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Frederic Morton, ein Amerikaner mit Wiener Herkunft

Morton, Frederic: Mit der Kraft des Steins

Von Helga Häupl-Seitz

Sein Geburtsdatum merkt man ihm ebenso wenig an wie den sprichwörtlich hektischen New Yorker Alltag, den er nun seit fast 60 Jahren erlebt. Und doch: In dieser weitläufigen Stadt gelang es ihm, dem Emigranten wider Willen, nicht nur eine neue Heimat zu finden, sondern auch in einer für ihn zunächst fremden Sprache literarischen Weltruhm zu erlangen. Sein Generalthema: Österreichs Geschichte an entscheidenden Wendepunkten.

Nicht zufällig gehen die dabei gewählten Daten mit Autobiographischem einher: An jenem Tag im Jahr 1938, "als in Österreich die Hakenkreuze aufblühten wie die Gänseblümchen", endete etwa auch für die Familie Spiegelglas der Traum von einer neuen Heimat: Am "Türkenplatzl" hatte die heranwachsende Familie und ihre Mitarbeiter im expandierenden Metallbetrieb Arbeit und Wohnung gefunden und durch kommunale Einrichtungen und eine Betstube auch etwas von dem erhalten, was ihnen einst das Shtetl im slowakischen Varugny bedeutete: Heimat.

Mittelpunkt ist der ehemalige Dorfschmied Berek Spiegelglas, der, zwar völlig mittellos, dennoch ein unerschütterliches Vertrauen in sein Glück und seinen Stein hegt, der angeblich aus der Klagemauer in Jerusalem stammt und als Symbol für ewig geltende Werte dient. Wie eine Figur aus alten Legenden bezieht er aus diesem Stein jene Kraft und Energie, die er für den Aufbau seiner bescheidenen Existenz und das Wohlergehen der kleinen Gasse benötigt, die er als seine neue Heimat erkoren hat. Sie wird 65 Jahre lang Zeugin einer lebendigen Familiengeschichte, bevor Enkel Leon mit dem sagenumwobenen Stein aus Wien fliehen muss.

Die Thelemanngasse

als Zentrum

Der wohl berührendste Roman Frederic Mortons "Ewigkeitsgasse" hat tatsächlich seine Wurzeln in Wien. Doch nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, rund um den Türkenschanzpark, sondern in Hernals nahe dem Yppenmarkt: Die kleine Gasse ist die Thelemanngasse, in der Frederic Morton als Fritz Mandelbaum am 5. Oktober 1924 zur Welt kommt: "Sie war das Lebenswerk meines Großvaters, das sich auch auf meinen Vater verpflanzt hat", sieht er rückblickend. Auf Nummer 8 hatte 1888 sein Großvater die Fabrik "Bernhard Mandelbaum und Söhne" gegründet. Sie erzeugte neben Bijouteriewaren, Schuh- und Gürtelschnallen auch Orden und Auszeichnungen für die Monarchie. Als die Fabrik expandieren musste, erwarb der Großvater zusätzlich das Haus Nr. 4. Die alten Räumlichkeiten der Werkstätte ließ er als Betraum einrichten. "Er war ein äußerst sozial denkender Mensch. Er hat sein verdientes Geld immer wieder in seine Gasse und für alle investiert."

Wie der Großvater verstand sich auch der Vater vor allem als Handwerker: "Wir haben nie viel ausgegeben. Unsere Familie besaß kein Auto, ja nicht einmal Wasser und WC in der Wohnung. Mein Vater hat es sich nie nehmen lassen, täglich selbst hinter seinen Maschinen zu stehen und zu stanzen - so sehr hat er das Handwerk geliebt."

1936 kam der Großvater bei einem Betriebsunfall ums Leben; der Vater übernahm die Fabrik und kümmerte sich um die Familie - bis zur Reichskristallnacht, in der Frederic Mortons unbeschwerte Kindheit jäh beendet wurde.

In dieser Nacht wurde sein Vater festgenommen und ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Nach vier Monaten gelang es ihm zu entkommen, unter der Bedingung "das deutsche Reich zu verlassen". Im Juli 1939 reiste er mit seinem Sohn Fritz nach London. Die Mutter und sein kleiner Bruder blieben noch bis zum Jahresende in Wien. - "um zu versuchen, wenigstens noch die neuen Möbel, auf die sie 20 Jahre warten musste, zu retten", versteht der Sohn noch heute ihr Zögern. Doch auch sie musste alles zurücklassen: Die Möbel, die neue, größere Wohnung, die Fabrik - und die geliebte Thelemanngasse. Mit einem amerikanischen Visum gelang ihr und dem kleinen Bruder mit einem der letzten Flugzeuge die Flucht nach Großbritannien.

Aber London war nur eine Zwischenstation. 1940 ging es mit dem Dampfer über den großen Teich: New York war der neue Wohnsitz der Familie Mandelbaum. "Dass mein Vater unbedingt nach New York wollte und beispielsweise nicht nach Schweden, wo er ebenfalls ein kleines Büro hatte, hängt sicher mit dem Schock des Konzentrationslagers zusammen. Nur weit weg genug wollte er sein."

Die neue Heimat bot Frieden und Sicherheit. Der Preis dafür war der Verlust des letzten Eigenen, das die Familie mitgebracht hatte - des Namens: "Als gelernter Schnittenstanzenmacher hätte mein Vater auch gleich einen Job bekommen. Doch dazu musste man bei der Gewerkschaft sein, die damals ganz offiziell antisemitisch war. Es wurde ihm beschieden, dass er für das Union Central Committee in Washington, obwohl sie ihn nie persönlich kennen lernen würden, seinen Namen gesetzlich ändern sollte." So wurden aus Franz und Rosa Mandelbaum Frank und Rose Morton, aus Fritz und seinem Bruder Hans Fred und John Morton. (Seinen Vornamen Frederic legte er sich nach dem Erscheinen seines ersten Buches auf Anraten seines Verlegers zu.)

Die nahegelegte Entscheidung "war für uns alle ein Schock. Für meinen Vater kam er erst später, weil für ihn am Anfang nur wichtig war, dass er seine Familie erhalten kann. Mein Vater - er ist vor zwei Jahren im Alter 100 Jahren gestorben, meine Mutter im Vorjahr mit 96, war immer ein glühender Wiener."

Zwar gelang es ihm später, sich wieder mit einer kleinen Werkstätte selbständig zu machen; ein Haus wie die "Thelemanngasse 8" zu finden, blieb aber unerfüllt. "Der Hausnummer ist er aber in gewissen Sinn treu geblieben: Wir haben in der 808. Straße in Washington Heights gewohnt" - dort, wo sich die meisten österreichischen und deutschen Emigranten einquartiert hatten und verzweifelt versuchten, wieder ein wenig von der alten Heimat aufzubauen und liebgewordene Traditionen zu pflegen.

Chemie und Literatur

Ursprünglich wollte Frederic Morton, wie sein Vater und Großvater, ein Handwerk erlernen. "Ich war völlig unintellektuell, habe sogar einen Hauslehrer für die Volksschule gebraucht und hatte nur zwei Lieblingsfächer: Turnen und Latein." So entschied er sich in London für die Bäckerlehre, "weil ich dachte, Bäcker kann man immer brauchen." Auch in New York besuchte er zunächst die Bäckergewerbeschule. Aufmerksame Lehrer ermutigten ihn, am City College Nahrungsmittelchemie zu studieren. Mit dieser Beschäftigung erwachte plötzlich sein Hunger nach Literatur: "Ich habe auf einmal 20 Bücher gleichzeitig zu lesen begonnen und fing an, heimlich zu schreiben". So "seltsam" war die Entwicklung auch für ihn, dass er sich lange Zeit nicht getraute, den Eltern seine literarische Neigung einzugestehen.

Erst als er die anorganische Chemie schon fast fertig studiert und einen Vertrag mit einem großen Backwarenkonzern in der Tasche hatte, entschied er sich endgültig für die literarische Laufbahn und einen weiteren Schulbesuch, diesmal auf der New School for Social Research, wo er später den Master degree für Sprachenphilosophie erwarb. Und er schrieb sein erstes Buch "The haunt", benannt nach einem Gedicht des englischen Lyrikers Francis Thompson ("The haunt of haven"). Zu seinem Erstaunen wurde es nicht nur von der Fachwelt angenommen, sondern errang auch einen Literaturpreis.

Einem Stipendium für die Columbia Universität folgte eine mehrjährige Lehrtätigkeit für englische Literatur an verschiedenen Universitäten, obwohl er noch gar nicht fertig studiert hatte - "Eine völlige Hochstapelei, weil ich damals nur fertiger bachelor of chemistry war", muss er noch heute darüber lachen. Doch beenden wollte er sein Studium sowieso nicht: "Dann wäre ich nur Gefahr gelaufen, Universitätsprofessor statt Schriftsteller zu werden."

Mit journalistischen und literarischen Beiträgen in großen Magazinen wie dem "Esquire", oder dem "New York Playboy" bestritt Frederic Morton seinen Lebensunterhalt, denn seine zwei nächsten Bücher genossen zwar ebenfalls in der Fachwelt Ansehen, wurden aber kommerziell kein großer Erfolg.

Wiedersehen mit Österreich

Für ein Reisemagazin reiste er wieder nach Österreich, um über die gehobene Gesellschaftsschicht und über Essen und Trinken zu schreiben. Zum Glück hatte der in diesen Belangen Unbewanderte bereits seine Frau Marcia Coleman-Morton an seiner Seite, die ebenfalls journalistisch tätig war: "Sie war eigentlich die Reise- und Gourmetjournalistin, die auch zwei Kochbücher "The art of Austrian cooking" und "The art of Viennese pastry" geschrieben hat. Sie war mein "seeing eye dog" - mein Blindenhund auf dem Gourmetsektor. Ich habe immer gesagt, "you are my tasting palate wife", schmunzelt er.

Der große Durchbruch gelang ihm 1963 mit der Geschichte der Rothschilds. "Ab dann konnte ich mir leisten, zu schreiben, was mich wirklich interessierte." So begann Frederic Morton, die österreichische Geschichte mehr und mehr zu seinem Generalthema zu machen. Es folgten u. a. "Ein letzter Walzer", der Wien, seine Intelligenz und seine Bürger rund um den Selbstmord Kronprinz Rudolfs 1888/89 beschreibt und "Wetterleuchten", das die Ereignisse und die aufkeimende Kriegseuphorie im Wien von 1913/14 rund um die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinands aufrollt.

Verbunden mit dem Wunsch nach österreichischer Geschichte war aber auch, die seiner Familie nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Über 40 Jahre später ließ er den Zauber seiner verlorenen Kindheit in den Romanen "Die Ewigkeitsgasse" und "Crosstown Sabbath" wiederauferstehen. "Der Verlust des Sabbats ist für mich nicht nur im religiösen Sinn gedacht. Es ist gleichzeitig der Verlust der Muße, des Lebensgenusses. Was ich zu erzählen versucht habe, war das festgesetzte Ritual, das mein Vater jede Woche zelebriert hat: Er hat immer die Fabrik eigenhändig zugesperrt. Mit dem Herunterlassen des Rollbalkens seines Schreibtisches war auch für uns Kinder immer Feiertag. Niemand hat mehr ein Wort über schlechte Schulnoten fallen lassen. Am Nachmittag gab es dann, schön herausgeputzt, den traditionellen Kaffeehausbesuch."

Wiener Vorhaben

Soeben ist sein Buch "Das Zauberschiff" auf Deutsch erschienen und wurde im Wiener Rathaus von Kulturstadtrat Peter Marboe präsentiert. Wieder gibt eine persönliche Erinnerung den Rahmen für eine fiktive Geschichte: Ein eleganter Luxusdampfer verlässt im Mai 1940 den Hafen von Southampton. An Bord befindet sich eine bunte Mischung von Menschen, darunter auch der 19-jährige Leon.

Wie in seinen anderen beiden Romanen "Wetterleuchten" und "Ein letzter Walzer" scheint auch hier die Zeit noch stillzustehen. Zwischen all der (aufgesetzten) Fröhlichkeit und dem Wunsch, sein Leben genauso wie früher zu gestalten, begleiten Angst und Sorge um die ungewisse Zukunft diese Fahrt.

Intendant Rudi Klausnitzer bescherte ihm einen weiteren Auftrag: Anlässlich des 200. Geburtstages des Theaters an der Wien wird Morton für Herbst 2001 seinen Roman "Ein letzter Walzer" als Musical aufbereiten: Der Stoff - eine Rahmenhandlung in der Gegenwart, gepaart mit dem über drei Jahre hinweg recherchierten Material aus dem Roman - verspricht eine mitreißende Mischung.

Was ihn besonders freut: Die "Ewigkeitsgasse" wird noch heuer von dem Grazer Regisseur Curt Faudon in Wien verfilmt, der auch schon für die filmische Aufbereitung von "Crosstown Sabbath" verantwortlich war. Das Budget dazu, u. a. von der Stadt Wien, ORF und 3sat subventioniert, steht bereit. Eigens dafür hat er das Drehbuch verfasst: Wie im Roman spielt ein Stein, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, eine wichtige symbolische Rolle. Sorgen, Wünsche und Sehnsüchte werden ihm per Zettel ebenso zugesteckt wie Dankesbezeugungen und Lobpreisungen. "In meiner eigenen Familie gab es keinen Stein. Ich wollte eine Metapher für unsere generationenlange Verbundenheit zur Thelemanngasse finden", sagt Frederic Morton schlicht. "Sie war für uns alle der Nabel der Welt."

Zwei weitere Romane sind ebenfalls im Entstehen. Bis sie bei uns erscheinen, wird zwar noch ein wenig Zeit vergehen. Aber das, so findet jedenfalls der mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Stadt Wien Geehrte hat der Wiener dem schnelllebigen New Yorker voraus: er kann warten. Vor allem, möchte man hinzufügen, wenn sich das Warten so lohnt wie bei den Romanen Frederic Mortons.

Die genannten Werke Frederic Mortons wurden auf Deutsch während der letzten Jahre im Wiener Deuticke Verlag veröffentlicht. Unlängst ist der Roman "Das Zauberschiff" erschienen. Er wurde von K. Lichtenecker übersetzt.

Freitag, 28. April 2000

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