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Ein kosmischer Irrläufer schuf das Steinheimer Becken

Albtraum auf der Alb

Von Christian Pinter

Zwischen dem oberen Neckar, der Donau und dem Nördlinger Ries liegt die Schwäbische Alb. Kalkiger Untergrund verursacht auf dieser Hochfläche eine Wasserarmut. Vor 15 Millionen Jahren war das nicht anders. Nur lagen damals die Temperaturen deutlich höher: Die Landschaft glich einer Savanne. An einem Tag im Tertiär träumte die Alb ihren schlimmsten Albtraum. Ein Irrläufer aus dem Kleinplanetengürtel zwischen Mars und Jupiter rast auf die Erde zu. Mit 70.000 km/h taucht er in die Atmosphäre ein. Sekunden später schlägt krachend das Geschoss mit mindestens 100 Meter Durchmesser fast ungebremst in die Albhochfläche ein - und kommt im Deckgebirge aus geschichtetem Kalk und Mergel zum Stillstand. Abrupt verwandelt sich seine enorme Bewegungsenergie in Druck und Hitze. Es ist, als hätte man mehrere Wasserstoffbomben gleichzeitig gezündet. Der Eindringling verdampft. Mit ihm das Gestein am Einschlagspunkt, es löst sich "in Luft" auf.

Steiler Ringwall

Eine Schockwelle jagt von dort radial nach außen. Zertrümmertes Material schießt in die Höhe, Gestein wird in Schollen zerlegt. Die Wucht der Explosion schiebt diese oft hunderte Meter weit. Es kommt zu Rempeleien, Schollen verkeilen sich, werden schräg gestellt. Auswurfmaterial türmt sich am Rand zu einem steilen Ringwall auf. Einen Moment lang könnte man hier den Wiener Donauturm versenken, so tief ist der Explosionskrater. In seiner Mitte federt das zusammen gestauchte Deckgebirge aber rasch wieder zurück, bildet eine Aufwölbung, die den Stephansdom überragt. Doch schon hageln die empor geschleuderten Gesteinstrümmer herab. Sie füllen die Senke rund um den Zentralberg teilweise auf.

Nicht nur im Krater selbst, auch in dessen Umgebung regiert der Tod. Ein drei Sekunden währender Strahlungsblitz hat Tiere, Gras und Blätter in Flammen gesetzt. Nun rast eine Druckwelle mit 1.800 km/h daher und fällt alles, was ihr im Weg steht. Selbst in 30 km Distanz, wo man später die Stadt Ulm gründen wird, überlebt nur jeder zehnte Baum - ohne Äste.

Schließlich bleibt ein etwa 3,5 km weiter, kreisrunder Kessel zurück, in dem sich Regen- und Grundwasser sammeln. Der Zentralberg guckt als idyllische Insel aus dem See. Manchmal entsteht eine Landbrücke zwischen ihm und dem Ufer. Dann wiederum versinkt er gänzlich im Wasser. Der abflusslose Kratersee ist eine willkommene Abwechslung in der trockenen Alblandschaft. Mindestens 320 Tier- und Pflanzenarten siedeln sich an, darunter Flamingos, Papageien, Tölpel und Bartvögel, Haarigel, Säbelzahntiger und Krallentiere. Dachsgroße Bären, kniehohe Zwerghirsche, hornlose Nashörner und kurzhalsige Verwandte der Giraffe gesellen sich dazu.

Fortwährend lagert sich Kalksand und Faulschlamm am Seeboden ab. Unzählige Süßwasserschnecken werden darin zur letzten Ruhe gebettet; auch die Reste anderer Tiere. Nach einer Million Jahren füllen die Ablagerungen den Kessel völlig aus, der See "verlandet". So bleibt es zwölf weitere Millionen Jahre. Dann bahnt sich der Wentalfluss einen Weg durch den Friedhof, spült die Seesedimente zum Teil fort - und das Loch in der Alb taucht wieder auf.

In der Hallstattzeit besiedeln Menschen das Becken. Später entsteht die Siedlung Steinheim am Albuch, urkundlich erstmals 839 n. Chr. erwähnt. 1190 errichten die Augustiner-Chorherren ein Stift am 50 Meter hohen Zentralhügel. Er heißt nun "Klosterberg". An seinen Hängen baut man Feg- und Scheuersand zum Bearbeiten
hölzerner Böden und Gefäße ab. Der Sand lässt sich gut verkaufen. 1711 findet der Arzt Rosinus Lentilius darin winzigste, blendend weiße Schälchen. Ihr Glanz erinnert ihn an frisch gefallenen Schnee.

Goldgruben für Paläontologen

1862 untersucht der 23-jährige Franz Hilgendorf die Steinheimer Schneckenschalen genauer. Jene aus den tiefsten, also ältesten Sandschichten ebenso wie jene aus den oberen, jüngeren Lagen. Er macht eine epochale Entdeckung: Die Gehäuseform der Tellerschnecken verändert sich im Lauf der Zeit. Offenbar entwickelten sie sich weiter. Hilgendorf belegt damit die Evolutionstheorie, die drei Jahre zuvor von Charles Darwin veröffentlicht worden war.

Überhaupt entpuppen sich die drei großen Sandgruben als Goldgruben für die Paläontologie - jene Wissenschaft, die das Leben der Vorzeit erforscht. Der Kratersee bot einst günstige Bedingungen für die Fossilisation. Als er verlandete, wurde dieser Schatz sicher verwahrt. Die reichen, gut 14 Millionen Jahre alten Fossilienfunde aus dem Tertiär machen Steinheim schon im 19. Jahrhundert weltbekannt.

Geologisch galt das 115 Meter tiefe Becken damals als "Unikum". Kaum jemand glaubte an die Existenz von Meteoritenkratern. Selbst die Abertausenden Krater auf dem Mond hielt man noch für erloschene Vulkane. Einen ähnlichen Ursprung schrieb man Steinheim zu. Kopfzerbrechen bereitete bloß das Fehlen vulkanischen Gesteins. 1912 variierte Walter Kranz deshalb die Vulkantheorie. Er meinte, hier wäre heißes Magma auf Grundwasser gestoßen; die resultierende Wasserdampfexplosion hätte den Krater ausgesprengt.

60 Kilometer östlich von Flagstaff, Arizona, blickt man in ein 1.200 Meter weites und 170 Meter tiefes Loch. Auch dort glauben Geologen zunächst an eine Dampfexplosion. Nur Bergbauingenieur Daniel Barringer bringt den Krater mit Meteoriten in Verbindung, die man in der Umgebung eingesammelt hat.

Barringers Theorie inspiriert den deutschen Geologen Otto Stutzer. Er besucht Arizona. 1936 hält Stutzer auch das Steinheimer Becken und das nahe Nördlinger Ries für Meteoritenkrater - obwohl hier keine Reste himmlischer Geschosse zu finden sind. Dafür weist der US-Amerikaner Eugene Shoemaker 1960 sowohl im Arizona- als auch im Ries-Krater das seltene Mineral Coesit nach. Es bildet sich aus irdischem Quarz - bei kurzzeitigem, extrem hohem Druck, wie ihn ein Atombombentest erzeugt - oder, so lässt sich errechnen, auch der Einschlag eines Großmeteoriten.

Im Fall des Ries-Kraters räumt der Coesit letzte Zweifel aus. Die Lage der Gesteinsschichten ist hier stark gestört. Vergleichende Bohrungen zeigen ähnliche Ergebnisse im Steinheimer Becken. Damit steht es außer Streit: Die 9.000 Einwohner der Gemeinde Steinheim am Albuch genießen ebenfalls das seltene Privileg, in einem Meteoritenkrater zu leben.

Strahlenkalke, Strahlenkegel

Ohne deren wirkliche Bedeutung zu ahnen, beschrieben die Geologen Wilhelm Branco und Eberhard Fraas 1905 in Steinheim erstmals höchst seltsam geformte Steine: "Strahlenkalke". Später fand man solche Steine auch anderenorts - allerdings aus Granit, Gneis oder Sandstein. Deshalb bürgerte sich der Terminus "Strahlenkegel" ein. Oft sind es handliche Stücke von mehreren Zentimetern Länge, manchmal aber auch Giganten, bis zu 12 Meter groß.

Der genaue Entstehungsprozess der Steinkegel ist selbst 99 Jahre nach ihrer Entdeckung umstritten. Ihre Spitzen liegen jedenfalls dort, wo die vom Einschlagspunkt nach außen eilende Schockwelle auf Inhomogenitäten im Gestein traf. Dahinter kam es offensichtlich zu Spannungen und Brüchen im Material. Die Bruchflächen sind mitunter von höchst bizarren Striemen verziert; im feinkörnigen Malmkalk Steinheims sind sie besonders schön herausgearbeitet. Die Spitzen der Kegel sollten stets zum Einschlagspunkt weisen. Allerdings gibt es auch Exemplare, die mit mehreren, in verschiedene Richtungen weisenden Spitzen überraschen. Die Schockwelle muss hier aus verschiedenen Richtungen eingetroffen sein. Es scheint, als wäre sie zuvor im umliegenden Gestein gestreut worden.

Viele der irdischen Einschlagskrater sind stark erodiert. Von Ablagerungen zugedeckt, geben sie sich kaum noch oder gar nicht mehr zu erkennen. 1960 schlug der US-Geophysiker Robert Dietz den Begriff "Astroblem" - "Sternwunde" - vor. Außerdem erkannte Dietz: Strahlenkegel bilden sich erst ab einem Druck von 10.000 Atmosphären; sie eignen sich vorzüglich, um Sternwunden aufzuspüren. Zum Bespiel in Finnland: Im September 2001 stieß der Wiener Harald Stehlik am Südostufer des Sees Haapaselkä auf Strahlenkegel aus granitischem Gestein. Sie legen Zeugnis ab von einem mehrere hundert Millionen Jahre alten Krater, der den Namen "Suvasvesi-Süd" erhielt. Er erstreckt sich ähnlich weit wie das Steinheimer Becken, ist aber sehr viel älter.

Meteorkrater-Museum

Zurück nach Baden-Württemberg. Wir steigen auf den Burgstall, einen Fels am südlichen Rand des Steinheimer Beckens. Der Krater liegt uns nun zu Füßen. Aus den Feldern erhebt sich der breite Klosterberg. Seinetwegen spricht man von einem "komplexen" Krater. Bei kleineren, "einfachen" Narben, wie jener in Arizona, reichte die Energie nicht aus zur Bildung einer derartigen Aufwölbung. Ein Wanderweg führt zu interessanten Stellen am Zentralberg und am Kraterrand. Sein Ausgangspunkt ist das 1978 errichtete "Meteorkrater-Museum" im Ort Sontheim.

Steinheim liegt gleichsam im Schatten des nur 40 km entfernten Ries-Kraters. Der nimmt eine 50-mal größere Fläche ein und existiert ebenfalls seit 15 Millionen Jahren. Alter und Nachbarschaft lassen

eine gleichzeitige Geburt vermuten. Eventuell teilte sich der kosmische Irrläufer knapp vor dem Aufprall. Die 1.000 bis 1.500 Meter große steinerne Hauptmasse formte das Nördlinger Ries. Ein 100 bis 250 Meter kleines Fragment schuf, im selben Augenblick, das Steinheimer Becken. Möglicherweise begleiteten die beiden Himmelskörper einander schon lange Zeit, zogen gemeinsam durchs All. Immerhin kennt man etliche Kleinplaneten, die einen eigenen Mond besitzen.

Der Einschlag im bayerischen Ries setzte einige 100-mal mehr Energie frei als jener in Steinheim. Strahlungsblitz und Druckwelle müssen um vieles verheerender gewesen sein. Sie verwüsteten ganz Süddeutschland, zogen wahrscheinlich auch Vorarlberg und Nordtirol in Mitleidenschaft. Geht man von einer gemeinsamen Genesis aus, war Steinheim bloß der Nebenschauplatz der sehr viel schrecklicheren Ries-Tragödie. Allerdings trügt der Blick in ferne Epochen, denn es mangelt ihm an Schärfe. Zwischen scheinbar gleichzeitigen Ereignissen könnten in Wahrheit mehr als hunderttausend Jahre verstrichen sein. Vielleicht hatte sich die Schwäbische Alb längst von der Katastrophe im Ries erholt, als ihr Ostteil von einem neuerlichen Irrläufer getroffen wurde. Eines ist sicher: Der 8 km große Kleinplanet mit der Katalognummer 6563 hat damit nichts zu tun - auch wenn ihn sein Entdecker, der Jenaer Astronom Freimut Börngen, im Jahr 1991 "Steinheim" genannt hat.

Freitag, 26. November 2004

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