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Der Dichter, Schnorrer, Bohemien und Troubadour Peter Altenberg wird mehrfach wieder entdeckt

Altenberg: Ein früher Popstar

Von Andreas Kövary

Im Jahre 1997 kam das Archiv der Wiener Stadtbibliothek in den Besitz von etwa 500 Schriftstücken (Briefen, Manuskripten, Notizen, beschrifteten Ansichtskarten und sonstigen Texten) von dem genialischen Bohemien der Goldenen Wiener Jahrhundertwende Peter Altenberg sowie an und über ihn.

Als Ergebnis der fünfjährigen Recherche eines Forscherteams (bestehend aus Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos, dem schottischen Professor Andrew Barker und dessen amerikanischen Kollegen Leo L. Lensing), während der dieses Konvolut von Schriftstücken wie auch ein nie wirklich gesichteter Berg von Fotografien aus dem Bestand des Historischen Museums aufgearbeitet wurden, ist bei Residenz ein reich bebildertes Buch über Altenberg herausgekommen, das als neues Standardwerk angesehen werden kann. Überdies ist es begehbar, denn das Jüdische Museum und das Literaturhaus Wien haben sich zu einer Doppelausstellung über den Dichter zusammengetan. Und weil diese von denselben Personen kuratiert worden ist, kann man das Buch als kundigen Führer durch Leben und Werk des Wiener Originals verwenden. Wer dann noch immer nicht tief genug darin eingetaucht ist, für den gibt es ab März noch szenische Lesungen aus Texten von und über "P.A.", die ihn in seinen bunt schillernden, widersprüchlichen Facetten präsentieren werden.

Als Dichter zog Peter Altenberg in dem einzigartigen "Telegrammstil der Seele", den er entwickelt hat, aus allem und jedem, dem seine Sinne begegneten, "Extracte des Lebens" (so auch der Titel des neu erschienenen Buches). Als eingefleischter Bohemien wohnte er zeitlebens in kleinen Hotelzimmern, ging in keiner Phase seines Lebens einer geregelten Beschäftigung nach, arbeitete mit Vorliebe im Kaffeehaus und machte bei diversen Stammtischen oder in Freudenhäusern (wo er den Mädchen auch gerne den jeweils neuesten Tanz beibrachte) die Nacht zum Tage. Als notorischer Schnorrer (der übrigens zugleich ein Geizkragen war, wie sich spätestens bei der Eröffnung seines Nachlasses herausstellte, in dem ein erkleckliches zusammengespartes Sümmchen gefunden wurde) ging er seinen Gönnern und Freunden mächtig und regelmäßig auf die Nerven.

Paradoxer Pazifist

Als gebürtiger Jude hat er die Assimilation bis in den Antisemitismus hinein getrieben, und als ursprünglicher Pazifist Äußerungen während des Ersten Weltkrieges laut werden lassen, die wie Kriegspropaganda klangen. Als zeitweiliger Kritiker und Feuilletonist wie auch als Mitarbeiter des legendären, von Josef Hoffmann geplanten und von der "Wiener Werkstätte" ausgestatteten Kabaretts "Fledermaus" hat der "expressionistische Impressionist" (oder umgekehrt) über sein literarisches Werk hinaus auch regen Anteil am öffentlichen Diskurs seiner Zeit genommen.

Der große Frauenverehrer und -liebhaber brachte es bei den Damen der Gesellschaft, die er zu Musen stilisierte und mit manchmal peinlichen Huldigungen überschüttete, über das Verehren und Liebhaben hinaus offensichtlich nur in den seltensten Fällen zu körperlichen Kontakten - sodass er sich sexuell nur bei den "süßen Mädeln aus der Vorstadt" ausleben konnte, ob die nun zu der Kategorie von Frauen gehörten, die man damals als "Gefallene" umschrieb, oder nicht. Ohnehin war er als bekennender Pädophiler, der Nacktfotos von zwölfjährigen Mädchen sammelte und diese ungeniert mit zweideutigen Kommentaren versah, im erotischen Bereich gefährdet - und konnte von Glück reden, dass er nie behördlich belangt wurde, obgleich es sehr wohl hie und da zu Auseinandersetzungen mit den Eltern der derart angehimmelten Geschöpfe gekommen ist.

Als schwerer Alkoholiker und zeitweise Tablettensüchtiger musste er sich mehrfache Sanatoriumsaufenthalte gefallen lassen, sich auch Entziehungskuren an Otto Wagners neu errichtetem "Steinhof" unterziehen. Als Reformer, der wahre Schübe von asketischer Lebensweise erlitt und längere Aufenthalte in der freien Natur leidenschaftlich genoss, kann man ihn aber zugleich auch als einen der allerersten "Grünen" bezeichnen. Er ist ja auch als Autor eines aus dem Rahmen fallenden Werkes namens "Prodromos" hervorgetreten, in dem er als ganzheitlicher Naturapostel in rührend wichtigtuerischen Texten über das gesunde Leben dilettiert. Schließlich hat ihn gerade diese seine "gesündeste" Leidenschaft, als sich nämlich der 59-Jährige beim Schlafen bei weit geöffnetem Fenster seines Zimmers im fünften Stock des "Grabenhotels" im tiefsten Winter eine Lungenentzündung zuzog, ins Grab gebracht.

Ein Buch, zwei Ausstellungen

Alles das fasst der Residenz-Band in ebenso anschaulicher Weise zusammen, wie es uns in den Räumen des Jüdischen Museums auch dreidimensional erfahrbar gemacht wird. Architekt Denkinger hat eine kleine Achse geschaffen, auf der man aus dem Tag über den Abend in die Nacht vordringt: Der Spaziergang durch die Ausstellung beginnt zwischen großflächigen Fotografien vom Wien der Jahrhundertwende auf der Ringstraße; führt in die Interieurs von Kaffeehäusern, Restaurants, Hotelhallen, in denen sich Altenberg oft aufgehalten hat; mündet schließlich im legendären Kabarett "Fledermaus", dessen modellhafte Rekonstruktion von Prof. Franz Hnizko das Glanzstück der Ausstellung darstellt. Links davon wartet in Originalgröße die Restaurierung von Altenbergs Zimmer Nr. 33 im Grabenhotel auf den Besucher. Nur schade, dass das Mobiliar weitgehend verschollen ist, sodass man sich mit den Fotografien begnügen muss, mit denen die Wände historisch getreu vollgehängt sind.

Der Raum an der rechten Seite hingegen gehört voll und ganz den Musen des Dichters: in chronologischer Reihenfolge stehen Namen, hängen berühmte Porträts von Lina Loos oder Ea von Allesch neben denen von guten Geistern wie Helga Malmberg oder Paula Schweitzer, die in jugendlicher Anonymität die Seele, oftmals auch den Leib des zumeist leidenden oder zumindest (nach einer jeweils anderen Frau) schmachtenden Dichters gehegt und gepflegt haben. Da es wenige Künstler gibt, für die Beziehungen zu Frauen den Strom des "Élan vital" in derart heftiger Weise in Gang gesetzt haben, veranschaulichen diese Vitrinen mehr als alle anderen Elemente der Ausstellung Altenbergs inneres Lebensmosaik.

Der letzte Raum gehört Altenbergs Beziehung zu den anderen Kunstsparten. Porträts von Oskar Kokoschka und Max Oppenheimer zeigen den "Narren von Wien", auch die Partituren der Musikstücke, die Alban Berg nach fünf Altenbergischen "Ansichtskartentexten" verfasst hat, sind zu betrachten. Die haben im März 1913 zu dem berühmten "Watschenkonzert" im Wiener Musikvereinssaal geführt, das Arnold Schönberg (ein anderer prominenter Verehrer des Sonderlings) dirigiert hat und bei dem es (weniger wegen P.A.'s Texten als wegen Alban Bergs Musik) unter den biederen Wiener Honoratioren zu Handgreiflichkeiten gekommen ist.

Weiters liegen fünf von den zehn bekannten Alben auf, die der Liebhaber und Sammler der neuen Kunstgattung "Photographie" angelegt hat. Auch auf das Kunsthandwerk, das der "Diogenes von Wien" betrieben hat, wurde nicht vergessen: von den Ashantee-Frauen, die er bei ihrer Zurschaustellung im "Negerdorf" im Prater 1897 kennen und schätzen lernte, hat er sich die Kunst des Kettenknüpfens beibringen lassen; er hat sogar einen behördlichen Gewerbeschein zum "Verschleiß von Perlen- und Halbedelsteinketten" gelöst, mit denen er zur Aufbesserung seiner Tageskassa die weiblichen Bekannten in Kaffeehäusern beglückte.

Poetenleben in Vitrinen

Die Ausstellungen im Jüdischen Museum und im Literaturhaus unterscheiden sich und ergänzen einander dadurch, dass man im Ersteren einen Rundgang durch Altenbergs Leben und im Letzteren einen durch sein Werk machen kann. Im Literaturhaus sind unter zwölf Vitrinen die Hervorbringungen seines "Élan poétique" ausgestellt. Dazu kann man den Dichter auf vierzehn großen Wandfotos in seinen verschiedenen Lebensphasen studieren. In minutiöser Kleinarbeit haben die Kuratoren darüber hinaus alles zusammengetragen, was von und über Altenberg in der zeitgenössischen Presse erschienen war und nun in Broschüren geheftet für jeden Besucher einsehbar ist.

Warum gibt es derzeit so viel Wirbel um Peter Altenberg? Der Dichter kann nicht einmal einen runden Geburts- oder Sterbetag vorweisen. Aber wenn wir eine Brücke zwischen den beiden Jahrhundertwenden schlagen (vor hundert Jahren hat dieser "heimatlose Urwiener" in der Reichshauptstadt sein Wesen, oder wie seine zahlreichen Gegner meinen, sein Unwesen getrieben), dann müssen wir feststellen, dass hinter dem ersten Eindruck die Erkenntnis steht, einen sogar sehr aktuellen, ja einen heutigen Zeitgenossen vor uns zu haben. Der Schriftsteller Burkhard Spinnen hat ihn in seinem einfühlsamen Vortrag "P.A. und ich" zur Eröffnung der Ausstellung im Literaturhaus treffend den "Prototyp eines Popstars von Damals" bezeichnet: "Prodromos" hieße ja "Vorläufer" - und ein solcher sei Altenberg nicht nur der Grünbewegung, sondern auch des heutigen (erfolgreichen) Autorentyps gewesen; einerseits hätte er sich in seinen Skizzen hauptsächlich mit dem Banalalltag des Durchschnittsbürgers auseinandergesetzt und dadurch guten Absatz gefunden; andererseits in seiner Selbstdarstellungsshow ein halbes Leben lang die Marke "P.A." raffiniert im bürgerlichen Kunsthandel etabliert und sich pekuniär abgelten lassen.

"Seele" als zentraler Begriff

Tatsächlich hat kaum ein Künstler jener Epoche seine Zeitgenossen zu so vielfältigen Vergleichen und Definitionen herausgefordert. Sie reichen von "Sokrates des Wiener Alltags" über "Neurastheniker in stabiler Ekstase", "Komödiant der Seele" und "Romantiker des Banalen" bis zum "Letzten Minnesänger" und "Fliegenden Holländer der modernen Seele", und selbst Thomas Mann bescheinigt ihm in seiner "verfeinerten Menschlichkeit humanes Führertum". Auffallend ist, wie häufig diese Annäherungen um den zentralen Begriff der "Seele" kreisen, der im allgemeinen Verständnis und bei diesem Dichter ganz besonders mehr der weiblichen als der männlichen Ausformung von Menschsein zugeordnet wird. P.A. bekennt sich ja auch offen dazu, dass er "seit 17 Jahren nur darauf aus ist, den Menschen eines zu lehren: Seele zu bekommen!"

Die Seele einer Frau ist für Altenberg "eins mit den Äußerungen ihres Körpers, und diesen mit der eigenen Seele zu besitzen" scheint in der Beziehung zwischen Mann und Frau sein angestrebtes Ideal zu sein. Das klingt äußerst fragwürdig, verlangt eine vertiefte Lektüre seiner teilweise so oberflächlich anmutenden Skizzen, Aphorismen, inneren und äußeren Stimmungsbilder. Hat man in diese (durch das neue Buch) und in seine Lebenswelt (durch die beiden Ausstellungen) einen intensiveren Einblick erlangt, hat man(n) zu dem ewigen Lebensthema "Frau" jedenfalls wertvolle neue Aspekte hinzugewonnen. Fest steht, dass es für einen Unterricht in der Grundschule der weiblichen Seele seit hundert Jahren keinen besseren Lehrer gibt als den durch sein Leben und Werk gleichermaßen polarisierenden Dichter, Schnorrer, Bohemien und Troubadour Peter Altenberg - auch wenn viele seiner Aussagen kontroversiell geblieben sind. Auch wenn die Frage offen bleibt, ob er persönlich an dieser Schule mit Auszeichnung promoviert hat oder letzten Endes durchgefallen ist wie fast alle Männer.

Ausstellung im Jüdischen Museum (Palais Eskeles) - 1010, Dorotheergasse 11; vom 22. 1. bis 27. 4. 2003; Tel. 535 04 31; http://www.jmw.at

Ausstellung im Literaturhaus Wien - 1070, Seidengasse 13; vom 22. 1. bis 27. 4. 2003; Tel. 526 20 44; http://www.literaturhaus.at

Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos: Peter Altenberg - Extracte des Lebens. Residenz-Verlag 2003 , 224 Seiten. ISBN: 3-7017-1320-0

Freitag, 07. Februar 2003

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