkeiten vertieft. Gearbeitet wird an einem senkrecht stehenden Knüpfstuhl auf dessen Spanngarn unterschiedlich gefärbte Wollfäden eingeknüpft werden (Ghördes-Knoten). Farbe und Muster werden durch die Vorlage bestimmt. Nach jeder Reihe werden die Knoten mit einem schweren Kamm angeschlagen; das regelmäßige Scheren führt zu einem gleichmäßigen Flor.

In den ersten Jahren lernt die junge Knüpferin auch das Spinnen von Wolle, Baumwolle und Seide sowie die traditionelle Färberei mit pflanzlichen Farbstoffen (z. B. Sinau, Weinblättern, Quittenlaub, Kamille, Walnuss, Indigo, Granatapfel und Safran). Anfängerinnen fertigen ausschließlich Wollteppiche.

Die nächste Ausbildungsstufe stellt das Knüpfen von Wolle auf Baumwoll-Spanngarn dar, was mit einer höheren Knotenanzahl pro Quadratzentimeter einhergeht. Die Fingerfertigkeit, einen hochwertigen Seidenteppich mit dichter Knotenzahl knüpfen zu können, wird nur von Meisterinnen dieses Metiers erreicht. Die auf Millimeterpapier vorgezeichneten Muster müssen präzise nachgeknüpft werden, um die geschwungenen Linien und umlaufenden Ecken zu erzielen, die den Seidenteppiche als Gemälde erscheinen lassen. Ohnedies verfügen die Stars der Branche, die in regelrechtem Wettbewerb unter Tausenden ausgesucht und zur Anfertigung höchstpreisiger Unikate eingesetzt werden, über ein nicht erlernbares künstlerisches Talent, wobei die Fingerfertigkeit - ähnlich wie bei Pianisten - keine Frage des Alters ist. Anders als in Indien und Ägypten ist in der Türkei die Kinderarbeit strengstens verboten und kommt auch bedingt durch die erforderliche handwerkliche Qualifikation nicht zur Anwendung.

Die Kunst des Knüpfens

Aus Erfahrung weiß man, dass bei einer Knotendichte von 10 x 10 Knoten (pro cm²) für das Knüpfen von einem Quadratmeter etwa ein Jahr benötig wird. Beträgt die Knotenzahl 15 x 15 Knoten (pro cm²) sind für den Quadratmeter bereits drei bis fünf Jahre zu kalkulieren. Bei 24 x 24 Knoten (pro cm²) handelt es sich um einen Weltklasseteppich aus Seide, für dessen Herstellung etwa elf Jahre benötigt werden. Neben der Knotendichte bestimmten die Gesamtgröße, das Design, die Farbqualität (Synthetik- oder Naturfarbe) und die verwendeten Materialen (Schafwolle, hochwertige Schulter- bzw. Nackenwolle des Schafes oder kostbare Seide) die Qualitätsmerkmale eines Teppichs. Daraus resultieren gewaltige Preisunterschiede, die auf das jeweilige Einzelstück zugeschnitten sind.

Türkische Teppiche zählen zu den schönsten und ältesten der Welt. Dass sich auch in früheren Epochen die Teppiche Kleinasiens größter Beliebtheit erfreuten, beweist der sensationelle Fund des sogenannten Pazyryk-Teppichs, der 1949 im Altaigebirge in der hölzernen Grabkammer eines skythischen Nomadenfürsten entdeckt wurde und auf das 5. Jahrhundert vor Christus datiert wird. Der Pazyryk ist aus feinster Schurwolle im türkischen Ghördes-Knoten gefertigt und besticht durch Größe (1,83 x 1,98 m) und Farbharmonie.

Das Mittelteil bilden Rosetten in rot-goldgelber Farbstellung, die von zahlreichen Bordüren - darunter eine Reiterprozession - bandförmig umrandet werden. Dass der Wollteppich die 2.500 Jahre beinahe unbeschadet überstanden hat, hängt mit der dicken Eisschicht zusammen, die das Knüpfwerk gut konservierte. Umstritten ist, ob es sich um eine Satteldecke, einen Bodenteppich, eine Bettdecke, einen Spielteppich oder um eine reine Grabbeigabe handelt. Allerdings zeugen für die deutsche Teppichexpertin Karin Adrian "Musterung und Ausführung des Pazyryk von einer Kunstfertigkeit, aus der zweifellos auf eine bereits lange bestehende Tradition in der Teppichknüpfkunst geschlossen werden kann, und lassen vermuten, dass er nicht von Nomaden gefertigt worden ist. Seine meisterhafte Fertigung wird den Armeniern zugeschrieben." Anhand der handwerklichen Spitzenleistung des Pazyryk, der heute im Eremitage-Museum in St. Petersburg zu bewundern ist, lassen sich Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte des Teppichs ziehen. Es sind asiatische Steppenvölker, die mit ihren Viehherden zu den Futterplätzen ziehen und aus der Schurwolle textile Erzeugnisse wie Teppiche, Decken, Türvorhänge, Satteldecken, Sitzkissen u.ä. fertigen. Den Ausführungen des Teppichexperten Mehmet Ates zufolge wurden "die ersten Teppiche so geknüpft, dass man auf die Kettfäden Knoten machte, wobei ursprünglich die Knotenenden nicht abgeschnitten wurden, so dass man eine dicke Oberfläche schuf, die sich in strengen Wintern als Schutz gegen die beißende Kälte hervorragend eignete."

Lebendige Geschichte

Im Laufe der Geschichte reiften die handwerklichen Fähigkeiten, verbesserte sich die Knüpftechnik und Färbepraktik, entwickelten sich Muster und Motive. Mit den seldschukischen Turkvölkern gelangt die Teppichkunst im 11. Jahrhundert nach Kleinasien. Der reiche Erfahrungsschatz der nomadischen Heimknüpferei wurde von Generation zu Generation weiterentwickelt. Die jahrtausendalte Entwicklung spiegelt sich bis heute in der geometrischen Musterung, den floralen Motiven und Arabesken wieder.

Dabei stehen Motive, Farbkomposition und Teppichformate noch immer mit der regionalen Tradition im Einklang. "Teppiche sind lebendige Geschichte, aus denen unentwegt Magisches hervortritt", meint Mehmet Ates. "Da klingen Vogelgezwitscher und Kinderstimmen herüber, umwehen uns Frühlingswinde, Träume. So finden wir eine Wolke in Erwartung baldigen Regens, dort einen Vogel mit vier Flügeln und zwei Köpfen, wenn man einer langersehnten Botschaft entgegenfiebert. Teppiche legten im Laufe der Geschichte auf Kampfpfaden und Handelswegen weite Strecken zurück und lieferten Stoff für die Märchen vom fliegenden Teppich."

Im Abendland werden Orientteppiche seit Jahrhunderten für den Gebrauch erworben und als Kunstschätze gesammelt. Erstmals traten anatolische Teppiche im 14. Jahrhundert in der europäischen Malerei auf, ein Trend der sich in der Folgezeit verstärkte. Über die alte Seidenstraße gelangten Repräsentationsteppiche an den Hof von Kaiser Karl V, Kardinal Richelieu, Katharina von Medici und Sigismund III von Wasa. In späteren Jahrhunderten entfalteten begüterte Kaufleute und Bankiers ihre Vorlieben für die orientalische Teppichkunst.

Seidige Luxusgüter

Eine ungeahnte Nachfrage nach dem seidigen Luxusgut lösten die Weltausstellungen in London (1851) und Wien (1873) aus. Wie Georg O'Bannon hervorhebt, bauten "Baron Thyssen und Calouste Gulbenkian große Privatsammlungen auf. Museumskuratoren in Berlin, London, Wien und Budapest kauften und schufen die größten musealen Sammlungen orientalischer Teppiche des 15. bis 18. Jahrhunderts." Eine Zäsur stellte das Jahr 1882 dar, in dem erstmals synthetische Farbstoffe bei der Färberei eingesetzt wurden. Bedingt durch schnell verblassende Farben und verfilzende Schurwolle kam es zu beachtlichen Nachfrageeinbrüchen. Erst vor 20 Jahren setzte ein Umdenkprozess bei den Teppichherstellern ein. Anknüpfend an die nomadischen Türkmenstämme, die an traditionellen Färbetechniken festgehalten hatten, wurde die komplizierte Gewinnung und Anwendung von Naturfarben in den meisten Teppichmanufakturen wieder eingeführt, was die Anziehungskraft und den Wert türkischer Teppichs belebte.

Doch zurück zur Teppichmanufaktur Denizli Hali, wo neben Gebrauchsteppichen auch kostbare Wandteppiche beispielsweise die Hereke-Seidenteppiche hergestellt werden. Mit 26 x 26 = 676 Knoten pro Quadratzentimeter kam ein feingeknüpfter, dünnfloriger Hereke-Seidenteppich 1996 sogar ins Guiness-Buch der Rekorde. Gegenwärtig versucht Sentez seinen aufgestellten Weltrekord mit 30 x 30 = 900 Knoten pro Quadratzentimeter zu übertreffen, ohne dass es zum gefürchteten Bruch des Teppichs beim Zusammenschieben der Knoten kommt. Auf veränderte Käuferwünsche hat der Teppichriese entsprechend reagiert und vor fünf Jahren den Modedesigner Gianni Versace für eine neue Teppichkollektion gewinnen können. Als Vorlage dienten die Kaftane früherer Herrscher, die heute im Topkapi-Palast (Istanbul) ausgestellt sind. Für die Kollektion wurden Muster und Farbgebung entsprechend stilisiert. Nur eine begrenzte Stückzahl wurden nach den Entwürfen des Italieners hergestellt, von denen das Modehaus - nach Versace's spektakulärem Tod - das Gros aufkaufte. Das begrenzte Angebot an Versace-Teppichen hat sich auf die Preisgestaltung unmittelbar ausgewirkt.

Seriöse Geschäfte

Denizli Hali ist der größte Teppichhersteller der Türkei, der 80 Prozent seiner Produktion nach Westeuropa exportiert. Hier steht Seriosität an erster Stelle des Unternehmensleitbildes, immerhin hat der türkische Staat die strategische Aktienmehrheit und wird seiner Kontrollfunktion durchaus gerecht. Da es sich bei den berühmten Hereke-Seidenteppichen meistens um kostspielige Unikate handelt, wird ein eigener Teppich-Pin-Code gleich eingeknüpft, der die Echtheit des Teppichs garantiert. Mit der dreifachen Kundenunterschrift auf Kaufvertrag, Zertifikat und Teppichrückseite wird jeder Teppichkauf besiegelt. Erst dann wird der Teppich nach Österreich, Deutschland oder Frankreich ausgeliefert, wo nach Überprüfung der korrekten Lieferung die Bezahlung erfolgt.

Die dem Hersteller rückvergütete 18-prozentige Exportförderung des türkischen Staates bleibt auf diese Weise nicht im Portefeuille von Sentez, sondern kommt direkt dem Kunden zugute. Da Denizli-Teppiche nur in der Türkei erworben werden können, entfällt auch der kostenintensive Zwischenhandel.

Obwohl in Wirtschaftskreisen Kunst als Anlageobjekt seit längerem im Gespräch ist, gelten Orientteppiche noch als Geheimtipp. Dabei liegen für den stellvertretenden Direktor von Denizli Hali, den 36-jährigen Armagan Kocatürk "die Vorteile dieser sicheren Kapitalanlage klar auf der Hand. Schließlich werden durch das unbegrenzte Angebot und die geringen Lohnkosten handgeknüpfte türkische Teppiche weit unter ihrem Wert verkauft. Gleichzeitig garantiert Sentez die Rücknahme eines Hereke-Seidenteppichs zum bezahlten Kaufpreis, was das Risiko einer Wertminderung ausschaltet".

Kocatürk weiß wovon er spricht, ist er doch in Deutschland aufgewachsen und hat in Frankfurt Betriebswirtschaft studiert. Bei seinem Onkel hatte er als Junge "bereits Teppichstaub geschnuppert und ist nie mehr davon losgekommen."

Er rechnet mit dem Ende der türkischen Teppichknüpfkunst in den nächsten 20 bis 25 Jahren, da eine "Anpassung des türkischen Lohnniveaus an den westeuropäischen Standard kommt und damit handgeknüpfte Teppiche unbezahlbar werden. Ich befürchte, dass es der türkischen Teppichknüpfkunst ebenso so ergehen wird wie den europäischen Porzellanmanufakturen, Kunsttischlern und Goldschmieden, die von der industriellen Massenproduktion verdrängt worden sind."

Literaturhinweise:

Georg O'Bannon: Orientteppiche, Köln 1998.

Karin Adrian: Teppiche, München 1999.

Mehmet Ates: Türkische Teppiche, Istanbul 1997.

Freitag, 10. August 2001

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