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Zum 70. Geburtstag der Schriftstellerin Susan Sontag

Die Intellektuelle par excellence

Von Walter Sontag

Die in New York Geborene und wieder dorthin Heimgekehrte verkörpert den Typus der Intellektuellen par excellence. In ihr scheint die kosmopolitische Essenz New Yorks lebendig, aber ihr Selbstverständnis reicht weit über den Erlebnisraum des Woody Allen, des Broadway und der Künstlerkolonie am Hudson River hinaus. Wach, vital, streitbar, vielseitig, in der Öffentlichkeit präsent - aber auf hohem Niveau: So wird sie wahrgenommen, so tritt sie auf, so sind ihre Schriften. Aufklärung ist ihr Bekenntnis. Als eigenwillige Vertreterin der Avantgarde ihrer Zunft begann der Aufstieg der engagierten Kritikerin. Ihre Thesen blieben provokant, ihre Haltung unabhängig. Mit aller Konsequenz, geradezu moralisch, lebte sie den eingeschlagenen Weg aus, auch im Privaten, in ihren Bindungen und selbstgewählten Verpflichtungen.

Von der Westküste, wo sie die Jugend verbracht hatte, führte ihr Weg vor gut vierzig Jahren in die Stadt ihrer Herkunft zurück. Im geschmähten Kalifornien war sie dem sprichwörtlich amerikanischsten aller American ways of life unmittelbar ausgesetzt. Die Ostküste dagegen erscheint ihrem Wesen, ihren Überzeugungen, ihrer Ernsthaftigkeit wohl angemessener, nicht nur geographisch Europa näher, vor allem näher den Wurzeln der westlichen, abendländischen Kultur. Hier in der akademisch-gepflegten, verfeinerten, liberalen Atmosphäre des amerikanischen Gründungsterritoriums hat sich ein Hauch des Flairs der Alten Welt erhalten, der durch die Schriften der jüdischen Meisterdenkerin weht.

Vielfalt der Themen

Sich Susan Sontags Werk zu nähern heißt scheitern: Das Konvolut aus Aufsätzen, Einwürfen und originell erzählender Literatur zusammenzufassen ist nicht möglich, eine Art Quintessenz ihres Denkens und Schreibens zu destillieren höchst gewagt oder wiederum nichts sagend. Vielleicht eine "ästhetische Aufklärung" der postindustriellen Moderne? Zu vielfältig sind ihre Themen, zu gewaltig ihre Produktivität, zu vielgestaltig die Genres, zu einfallsreich ihre Analyse, zu ausladend ihre Phantasie. Unbewusstes und Imaginatives durchziehen ihr belletristisches Œuvre. Doch zugleich zeichnen prägnante Ereignisfolgen, anschauliche, sinnliche Darstellung und historisierende Elemente ihre Erzähl- und Romanprosa aus. Ironie, Witz und Überraschung verbinden Traumwelt und gegenständliche Darstellung. In gleicher Weise konkret, befassen sich ihre Essays seit je mit präzisen, fest umrissenen Fragen zur Kultur und mit zeitgenössischen Befindlichkeiten und Strömungen. "Krankheit als Metapher" und "Aids und seine Metaphern" zählen zu solchen - längst berühmt gewordenen - Fallstudien der eigenen und der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Analysen bilden stets die unverfälschte Bestandsaufnahme, das Beispiel, der Fall, nicht dagegen Gesinnung und Doktrin. Dieses gewissermaßen induktive Vorgehen kennzeichnet auch die Behandlung kunstästhetischer Themen und ihre Reflexionen zur Wirkung der Kunst. Und das Spektrum spannt sich weit: Film, Fotografie, Malerei, Anthropologie, Theater, Pop, die Phalanx der Kunsttheoretiker, die Kunst des Happenings seinerzeit und die Installationen heute.

Die Liebe der Kritikerin gilt ohne Zweifel der Literatur und den Schöpfern, deren Genius, Vitalität und Erfindungsreichtum sie nicht müde wird zu preisen - oder zu zitieren. Proust, Kafka, Beckett, den Hesse des "Steppenwolf" und andere. In Susan Sontags Urteil über Künstler und Stilrichtungen stehen das Pragmatische, Operationale, kritisch Prüfende Seite an Seite mit Anerkennung, spontaner Bewunderung und unverborgener Emotion. Hinzu kommt eine unbekümmert wirkende - wenngleich wohl konstruierte - Frische und Direktheit in der Darstellung. Zwar scheint eine solche Verbindung in Amerika viel eher möglich als auf dem europäischen Mutterkontinent, wo sich der Geist nicht die Blöße des Sentiments erlauben darf. Doch findet das Nebeneinander strenger, objektivierender Recherche und zustimmender, warmer Sympathie in dieser Konsequenz und Glaubwürdigkeit kaum eine Entsprechung in einem anderen essayistischen Œuvre vergleichbaren Niveaus. Diese affektiv getönte Argumentationshaltung erweist sich als genuines Merkmal ihres Schreibens; sie hebt die Erörterungen der erfolgreichen Kritikerin weit über die hochtrabende, froh gemute "Diskurskultur" und das unverbindliche bis operettenhafte anything goes der Postmoderne hinaus.

Auch Susan Sontag steht im Bann der modernen, brüchigen Bewusstseinslage. Folgerichtig sind ihre Interpretationen und Thesen den Absolutheitsansprüchen früherer Epochen entwachsen. Woher die Antworten nehmen im Ideenbabylon der westlichen Zivilisation? Fündig wird die Suchende im Angebot der Entwürfe und Fragmente, die der unaufhörlich speiende Vulkan der Künste über unsere Gesellschaften ergießt. Sie führt zwei drastische Beispiele der produktiven Raserei ins Feld, die das brisante Gemisch aus Orientierungslosigkeit, monomanen Entgrenzungsphantasien und Konsummentalität bezeichnen und die Wirkung der neuen technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts auf die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten dokumentieren. So stellt sie die den Absolutheitsanspruch und die Ich-Auflösung der pornographischen, sexuellen Phantasie der Dichtung der hergebrachten fanatisch-religiösen Überwindung des Ich und den psychoanalytischen Erlösungsträumen gegenüber. Hochkonjunktur hat im Zeitalter der Atomwaffen und Menschenpark-Prophetie auch die Katastrophenphantasie - für Susan Sontag schon 1965 ein Thema - seinerzeit freilich vorwiegend noch ein filmisches Genre.

In radikaler Modernität vertraut die Literatur- und Stilkritikerin auf eine säkularisierte Sensibilität, auf die Sinne, auf die unmittelbare Wahrnehmung. Damit wendet sie sich von der traditionellen Interpretation ab, verzichtet auf philologisch gestrickte Sinnzusammenhänge. Die zeitgenössische Befindlichkeit, vor allem auch die Vorgaben der Avantgarde der sechziger Jahre setzen die Maßstäbe - somit unvermeidlich lückenhaft und dezidiert selektiv. Doch die Differenziertheit und Ernsthaftigkeit, die die Beweisführung der Vordenkerin von Anfang an prägen, wichen von der üblichen Erlebnisweise - nicht nur - des amerikanischen Literaturbetriebs ab. Freilich ist relativierend hinzuzufügen, dass die großen, programmatischen Essays der First Lady der amerikanischen Literaturkritik mittlerweile längst zum Kanon gehören.

Europäische Einflüsse

Der Eindruck eines starken Zugs der Kunst- und Literaturbeflissenen zu den europäischen Traditionen drängt sich auf. In diese Richtung deutet zumindest die Wahl der Künstler und Denker, denen ihre Aufmerksamkeit gilt, auf die sie immer wieder zurückgreift. So ist etwa der Essayband "Against Interpretation", der den Ruhm Susan Sontags begründete, über weite Strecken der Auseinandersetzung mit französischen Geistesgrößen und Künstlermenschen gewidmet. Verdächtigerweise stehen ganz oben auf der Liste französische und deutsche Filmschaffende und Dramatiker wie Cocteau, Godard, Syberberg bzw. Brecht, Hochhuth, Genet, aber auch Italiener nehmen einen beachtlichen Rang ein. Die Betrachtungen über bedeutende Autoren wie Ionesco, Cioran oder Canetti zeugen von profunder Werkkenntnis und feinnerviger Beobachtungsgabe, von souveräner literaturgeschichtlicher und kulturanthropologischer Übersicht. Gemäß der Devise "Traue nie dem Erzähler, traue der Erzählung" (D. H. Lawrence) ist die Spurensuche zunächst auf die künstlerischen Hervorbringungen selbst gerichtet. Denn das Werk, so Sontag, spreche aus sich selbst. Allerdings leide unsere Epoche prinzipiell am Übermaß, unsere Kultur an der Überproduktion. In der Überfülle der Eindrücke, im Dschungel der Bedeutungen, im Dickicht der Behauptungen und Vereinnahmungen gehe das Original unter. "Das Werk Kafkas zum Beispiel ist zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden." So entrüstet sich die Verfasserin in ihrem Manifest von 1964 für die Schärfung der Sinne und gegen Interpretation. Ihr eigener Bezugspunkt bleibt dabei stets das von Moderne und Avantgarde gespeiste Bewusstsein.

Den erkennbaren, tatsächlichen Werkspuren nachgeordnet sind die Erläuterungen, der Werdegang, das Leben der Künstlermenschen. Hier fördert der zweite Blick der Kritikerin Ergänzendes, Brauchbares zutage. So im Fall Canetti, bei dem die Sehnsucht nach dem langen Leben den Fluchtpunkt der gesamten Existenz markiert: Äußeres Leben, Arbeitsweise, Œuvre, inhaltliche Positionen und Charakterzüge laufen und wirken in diesem Dichter und Denker zusammen. Dessen schier unendliche Geduld und Ausdauer, das Streben nach umfassendem Wissen, sein Aufgehen im Geist bedürfen - bedurften - schlicht eines langen Lebens, wie der mit "Geist als Leidenschaft" betitelte Essay der amerikanischen Bewunderin bezwingend schildert. So einer verschwindet einfach für ein Vierteljahrhundert und dann schleudert er das soziologische Epos "Masse und Macht", dieses monumentale Ungetüm, aus seiner Bücher- und Wissenshöhle hervor. Alles in sich selbst zu fühlen, alles in einem Kopf zu vereinen - das ist nur möglich in den Katakomben der Gelehrsamkeit. In dieser Werkstatt herrscht der Geist. Und der Geist ist dem Tod immer überlegen. Nicht den Verlust der jugendlichen Attribute, nicht den körperlichen Verfall fürchtet Canetti. Nein: "Weil der Körper für ihn so unwirklich ist, gewahrt er nichts Entsetzliches in einem extrem langen Leben", und weil der Geist für ihn das allein Gültige repräsentiert, vermag er den Tod herauszufordern.

Elegant vernetzt Susan Sontag in den Analysen ihre Beobachtungen und Recherchen. Zu dieser gewinnenden Leichtigkeit trägt auch ihr Stil bei. Die Extravaganz in all ihrem Schreiben resultiert aus der Perspektive des eigenen, d. h. eines modernen Erlebens. Vor diesem Hintergrund erst sichern der Vergleich von Stilepochen und schöpferischen Zeugnissen des gleichen Sujets das erkundete, eroberte Terrain ab, wie etwa in der meisterhaften Abhandlung über die erotische Ekstase. Stets fußen ihre kunstästhetischen Erörterungen auf dem Gegenständlichen, Objektivierbaren, auf unmittelbarer Erfahrung und dem Gebrauch der Sinne. Nicht die blasse Erinnerung zählt, vielmehr das Jetzt des Fühlens und Sehens. Dabei fällt die bewusste Wahrnehmung oft sehr flüchtiger, zeitgenössischer Strömungen auf. Ein eindrucksvolles Beispiel liefern die "Anmerkungen zu Camp", einer urbanen Variante des kulturellen Empfindens von Bedeutung namentlich im Nordamerika der sechziger Jahre. In Wahrheit eine Deklaration, reihen 58 eingegliederte Artikel minuziös-fragmentarisch auf, was als "campy" gilt - und was nicht. Das unsystematische, eklektische Sammelsurium von Charakterisierungen und Schlüsselwerken enthält Schwanensee, Bellinis Opern, aber nicht etwa Wagner, nennt die Liebe zum Unnatürlichen, den Sieg des Stils über den Inhalt, die Tendenz zu einer homosexuellen Ästhetik, ein Bereich, in dem das aktive Mitglied der New Yorker Künstlerszene zweifellos über besondere Kompetenz verfügt.

Diese Repräsentantin der Moderne verliert sich also nicht etwa im Reich der Abstraktion oder gar des unverbindlich Allgemeinen, wie dies so genannte große Schriftsteller seit dem vermeintlichen Ende der erzählenden Literatur gern für sich und ihre Ergüsse in Anspruch nehmen. Ihr Schreiben ist pointiert, in der Belletristik wie in der theoretischen Argumentation.

Die Moralistin

Susan Sontag, die am 16. Jänner ihren 70. Geburtstag feiert, ist aber nicht nur die ästhetisch versierte Literatin. Mit Vorliebe äußert sie sich kritisch zu aktuellen, vor allem politischen Streitfragen. Die Liste ihrer Interventionen und Einwürfe ist lang. Hier kommen Weltläufigkeit und kosmopolitische Bildung zum Tragen. Sarajewo, die Kampagne für Salman Rushdie, der Reisebericht "Trip to Hanoi" stehen stellvertretend für ihr Engagement. Ihre Sicht reicht weit in die fremden Kontinente jenseits der westlichen Kultur hinein, so in den islamischen Raum. Kein Wunder, wenn sie sich differenziert mit dem 11. September 2001 auseinandersetzt, der ausgerechnet ihre Stadt, die Weltmetropole, das Herz des Kapitalismus traf. Sie fragt nach den Ursachen, was bei ihr heißt, nach der amerikanischen Mitverantwortung und möglichen Schlussfolgerungen. Indem sie auch nicht die Konfrontation mit dem übermächtigen patriotischen Zeitgeist scheut, muss sie als durch und durch moralische Autorin gelten, vergleichbar mit der 1989 verstorbenen Mary McCarthy.

Der katholisch geprägten Autorin wird die zwanzig Jahre jüngere jüdische Vertreterin des Nouveau Roman als Doyenne der amerikanischen Kulturszene schließlich folgen. Beide sind sie Verfasser brillanter Essays und vielbeachteter Romane. Beide verbindet das literarische Interesse. Beide stellen sich den großen moralischen Themen ihrer Zeit. "Eichmann in Jerusalem", der aufwühlende Bericht der großen Denkerin Hannah Arendt, war beiden Anlass, die Debatte über Schuld und Verstrickung im Dritten Reich, über unsere Urteile danach zu suchen. Syberbergs Hitler-Film und die Nuba-Dokumentation der Riefenstahl, der kalten Kult-Ästhetin und Nazi-Getreuen, sind Herausforderungen für die amerikanische Jüdin, die sie auf ihre Art beantwortet. Auch zu "Vietnam", dem amerikanischen Debakel schlechthin, äußern sich beide Frauen. Moralisch gescheitert, als Weltmacht gedemütigt, steht das Mutterland der Demokratie auf der Anklagebank. Vietnam-Report, Hanoi, das Massaker von My Lai, die Synonyme der endgültig verlorenen Unschuld unterziehen die beiden Frauen einer schmerzhaften Prüfung.

Dennoch und deshalb: Ein glückliches Land, das Hannah Arendt, Mary McCarthy und Susan Sontag für sich beanspruchen kann.

Freitag, 10. Jänner 2003

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