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Ein Gespräch mit der Bestsellerautorin Isabel Allende über

Freiheit, Frauen und die Situation in Chile

Allende, Isabel: „Freiheit riecht wie das Meer"

Von Christine Brügge

Die internationale Fangemeinde von Isabel Allende musste acht Jahre auf ihren neuen Roman warten. Nachdem ihre Tochter verstarb, wurde die Autorin von einer
Schreibblockade gequält. Doch nun ist das neue Buch vor wenigen Wochen erschienen und befindet sich bereits allerorts auf den Bestseller-Listen. Die „Wiener Zeitung" besuchte die Nichte des
ehemaligen chilenischen Präsidenten Salvador Allende in Kalifornien und sprach mit ihr über das neue Buch „Fortunas Tochter", dessen Hauptthema die weibliche Freiheit ist.

„Wiener Zeitung": Was genau bedeutet Freiheit für Sie?

Isabel Allende: Die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Nicht erzwungen durch kulturelle Umstände, Druck von anderen Menschen, die Rasse, das Geschlecht, die Religion. Ich denke, das
ist Freiheit. Ich meine jedoch nicht, dass Freiheit bedeutet, alles machen zu können, da die eigene Freiheit begrenzt ist durch die anderen Menschen, die auch Freiheit genießen möchten. Aber es gibt
die Möglichkeit, die einige, das heißt sehr wenige, Leute haben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich sage „sehr wenige Leute", da die meisten Menschen unterdrückt leben. Es mangelt ihnen an
Geld, an Ausbildung, an allem Möglichen, um wirklich frei zu entscheiden, was sie tun möchten. Dies ist auch ein politisches Thema. Man kann sich für nichts entscheiden, was man nicht gesagt bekommt.

„W. Z.": Welche Art von Freiheit haben die Frauen in modernen Ländern wie Amerika, Deutschland oder Österreich, die die Frauen in Chile nicht haben?

Allende: Oh, es ist sehr schwer, das zu verallgemeinern. Auf jeden Fall haben die chilenischen Frauen sehr viel mehr Freiheit als die Frauen in Ländern der Dritten Welt. Trotzdem haben sie weniger
Freiheit als Frauen in Amerika. Solche Vergleiche muss man schon vornehmen. Ausbildung und gesellschaftliche Schichten spielen eine große Rolle. Höhere gesellschaftliche Schichten haben überall auf
der Welt mehr Freiheit. Sogar in Saudi Arabien tragen die etablierten Frauen Chanel-Kostüme unter ihren Umhängen · und sie haben eine Ausbildung, sprechen mehrere Sprachen. Die armen Frauen, ohne
Ausbildung, ohne gesundheitliche Vorsorgen, die zehn Kinder haben, von früh bis spät arbeiten müssen und sich nur mangelhaft ernähren können, sind unterdrückt · überall auf der Welt, sei es in Indien
oder in den Vereinigten Staaten.

„W. Z.": Sie leben nun seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten. Amerika wird das Land der großen Freiheit genannt. Sehen Sie das auch so?

Allende: Es gibt hier die Idee von Freiheit, die Hoffnung, den Traum. Aber in der Realität kann diese Freiheit nur von wenigen Leuten genossen werden. Die Welt sieht Amerika als das Land der
unbegrenzten Möglichkeiten. Und sogar noch heute kommen Immigranten aus allen Ländern zu uns, eben aus diesem Grunde. Ich arbeite sehr viel mit Immigranten. Ich sehe, dass die erste Generation nicht
frei ist. Sie ist jedoch zumindest freier als sie es in ihren Herkunftsländern wäre. Die zweite Generation hat eine Chance: Sie erhält eine Ausbildung, beherrscht die Sprache, die Regeln des Landes.
Aber wenn wir über Freiheit in Amerika sprechen, müssen wir auch über die Medien sprechen: Die öffentliche Meinung ist manipuliert von der Presse. Die Wahrheit wird oft verschwiegen oder einfach
verschleiert. Wir bekommen nur die abgespeckte Version zu hören, was oft nicht mehr der Wahrheit entspricht. Vieles wird aus dem Zusammenhang gerissen, nicht genannt oder verdreht.

Zum Beispiel haben die meisten Amerikaner noch immer nicht die leiseste Ahnung davon, wie die Politik dieses Landes in der Vergangenheit praktiziert wurde. Die brutalen Diktaturen, die dieses Land
unterstützt hat, mit Regierungen, die wir in unserem Land nicht tolerieren würden. Die Art und Weise, wie Minderheiten in diesem Lande behandelt werden, ist haarsträubend: die Armen, die Obdachlosen
oder alleinstehende Mütter. Alle diese Menschen haben nicht die Freiheit, die im Gesetz verankert ist. Aber zumindest gibt es diese Hoffnung, diese Idee von Freiheit für alle. Was mehr ist, als viele
Menschen anderer Länder haben. Deshalb kommen sie hierher.

„W. Z.": Alle Ihre Protagonistinnen haben mit Vaterfiguren zu kämpfen, die sie unfrei halten wollen. Welche Beziehung hatten Sie zu Ihrem Vater?

Allende: Ich habe keinen Vater. Mein Vater hat uns verlassen, als ich drei Jahre alt war. Ich habe keine Erinnerungen an ihn. Ich habe nur ein Foto von ihm gesehen. Vor ein paar Jahren. Trotzdem
bin ich in einem Haushalt voller Männer aufgewachsen. Und meine Mutter war ihr Opfer. Sie hatte weder Kraft noch Stimme. Der einzige Weg, wie sie Aufmerksamkeit bekommen konnte, war krank zu sein.
Also war sie ständig krank. Und ich sah diese hochintelligente und kluge Frau, die so kraftlos und unterdrückt war. Schrecklich. Die Väter in meinen Büchern sind deshalb eigentlich gar nicht
existent.

„W. Z.": Ihr vorheriges Buch · Aphrodite, eine Feier der Sinne (Suhrkamp 1998) · ist ein erotisches Kochbuch, also sehr sinnlich. Also, Sie Frau der Sinne: wie riecht Freiheit, welche Farbe hat
sie, wie sieht sie aus?

Allende: Darauf habe ich sofort eine Antwort: Für mich ist Freiheit immer Weiß. Ein unbeschriebenes Blatt, auf das du dein Leben schreibst. Und die materielle Beschaffenheit ist eindeutig rau.
Nichts glattes, nichts einfaches. Du musst es erobern. Und sie riecht wie das Meer. Ich weiß nicht warum, aber für mich riecht Freiheit wie das Meer. Vielleicht, weil das Meer so unermesslich ist und
man es erobern kann.

„W. Z.": Mir fällt dazu ein, dass Ihre Charaktere die Freiheit oftmals per Schiff erreichen.

Allende: Richtig. In diesem Buch sind es die Schiffe, die sie weg bringen von der kleinen Welt, in der die Vorurteile und Konventionen sie zu ersticken drohen.

„W. Z.": Wenn Sie ein Bild malen würden, um Freiheit auszudrücken: was würden Sie malen?

Allende: Hmh. Ich denke, eine Gruppe von Frauen unterschiedlicher Herkunft. Lachend und tanzend. Wahrscheinlich nackt. Vielleicht mit ein paar Kindern dabei. Auf jeden Fall in Farbe · in kräftigen
Farben. Expressiv.

„W. Z.": Eine ganz andere Frage: Sie sind für eine weitere Bewegung der Freiheit engagiert, die der so genannten „Fünfzig Plus", also der über 50-Jährigen, die noch lange nicht „alt" im
herkömmlichen Sinne sind.

Allende: Ja, von den Medien werden über 50-jährige Frauen präsentiert als „Schau mal, wie gut sie trotz ihres Alters noch aussieht". Das ist der Punkt. Wie lange kannst du dein jugendliches
Aussehen in die Länge dehnen. Die Medien transportieren uns nicht mit Inhalten wie Erfahrung, Wissen, Weisheit. Es ist nicht erstrebenswert, deinem Alter gemäß auszusehen. Du siehst besser 20 Jahre
jünger aus. Was ich lächerlich finde, da die Natur dich früher oder später sowieso einholt. Es ist egal, wie wir mit plastischer Chirurgie aussehen, wenn wir sechzig sind. Du kannst das Leben doch
nicht aufhalten. Frauen über fünfzig werden also höchstens als „noch sexuelle Wesen" vermarktet, mit falschen Brüsten · das ist so amerikanisch.

Ich gehöre einer Gruppe von sieben Frauen an. Wir nennen uns „Gebetsgruppe", da die eine Buddhistin ist, die andere Katholikin, die andere Protestantin, die Nächste wieder etwas anderes, und wir
kommen regelmäßig zusammen, um unsere Leben zu teilen, uns wissen zu lassen, was los ist. Und wir wollen nicht jünger aussehen, wir tragen unser eigenes Leben · und zwar mit Stolz: wir sind, wer wir
sind! Wir alle haben einen Beruf und wir sind Frauen, die das Bewusstsein und die Kraft besitzen zu sagen: Stopp. Ich lasse die Medien nicht mein Leben verpfuschen. Die Modeindustrie wird mich nicht
überrennen. Und ich werde mich nicht plötzlich in Türkis gewanden, weil sie sagen, dass Türkis die Farbe des Jahres ist. Ich bin, wer ich bin. Und ich habe lange genug gebraucht, das herauszufinden.

„W. Z.": Was denken Sie, muss in der weiblichen Realität noch getan werden?

Allende: Eine Menge. Eine bestimmte Art von Freiheit genießen bis jetzt nur bestimmte Frauen, qualifizierte Frauen, urbane Frauen. Wenn du aufs Land gehst, in die Dörfer, in die abgelegenen
Gegenden oder in irgendeines der Dritten-Welt-Länder, siehst du, dass die weibliche Freiheit noch nicht angekommen ist. Sie ist noch unterwegs.

„W. Z.": Wie ist die generelle politische Situation in Chile zurzeit?

Allende: Hoffnungsvoll. Die Leute haben in den letzten 20 Jahren in einer Depression gelebt, unter einer schweren dunklen Wolke. Von den Schultern der Chilenen wurde ein Gewicht genommen. Zum
allerersten Mal ist die Wahrheit bekannt. Die Masken sind gefallen, Massengräber wurden geöffnet. Priester hören Geständnisse dort, wo die Körper der Toten versteckt wurden oder zerstört. Die
Militärführer sitzen an einem Tisch mit Anwälten der Menschenrechte, verhandelnd, um eine Art Wahrheit bemüht. Und die einzige Möglichkeit, dieses Land genesen zu lassen und zu seiner Freude
zurückfinden zu lassen, besteht auf der Basis „Wahrheit". Es herrscht aber keine Gerechtigkeit. Die Leute, die man bestrafen sollte, werden nicht bestraft. Vielleicht ist es auch gar nicht klug, sie
zu bestrafen. Daraus entsteht dann nur ein endloser Kreislauf von Gewalt. Irgendwann müssen wir die Gewalt doch mal stoppen. Es muss Leute geben, die zeigen, wie man es besser macht. Ich habe in den
letzten 20 Jahren nicht ein einziges Mal von den Angehörigen der Opfer gehört: „Wir wollen die Folterer foltern. Wir wollen die Mörder morden. Wir wollen die Vergewaltiger vergewaltigen." Sie sagen:
„Wir möchten die Körper. Damit wir sie begraben können, für sie beten und um sie weinen können. Wir wollen wissen, was passiert ist mit all den Leuten, die verschwunden sind. Wir möchten, dass unsere
Leiden gewürdigt werden. Und die Verantwortlichen müssen kommen und sagen: „Es tut mir Leid. Ich bereue, was passiert ist." Doch das ist bis heute nicht geschehen.

„W. Z.": Sind Ihre Bücher inzwischen legal in Chile? Früher wurden ja illegal Raubkopien weitergereicht.

Allende: Ja. 1983, seit „Von Liebe und Schatten", hat die Militärjunta erlassen, dass die Bücher an Theatern zu erhalten waren. So hatten nur bestimmte Leute Zugang zu ihnen und sie waren sehr
teuer. Also wurden sie noch immer im Verborgenen verkauft, aber sie waren da. Und jetzt sind sie legal und sogar sehr populär.

„W. Z.": So treten die Chilenen zwar nicht vollständig frei, aber doch zumindest freier aus diesem Jahrtausend aus. Welche sind Ihre persönlichen Hoffnungen, Gedanken und Wünsche für das nächste
Millennium?

Allende: Ich denke, noch immer ist Ausbildung etwas Fundamentales, das mehr Menschen auf dieser Welt erhalten müssen. Ich habe eine Stiftung, die viele Projekte finanziert, weil ich es für sehr
sehr wichtig halte, Menschen auszubilden. Mein einziger Wunsch für das neue Jahrtausend ist: Eliminiert die Armeen, überall auf der Welt. Und verwandelt die Armeen in Schutzkräfte der Menschen, um
den Frieden und die Freiheit zu garantieren. Beschützt alle Menschen. Alle. Nicht nur eure eigenen Bürger. Alle verdienen es, beschützt zu werden. Und kämpft gegen solche Dinge wie Drogen und Gewalt.
Ich denke, das ist ein Traum. Aber wir müssen träumen, damit wir eines Tages fähig sind, Träume in die Tat umzusetzen.

Isabel Allende: Fortunas Tochter. Roman. Aus dem Spanischen von Lieselottte Kolanoske. Suhrkamp 1999, 480 Seiten.

Freitag, 10. Dezember 1999

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