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Vor 150 Jahren wurde der Schriftsteller Pierre Loti in Rochefort geboren · Eine Spurensuche an Frankreichs Westküste

Loti, Pierre: Ein trauriger Weltreisender

Von Ingeborg Waldinger

Regenschauer jagen über das weite Küstenland. Kühe grasen auf salzigen Weiden. Die im Gezeitenwechsel des nahen Atlantik anschwellende Charente umschlingt träge eine kleine Stadt: Rochefort.

Auf halber Höhe zwischen Brest und Biarritz wird 1666, letzte 24 Flusskilometer vom Ozean entfernt, die weiße Rasterstadt aus dem sumpfigen Boden gestampft. Seemachtstratege Colbert wählt den
Standort, Festungsarchitekt Vauban plant. Europas größtes Marine-Arsenal entsteht. Der Feind kommt vom Meer, er heißt England. Frankreich befestigt seine Westküste. Das Arsenal in Rochefort baut,
bewaffnet und unterhält Frankreichs gigantische Kriegs- und Expeditionsflotte. Eine hier 1816 gestartete Senegal-Expedition gelangt zu traurigem Ruhm: Flottenkommandant de Chaumareys manövriert seine
Fregatte Medusa vor Mauretaniens Küste in den Schiffbruch, rettet sich samt Generalstab in die wenigen Beiboote, nimmt die Besatzung auf einem improvisierten Floß ins Schlepptau. Doch die Seile
reißen. Nur 15 Mann überleben die Höllenfahrt unter sengender Sonne. Maler Theodore Gericault bannt das Drama auf Leinwand.

Fakten und Legenden um die Herren der Meere nähren Konversation und Fantasie der Bewohner von Rochefort. Steter Aufbruch, ungewisse Rückkehr und der Duft der weiten Welt konterkarieren die
provinzielle Verschlafenheit und hugenottische Strenge der Stadt. Am 14. Jänner 1850 erblickt Julien Viaud das Licht von Rochefort. Der Großvater Marine-Offizier, ein Onkel unter den Überlebenden der
Medusa, der Bruder Marinearzt. Nachzügler Julien aber wächst als exzessiv behütetes Kind auf. Großmutter, Tanten, Mutter, Schwester · allzu erwachsene Wächterinnen in schwarzen Kleidern · schotten
ihn gegen alles Gewöhnliche, Hässliche ab. Was wunder, wenn die Gesänge nächtens vorbeiziehender Seemänner die kindliche Fantasie anheizen. Wenn der Refrain „Gâteaux, gâteaux, mes bon gâteaux
chauds" der winters hausierenden Kuchenverkäuferin in das verbotene Dunkel der Straße lockt, während man im Hause Viaud, in der gedämpft-bourgeoisen Atmosphäre des salon rouge oder salon
bleu Tee reicht und aus der alten Familienbibel liest. Julien wird bis zur Halbwüchsigkeit von Hauslehrern unterrichtet. Gleichaltrige Spielgefährten gibt es kaum, nur wohlerzogene Töchter
befreundeter Familien. Eben jene Sorte von „Provinzfreundschaften, die Generationen zurückreichen, und wie ein Erbstück weitervermacht werden."

Der Benjamin spielt Puppentheater oder studiert seine Katze Suprématie („Überlegenheit"). Er zieht sich in sein „Mekka" zurück, den Hof, wo ihm der 14 Jahre ältere Bruder ein romantisches
Biotop anlegt, oder in sein „Museum" im Dachgeschoss, wo ihm akribisch verwahrte Objekte die Beständigkeit seiner Welt vortäuschen. Ein rühriger Großonkel, früher Arzt in Afrika, ergänzt die
Kollektion um exotische Souvenirs. Und Julien dürstet in seiner Fantasiewelt nach Natur, Freiheit, Aufbruch.

Die ersehnten Ausflüge zum südlich der Stadt gelegenen Landgut „Limoise" und die Ferien in Großmutters Haus auf der nahen Insel Oléron lassen das Rochefortaiser Heim noch enger erscheinen. Hier der
verborgene Charme einer monotonen Heidelandschaft, dort die wilde Archaik einer Insel. Hier das Schmökern in alten Bordbüchern, dort die Entdeckung familieneigener Zeugnisse der
Protestantenverfolgung. Doch die wechselweise Begegnung mit dunkler Geschichte und freier Natur zeitigt Folgen: Juliens ursprüngliches Berufsziel Pastor weicht · vorerst · der mobileren Variante des
Missionars.

Schon nagt das Wissen um die Vergänglichkeit alles Schönen an der kindlichen Seele, entflammt der Wunsch, das Bleibende gleich einem Fetisch festzuhalten. Tausend kleine Dinge ohne besonderen Wert ·
die Muscheln von Oléron, das im Regen vergessene und mit der Schleimspur einer Schnecke überzogene Geschichtsbuch, der von südfranzösischen Ferienfreunden geschenkte Zitronenfalter, eine von Bruder
Gustave aus Tahiti geschickte Blume · bilden die Basis eines Universums voller Erinnerungen. Erinnerungen, die ein lange geführtes Tagebuch füllen, um „gegen die Fragilität der Dinge und meiner
selbst anzukämpfen". Erinnerungen, die ein außergewöhnliches literarisches Werk prägen und die Fragmente der verlorenen Zeit zu Reliquien höhen. Julien Viaud wird eines Tages seinen „Pakt mit der
Marine" besiegeln, die Weltenmeere befahren, und als

Pierre Loti in die Literaturgeschichte eingehen.

Universum der Erinnerungen

1879, als Lotis Erstling „Aziyade" (anonym) bei Calmann Levy in Paris erscheint, gibt der Naturalismus den literarischen Ton an. Doch Lotis Erzählungen negieren den gängigen Stil, zeichnen keine
exemplarischen Milieus, sondern pathetische Schicksale. Der Autor singt sein melancholisches Lied auf das Leben, fragmentiert seine Welten in Momente, Impressionen. Hiebei webt er Briefe, Anekdoten
und ethnologische Anmerkungen in den Stoff seiner Träume ein. „Ramuntcho", „Islandfischer", „Das Leben eines Spahi" entführen den Leser in das Reich eines „Fantasten", der 1892 auf dem Weg in die
Académie Française seinen Mitbewerber Zola aussticht.

Loti vermag sich der metaphysischen Unruhe und den Evasionsgelüsten der Fin-de-Siècle-Gesellschaft nicht zu entziehen. Aus den Trümmern einer alten Welt wächst die Sehnsucht nach neuen Horizonten.
Die Suche nach dem Anderen, Fremden erweist sich indes als die Suche nach der eigenen Identität. Eine ganze Generation erliegt den mystisch-erotischen Verheißungen des Orients, begibt sich real und
literarisch auf die Reise. Chateaubriand, Nerval, Hugo, Gautier, Flaubert und Merimée. Loti durchbricht diesen Radius, stößt bis in den Fernen Osten vor („Madame Chrysantheme"). Doch mit dem Quadrat
der Entfernung wächst die Entzauberung.

Der schreibende Marineoffizier folgt einer Chimäre. Letztlich gibt die übermächtige Mater Julien an die Rivalin Mare nicht frei. Mutter Viaud hat Sohn Gustave verloren: ihn raffte im
Indischen Ozean eine Tropenkrankheit hinweg. Sohn Julien entlässt sie nur, um ihn hernach noch fester in die Arme zu schließen. Die Abnabelung misslingt. Loti bricht auf, um immer wieder
heimzukehren. Er schreibt und lebt den „Roman eines Kindes" (1890). Die Angst vor dem Leben, vor dem Altern ist groß. Das ewige Kind stählt seinen schmächtigen Körper bis zur Zirkustauglichkeit
(Auftritt als Clown), schminkt sich jung, kauft das Haus der Ahnen auf Oléron zurück und das mit Hypotheken belastete Elternhaus in Rochefort.

Die Zeit anhalten: Loti lanciert Appelle gegen die drohende Schließung des Arsenals von Rochefort. Er verhindert die spekulative Abholzung des nahen Schlosswaldes von La Roche-Courbon, wo ein
Zigeunermädchen ihn einst die Liebe lehrte.

Die Moderne abwehren: Loti lehnt die Stromversorgung des eigenen Hauses ab und verteufelt die Eisenbahn, welche nur industriellen Schund, moderne Ideen und Idioten ausspeie.

Kulturen erhalten: Lotis Reisen führen in die Reiche bedrohter Kulturen und bröckelnder Nationen, welche im Dämmerlicht der Zeitläufte ein letztes Mal golden aufblitzen. Während ein Lord Byron,
getrieben vom Geiste der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, 1824 sein Leben im griechischen Freiheitskampf lässt, verteidigt „Neo-Romantiker" Loti in Artikeln und Briefen die „ottomanische Sache"
(„Türkei in Agonie", 1913). Nach der teilweisen Rückeroberung Bulgariens empfängt die Türkei ihren Fürsprecher mit allem Pomp.

Der Marineoffizier schreibt unter dem Eindruck des Boxeraufstandes „Die letzten Tage von Peking" (1902), er entrüstet sich über westliche Einflüsse im fernen Japan. Er nimmt an einer Erkundungsfahrt
nach Tonkin teil und verurteilt im „Figaro" die vom Expeditionscorps begangenen Massaker. Die Marine „immobilisiert" den Enthüller vorübergehend im Hafenbüro von Rochefort. Im französischen
Baskenland ortet der Weltreisende endlich eine Enklave kultureller Urtümlichkeit. Das Paradies liegt nah, nach Eva wird mit Freundeshilfe gefahndet. „Adam" Loti zeugt mit Urfrau Crucita drei kleine
Basken, holt allesamt nach Rochefort. Dies als seit Jahren verheirateter Mann und Vater eines Sohnes (Samuel). Lotis Ehefrau wird sich hierauf in die Dordogne zurückziehen.

Künstliche Paradiese

Pierre Loti posiert gern im Beduinenkostüm, stattet die beiden Hauskatzen mit Visitenkarten aus. Beharrlich baut er an seiner Gegenwelt aus Traum und Erinnerung. Das Unternehmen beinhaltet die
sukzessive Umgestaltung des elterlichen Hauses in eine exotische Märchenwelt: türkischer Salon, Moschee, Renaissance-Speisesaal, japanische Pagode, aber auch Charentaiser Stube und gotischer Saal.
Ein dekadentes Interieur, das jenem eines Des Esseintes (aus Huysmans „Gegen den Strich") um nichts nachsteht. Auch das berühmte „Diner Louis XI", mit welchem Loti seinen „gotischen Saal" einweiht,
legt den Vergleich mit

Huysmans' spleenigem Protagonisten nahe, doch Lotis Feste sind Realität. Er lädt zum „Diner Louis XI" auf Altfranzösisch, ersucht die Geladenen um historische Kostümierung und um Auffrischung ihrer
Kenntnisse der alten Sprachform für die Konversation bei Tische. In Anspielung an spätmittelalterliche Vergiftungsgepflogenheiten lässt der Gastgeber Weinkelche mit Deckeln fertigen. Mittels eigens
konstruierter „Lehnwand" sensibilisiert er seine Gäste für die Gefahr, von hinten erdolcht zu werden.

Den Dekor für die „Moschee" · Abrissmaterial der ausgebrannten Omaijaden-Moschee von Damaskus · führt Loti mit Hilfe „ehrenwerter Schmuggler" aus Syrien ein. Auch die einem Istanbuler Friedhof
entwendete Stele der verehrten „Aziyad'" · einer zu literarischen Ehren gelangten Haremsdame · ziert die heilïge Halle. Und der Hausdiener spielt den Muezzin . . .

1969 von der Stadt Rochefort erworben, ist das Haus · bis auf die sakrosankten Zimmer von Lotis Mutter und Tante Claire · als Museum zugänglich. Der Rundgang durch die Welten und Zeiten endet im
Zimmer des Dichters. Es bildet den bewussten Kontrast zu all dem Eklektizismus und Exotismus der übrigen Räume. Weiße Wände, religiöse Symbole, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg; ein Tisch, ein
Stuhl, ein Bett. Endstation eines traurigen Weltreisenden, dessen ganzes Leben Theater und Verkleidung ist. Dessen Fernziele, einmal erreicht, nur ein schales „Déjà-vu" vermitteln. Dessen
schmerzliches Anderssein sich auch in der Begegnung mit dem Fremden nicht heilen lässt. „Loti" benennt auf Maori eine Blume. Mit diesem Namen taufen die Tahitianer Julien Viaud, als dieser die
einstige Hütte des Bruders aufsucht.

Bittere Ironie des Schicksals: Den Rastlosen fesselt eine Lähmung mehrere Jahre ans Bett, ehe er 1923 in der baskischen Zweitheimat stirbt. Frankreich verabschiedet den seltsamen Sohn mit einem
Staatsbegräbnis. Die letzte Ruhestatt findet Loti neben seinen Ahnen, im Garten des Anwesens auf Oléron.

Montag, 17. Jänner 2000

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