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Hundert Jahre Adventkalender

Jeden Tag ein Fenster mehr

Von Michael Martischnig

In keinem anderen Monat im Jahr kommt man auf den Gedanken, die Tage so spektakulär abzuzählen wie im Dezember. Als besondere Zeitmessungshilfe ist der Adventkalender eine relativ junge Erscheinung vorweihnachtlichen Brauchgeschehens, das sämtliche soziale Schichten und augenscheinlich auch alle Lebensalter in den Bann zieht und vom Privatbereich bis in den öffentlichen Raum reicht. Doch dem täglichen Spiel mit der Zeit als der Vorbereitung auf das Fest der Geburt Christi haben sich verschiedenste Intentionen zugesellt, die weniger beim Verkürzen der erwartungsvollen Tage helfen, sondern vielmehr von gesteigerten Bemühungen um kindlichen Gehorsam bis zur stufenweisen Vorwegnahme allzu weltlicher Wünsche in 24 Raten reichen.

Wie alles anfing

Auch wenn sich in der Volkskultur der Beginn einer Erscheinung nur selten exakt feststellen lässt, so begann der Zauber des Adventkalenders dokumentierter Weise, als 1902 in Hamburg in der Zeitschrift "Der deutsche Kinderfreund" für eine gedruckte "Weihnachtsuhr für Kinder" geworben wurde. Es ist naheliegend, die Einteilung eines Ziffernblattes mit zwölf bzw. doppelt so vielen Tagen des Advents in Beziehung zu bringen, eben so viele biblische Verheißungen und Anfänge christlicher Weihnachtslieder statt Stundenwerte einzutragen und täglich einen kleinen Messingzeiger eine Spanne weiter zu drehen.

Schon ein Jahr später stellte der junge Verleger Gerhard Lang für die Kinder der Abonnenten einer Stuttgarter Zeitung einen weiteren Adventkalender her, den er dann 1908 zum allgemeinen Kauf anbot. Er hatte sich dabei seiner Kindheit besonnen, in der er als Sohn eines Pastors und einer backfreudigen Mutter im schwäbischen Maulbronn während der Vorweihnachtszeit täglich eines von 24 an einen Karton genähten Keksen aufessen durfte. Jener gedruckte Weihnachtskalender namens "Im Land des Christkinds" der Münchner Druckerei Reichhold und Lang machte Furore: pro Tag hatten die Kinder eines von 24 Motiven mit Engeln, Knecht Ruprecht oder Spielzeugdarstellungen auszuschneiden und dies puzzelartig auf eines von 24 nummerierten Feldern eines vorgedruckten Kartons zu kleben, auf dem sich 24 Verse christlich-pädagogischer Thematik befanden, wie etwa "Drum sei lieb, damit die Engel droben / im Himmel dich beim Christkind loben".

Um den Kindern die Wartezeit vor Weihnachten zu verkürzen, hatten zuvor nur mündlich überlieferte Rituale existiert: etwa 24 Kreidestriche, von denen täglich einer gelöscht werden durfte. Im alemannischen Raum brachten Eltern für ihre Kinder, die noch nicht zählen konnten, ein erzieherisches Ziel mit ins Spiel: für eine gute Tat, ein kleines Opfer oder Verrichten eines zusätzlichen Gebetes durften sie in Holzstäbe, die sonst die Erwachsenen als wirtschaftliche Rechnungshölzer verwendeten, Kerben einschneiden, was dem Nikolaus vorgezeigt oder in die Krippe gelegt wurde und die Anpassung der Kinder an gesellschaftliche Normen belegen sollte. Im katholischen Westösterreich wurde als Belohnung für ihr gehorsames Benehmen erlaubt, an jedem Tag des Advents einen Strohhalm in die leere Krippe zu legen, damit das Neugeborene weicher liege. Gleiche Ziele des Wohlverhaltens werden noch heute bei Volksschülern verfolgt, wenn sie in der Adventzeit für die Befolgung guter Vorsätze ein Klassenbild mit weihnachtlichem Motiv weiter ausschmücken dürfen.

Jene Adventkalender waren der Beginn einer alsbald einsetzenden, unübersehbar reichhaltigen Produktion, die über die Jahrzehnte immer luxuriöser, immer aufwändiger, immer formenreicher wurde. Dagegen fand ihre Verbreitung vom städtischen in den ländlichen Lebensbereich nur sehr zögerlich statt, ja ein verstärktes Vorkommen außerhalb des deutschen Sprachraums blieb bis heute hauptsächlich auf angrenzende Länder und den anglikanischen Raum beschränkt.

Aus der Fülle von Angeboten lassen sich mehrere Haupttypen erkennen: neben den dreidimensionalen Stehkalendern in Form von Laterne, Haus oder Weihnachtsbaum sowie der kulissenartigen Krippe steht als wohl verbreitetster Typus der Hänge- bzw. Wandkalender mit Fensterchen zum Öffnen: bei uns 24 an der Zahl, 24 plus 1 für den anglikanischen Raum, wo erst am 25. Dezember Santa Claus kommt, 24 plus 4 zusätzlich für die vier Adventsonntage oder seltener 31+6 für jene Weltgegenden, wo man sich bis zum 6. Jänner gedulden muss, bevor die Heiligen Drei Könige als biblische Gabenbringer erscheinen.

Pausbackige Engelchen

Die Motive der Darstellungen sind unendlich, wobei die Entwerfer nach wie vor zwischen religiösen und weltlichen Sujets schwanken und gesellschaftliche Moden mit nur geringem Bezug zur Gegenwart in ihre Gestaltung einbeziehen: Beginnend bei nostalgisch-idyllischen Weihnachtsmarkt-Szenen und romantischen Winterlandschaften über viel bevölkerte Backstuben pausbackiger Engelchen und allerlei Szenen mit dem Christkind bis zur Teddybär-Familie, die in den letzten Jahren Comics und Kunstfiguren á la Muppets und Pokémon verdrängt hat. Die gleichfalls aus dem anglikanischen Raum stammenden Santa-Claus-Figuren mit Zugmechanik haben ihre Vorbilder im Hampelmann und gehören höheren Preisklassen an.

Nicht zu vergessen sind kostspielige Rubbelkalender, die in Art eines Loses weltliches Glück verheißen. Hierher gehören auch die kostenlosen Werbekalender, mit denen Firmen die noch Minderjährigen als künftige Kunden zu beeinflussen suchen. Dass eine bekannte Unterwäschefirma ihren pseudo-nostalgischen Kalender mit Kutsche aus den 50ern in den 90ern mit großem Erfolg nochmals auflegen konnte, zeigt, dass die Kinder doch ein sehr konservatives Zielpublikum geblieben sind. Dennoch fließen markante Veränderungen in die Darstellung, wenn in den 60ern, ganz im Zeichen der Erforschung des Weltraumes, der Weihnachtsmann zu moderneren Fortbewegungsmitteln wechselte, indem er statt auf seinem Schlitten in Hubschrauber oder Rakete anreiste.

Soll der Adventkalender zu kindlicher Beschäftigung anregen, so mutiert er beispielsweise zum Ausschneidebogen - eine Tradition, in der bereits Langs "Weihnachts-Kalender" 1903 stand: aus 24 Schnittfiguren lässt sich etwa eine komplette Krippe zusammensetzen. Wenn man im vorweihnachtlichen Familien- und Freundeskreis zusammenkommt und sich dann die Lust am Zählen mit eigener Kreativität paart, befindet man sich direkt in der Bastelstube mit der größten Formenvielfalt . . .

Die Variationsbreite der Adventkalenderformen hat beim kindlichen Rezipienten natürlich nicht Halt gemacht: In den letzten Jahren gesellen sich elektronische Adventkalender hinzu, die jeden Tag beim Hochfahren des Computers einen etwas erfreulicheren Arbeitsanfang markieren. Dass beim virtuellen Öffnen eines Fensters diese Kalender bereits selbst sprechen und singen können, ist modernster Trend. Fast unglaublich, aber längst erfreut der erotische Adventkalender so manches einsame Herz in der stillsten Zeit des Jahres. Sollen an der weihnachtlichen Vorfreude etwa auch Hund und Katz teilhaben, so verwöhnen Herrl/Frauerl mit 24 Leckerbissen bis zum großen Abend.

Nicht allein das Hauptbild, auch die kleinen Bildchen in den Fenstern tendieren zu immer weltlicheren Motiven. Religiöse Darstellungen finden sich zumeist nur noch am 4. Dezember mit einem Barbarazweig, gefolgt vom Krampus am 5. und Nikolaus am 6.; Letzterer genoss besonderes Ansehen, denn er ist der Schutzpatron der Kinder und war bis Ende des 18. Jahrhunderts der eigentliche Gabenbringer. Das letzte Fenster ist zumeist größer als die anderen und weist traditioneller Weise die Darstellung einer Krippe, eines Christbaumes, eines Rauschgoldengels, eines Adventkranzes mit vier brennenden Kerzen auf.

Vom viel älteren Brauch der Tauf- und Geburtstagskerze lassen sich die Adventkerzen ableiten, von denen täglich ein bestimmtes Stückchen abgebrannt werden darf. Und im genau umgekehrten Sinn: täglich kommt ein Wachslicht hinzu, bis am 24. Dezember ein richtiger Leuchterbaum entstanden ist, dessen vier dicke Kerzen die Adventsonntage symbolisieren.

Die Wiedergabe authentischer Hausfassaden mit 24 Fenstern - etwa in Wien das Hundertwasser-Haus oder das ehemalige Niederösterreichische Landesmuseum - legten die Herstellung von räumlichen Stehkalendern in Form von Häusern nahe, gefolgt von zusammengesteckten Weihnachtsbäumen, gefalteten Laternen usw. Leseobjekte schulen in der einfachsten Form als 24 (Bilder-)Buch-Geschichten den intellektuellen Geist oder sind als Vorlesetext willkommener Ersatz für die abendliche Traummännchen-Geschichte.

Adventkalender haben manchmal nicht nur ein einziges Leben, denn jedes Jahr verbergen sich andere Überraschungen in verzierten Zündholzschächtelchen oder kleinen Stofftaschen, die gebastelt und auf Bändern zum Befüllen aufgehängt werden. Auf den Inhalt kommt es an, kann doch diese Form des Bittens und Schenkens ihre Wurzeln in Jahrtausende alten Heische-Sitten nicht leugnen. Dies lässt sich auch in den zahlreichen Billett-Kalendern erkennen, die dem Spendenaufruf von karitativen Organisationen beigelegt werden. Diese Miniatur-Adventkalender in Kuvertgröße werden bevorzugt von Pubertierenden als begehrte Liebesgabe versendet.

Kirche contra Kitsch

Der Versuch zu einer Erneuerung des christlichen Lebens mit einer verbesserten Verbindung zwischen bürgerlichem Jahr und Kirchenjahr konnte nicht ausbleiben. Dem allerorten erkennbaren Kitsch versuchte - allerdings vergebens - bereits in den Dreißigerjahren der Klosterneuburger Pius Parsch entgegenzuwirken und propagierte zur spirituellen Vorbereitung auf eines der bedeutendsten Ereignisse der christlichen Erlösungsgeschichte die Heilserwartung im Heiligen Land als zentrales Thema seiner Adventkalenderbilder. Seit damals, und in den letzten Jahren in verstärktem Maß, gibt es regionale Versuche mit Anregungen zu einer erneuerten Verinnerlichung, wozu auf der Rückseite abgedruckte "Hinweise zum Gebrauch des Adventkalenders" mit Ratschlägen zur Gestaltung einer Adventandacht im familiären Kreis beitragen sollen. Ähnlichen Intentionen verpflichtet sind die bereits zahlreichen Adventkalender von Pfarren, Orden, Klöstern, die im Internet weniger anhand besinnlicher, vielmehr gegenwartsbezogener, durchaus kritischer Texte die (Heils-)Botschaft des weihnachtlichen Geschehens der heutigen Jugend näher bringen sollen.

Alle Erwartungen übertroffen hat das Interesse, als die Prämonstratenser Chorherrn aus Stift Wilten 2001 als erste in Österreich, gleichfalls hauptsächlich an die Jugend gewandt, täglich aufs Neue einen Adventkalender per SMS versandten. CARE Österreich widmet beispielsweise ihre Internet-Adventkalender besonders dem Gedanken der Völkerverständigung, der Entwicklungszusammenarbeit und der Armut allerorten , wogegen die Katholische Sozialakademie an jedem Tag im Advent ein Kapitel des Sozialberichtes der Kirchen vorstellt und damit zum Nachdenken und Diskutieren anregen will . . .

Adventkalender für alle

Das einst besonders dem familiären Bereich vorbehaltene Weihnachtsgeschehen tendiert angesichts des zu beobachtenden Trends zu immer zahlreicheren Festen verstärkt in die Öffentlichkeit. Nicht nur Medienanstalten binden ihre Zuhörer und Zuseher zunehmend ein, indem sie sich wie etwa die vom ORF getragene Aktion "Licht ins Dunkel" des vorweihnachtlichen Zählrhythmus' bedienen und damit in einer von Emotionen besonders geprägten Zeit die Spendenfreudigkeit anzusprechen versuchen. Die Fassade des Wiener Rathauses im Hintergrund von Christkindlmarkt und "Christbaum für alle" stellt der Welt größten "Adventkalender für alle" dar. Hier ebenso wie etwa bei der Front der neuen Zentrale der Burgenländischen Elektrizitätsversorgung in Eisenstadt sponsern Wirtschaftsunternehmen die mit modernen Kunstwerken geschmückten einzelnen Fenster und lassen im Rahmen von Versteigerungen den Erlös aus den Bildern karitativen Zielen zugute kommen.

Mancherorts bilden traditionsverbundene Ortsgemeinschaften einen "gelebten Adventkalender". So wird etwa im Südburgenland und in so mancher Ortschaft im nördlichen Waldviertel an jedem Tag im Advent ein Fenster von den Hausbewohnern geziert, bis am Christtag entlang der Hauptstraße 25 Häuser in festlichem Glanz erstrahlen. Als Besonderheit erweist sich St. Gallen im Naturpark Eisenwurzen, wo seit 1999 der ganze historische Hauptplatz zu einem leuchtenden Adventkalender verwandelt wird und der Reinerlös verschiedenster traditioneller Vorweihnachtsbräuche karitativen Zwecken zugute kommt. Doch die Gefahr der Gigantomanie liegt nahe, wenn etwa ein eigenes Advent-Kalender-Dorf im Stadtzentrum von Haag im Mostviertel errichtet und illuminiert wird.

Für eine Ausstellung samt wissenschaftlichem Buch werden alte Adventkalender gesucht. Hinweise an michael.martischnig@oeaw.ac.a

Freitag, 29. November 2002

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