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Braune Zwerge, ein Ärgernis für die astronomische Taxonomie

Die gescheiterten Sterne

Von Christian Pinter

Noch vor ein paar Jahren schien es leicht, die Trennlinie zwischen Sternen und Planeten zu ziehen. Sterne galten als gewaltige, heiße, energieerzeugende Sonnen, die Licht abstrahlen wie die unsere. Planeten waren sehr viel kleinere Objekte, die Sterne umkreisen und deren Licht reflektieren. Modell standen hier unsere neun Planeten Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto.

Doch in den letzten Jahren stöberte man mehrere Dutzend Planeten um andere, ferne Sterne auf. Die meisten übertreffen Jupiter, den Goliath unseres Sonnensystems. Einige wenige erreichen Dimensionen, die den planetaren Rahmen sogar sprengen. Gleichzeitig machte man zwergenhafte Sterne aus, deren Durchmesser jenem des Jupiter ähneln. Der Begriff "Planet" ist somit unscharf geworden.

Gieriger Jupiter

Als unsere Sonne vor 4.6 Milliarden Jahren entstand, riss sie praktisch sämtliche Materie in ihrer Umgebung an sich. Nur grob ein Tausendstel gönnte sie ihren Planeten. Davon fuhr Jupiter fast alles heim, sammelte 318 Erdmassen auf; für die restlichen acht Sonnenbegleiter blieben bloß 129. Könnte man Jupiter zerlegen, ließen sich seine planetaren Kollegen noch ein zweites und ein drittes Mal erschaffen.

Ein Durchmesser von 143.000 km, das Elffache der Erde und Wolken, die 45 Prozent des einfallenden Sonnenlichts reflektieren: dieses Rezept sorgt für außergewöhnlichen Glanz Jupiters am irdischen Himmel. Noch 1867 wollten manche Astronomen eine eigene Lichtproduktion nicht ausschließen. Zudem wiesen Spektraluntersuchungen chemische Ähnlichkeiten mit der Sonne nach. Doch um wie diese Wasserstoff zu Helium zu verschmelzen, reicht Jupiters Temperatur nicht.

Scheinbar war er der Metamorphose zum Stern knapp entgangen. Hätte Jupiter fünf- bis zehnmal mehr Masse, so las man vor 30 Jahren, würden zwei Sonnen statt eine auf uns herab strahlen. Später korrigierte man: der Riesenplanet ist doch noch um den Faktor 75 bis 80 zu klein, um nukleares Feuer wie die Sonne zu zünden.

Sonnen entstehen beim Kollaps von Wolken aus Gas und Staub, die zwischen den Sternen treiben. Die Anfangsmasse bestimmt den Lebensweg: Je mehr Materie ein Stern bei seiner Geburt mitbekommen hat, desto heißer und heller gerät er. Seine Kugel wird vom eigenen Gewicht komprimiert, was die Temperatur im Zentrum hochschnellen lässt. So herrschen unvorstellbare 15 Mill. ° C im Kern unserer Sonne. Dort werden jede Sekunde 4 Mill. t Masse in Energie verwandelt.

Ein Stern mit 15-facher Sonnenmasse strahlt 10.000-mal kräftiger. Die mächtigsten besitzen sogar über 100 Sonnenmassen. Im Vergleich zu solchen Riesen wirkt unser Stern bescheiden: formal gilt die Sonne trotz ihres Durchmessers von 1.4 Mill. km nur als gelber Zwerg.

Die Farbe ist Ausdruck der Oberflächentemperatur. Unsere Sonne hat 5.500 ° C. Doch im All dominiert Rot. Die meisten Sterne sind nämlich schmächtiger. Rote Zwerge müssen mit ein paar Zehntel der Sonnenmasse auskommen und bleiben daher kühler. Wollte man das Licht der Sonne ersetzen, müsste man grob 100 rote Zwerge an ihre Stelle rücken.

Die kleinsten haben nicht einmal ein Promille der Sonnenleuchtkraft. In sechs Lichtjahren Abstand, gleichsam vor unserer Haustüre, schwebt Barnards Stern. Der rote Zwerg lässt sich im Sternbild Schlangenträger ausmachen, aber nur mit einem sehr lichtstarken Fernglas. Hingegen ist Orions bläulichweißer Rigel einer der prominentesten, hellsten Lichtpunkte des Winterhimmels, trotz seiner Distanz von 800 Lichtjahren. Kein Wunder - protzt der Riesenstern im All doch mit 40.000-facher Sonnenleuchtkraft.

Die Sterne lügen also: blicken wir nachts zum Firmament, erhalten wir kein repräsentatives Bild. Trotz Übermacht der Zwerge sehen wir vor allem Riesen. Das ist ähnlich, als wollten wir von einem weit entfernten Berggipfel aus eine Inventur im Zoo Schönbrunn versuchen. Wir zählten Giraffen, Elefanten und Nashörner, würden "Schafe" wie unsere Sonne aber leicht übersehen.

Im kosmischen Zoo sind rote Zwerge gleichsam die "Murmeltiere" und "Erdmännchen". Lange Zeit galten sie als die winzigsten und dunkelsten Sterne. Denn um das für Sonnen fundamentale Wasserstoff-Brennen zu starten, braucht man ein minimales Startkapital. Es beträgt 8 Prozent der Sonnenmasse, was grob 80 Jupitermassen entspricht.

Darunter sind die Temperaturen im Kern zu niedrig. Der klassischen Definition nach liegt hier das Limit der Sternentstehung: Kleinere Sonnen würden demnach nicht geboren.

Die Astronomie-Studentin Jill Tarter arbeitete 1975 an der Universität Berkeley, Kalifornien, an ihrer Dissertation. Dabei prägte sie für theoretisch existierende, noch viel massenärmere Sterne den Namen "brauner Zwerg". Später machte sie diesen Begriff in einer Vorlesung mit dem Titel "Braun ist keine Farbe" populär. Zwei Jahrzehnte lang suchten Astronomen den Himmel vergeblich nach solchen Exoten ab. Dann erst stieß man zweifelsfrei auf ein passendes Objekt.

Im Sternbild Hase zeigt das Fernglas den schwachen roten Zwergstern Gliese 229. Er ist nur 3.500 ° C heiß, hat keine 2 Prozent der Sonnenleuchtkraft. 1995 entdeckte man, dass er von einem noch winzigeren Begleiter umkreist wird: es ist der braune Zwerg Gliese 229 B. Dieser bringt es bloß auf 700 ° C, strahlt die meiste Energie nicht im sichtbaren, sondern im infraroten Licht ab.

Minimale Leuchtkraft hatte die Entdeckung solcher Himmelskörper lange vereitelt. Erst mit der Verbesserung von Infrarotdetektoren gelang ein Fund nach dem anderen. Da braunen Zwergen die zur Kernfusion nötige Masse fehlt, weigerten sich viele Wissenschaftler, sie als "richtige Sonnen" zu betrachten; stattdessen sprachen sie von "gescheiterten Sternen". Manche sahen darin eine Art "Zwischenform" zwischen Stern und Planet.

Deuterium-Heizung

Die bescheidene Strahlung solcher Gnome stammt vom langsamen Schrumpfen. Während sie unter dem eigenen Gewicht zusammensinken, wird die Gravitationsenergie in Wärme umgewandelt; die Oberflächen glimmen tiefrot. Ab mindestens 13 Jupitermassen steigt die Temperatur im Zentrum soweit, dass dort Deuterium ein zweites Proton einfangen kann. Auch bei diesem Prozess wird Energie frei. Unglücklicherweise ist Deuterium, auch "schwerer Wasserstoff" genannt, tausendmal seltener als normaler Wasserstoff; es erschöpft sich nach wenigen Millionen Jahren. Die Deuterium-Heizung funktioniert also nur eine kurze Episode lang im Zwergenleben.

Berechnet man die typischen Durchmesser, so sind braune Zwerge trotz ein paar Dutzend Jupitermassen kaum größer als der Riesenplanet. Das Mehr an Materie bewirkt hier nicht primär Größenwuchs, sondern eine Verdichtung der Kugeln. Die kältesten Objekte könnten Jupiter im Antlitz sogar ähneln und wie dieser Wolkenbänder aus Methan zeigen, obwohl sie 1.000 ° C wärmer sind: Ein Thermometer in Jupiters Atmosphäre würde nicht über 145 ° C klettern.

Höheren Temperaturen als Methan hält Lithium stand. Man findet es bei Objekten bis zu 60 Jupitermassen. Will man wissen, ob man es bei einem neuentdeckten Stern wirklich mit einem braunen Zwerg zu tun hat, gilt der "Fingerabdruck" von Lithium im Spektrum als recht verlässlicher Indikator.

Die Untersuchung der Zwergsterne erfordert die Erweiterung des alten Spektralklassensystems. Seit 1922 war man mit den sieben Hauptkategorien O, B, A, F, G, K und M ausgekommen. Um sich die Reihenfolge von den heißesten bis zu den kühlsten Sonnen zu merken, formulierte der Astrophysiker Henry Russell den populären Merkspruch "Oh, Be A Fine Girl, Kiss Me". Doch jetzt ist bei "Küss mich" nicht mehr Schluss. In der neuen L-Klasse tummeln sich die allerkühlsten roten Zwergsonnen mit knapp 90 Sonnenmassen und 1.700 ° C, aber auch zahlreiche braune Zwerge mit rund 1.200 ° C.

Dank ihrer niedrigen Temperatur hatte man schon bei roten M-Sternen einfache Moleküle wie Titanoxid nachgewiesen. In der Atmosphäre mancher L-Sterne existiert Titan nun sogar in fester Form, als Mineral Perowskit. Da "rock" (engl., Stein) bekanntlich auch eine beliebte Musikrichtung bezeichnet, tauchte scherzhaft das Wort "Rock-Stars" auf.

Noch kälter sind die Mitglieder der T-Klasse, zu denen auch der erstentdeckte braune Zwerg, Gliese 229B, zählt. Unter 1.100 ° C dominieren Methan-Signaturen das Spektrum. Als Rekordhalter gilt Gliese 570D, mit knapp 500 ° C der kühlste bekannte Zwerg. Solche Himmelskörper nimmt man praktisch nur noch im Infrarot wahr.

Unsere Sonne gehört als kosmischer "Single" einer Minderheit an. Die Mehrzahl der Sterne bindet sich an Partner. Meist umkreisen zwei oder drei Sonnen einander. Aus dem Bewegungsspiel lässt sich, sehr zur Freude der Forscher, die Masse der einzelnen Komponenten ableiten. Auch braune Zwerge tauchen in Begleitung größerer Sonnen auf. Viele sind jedoch Einzelgänger, treiben solo durchs All. Ihre Masse ist oft nur grob abschätzbar.

Am leichtesten macht man sie in jugendlichem Alter aus; später kühlen sie noch mehr ab, verlieren weiter an Glut. Als wahre Goldgrube entpuppt sich der junge Orionnebel. In seinem Herzen konnte man Hunderte braune Single-Zwerge identifizieren, darunter auch einige, die mutmaßlich aus weniger als 13 Jupitermassen bestehen. Ebenfalls im Orion stieß man auf Gnome, die anscheinend nur fünf- bis zehnmal soviel wie Jupiter wiegen.

Sie strapazieren selbst tolerante Definitionen des Begriffs "Stern". Rasch sprach man von "braunen Subzwergen" oder gar "Planeten".

Doch Halt: Unserer Vorstellung nach driften Planeten nicht einfach durchs All, sondern begleiten Sonnen. Gemeinsam mit diesen, so die weithin anerkannte Theorie, entstehen sie auch. Ohne Sterne gäbe es demnach keine Planeten. Allerdings ist umstritten, ob die vermeintlichen "Planeten" nicht doch mehr Masse besitzen, als ihre geringe Helligkeit vermuten lässt. Dann gingen sie gerade noch als "normale" braune Zwergsterne durch.

Sollte es sich tatsächlich um planetare Objekte handeln, wird man sie zunächst zu ausgerissenen Kindern erklären. Die Schwerkraft vorbeiziehender Sterne mag sie einst von ihren Sonnen fortgeschleudert haben. Doch je mehr solcher Funde auftauchen, desto unwahrscheinlicher klingt diese Erklärung. Wird man schlussendlich gar die Möglichkeit einer Planetengeburt ohne Mutterstern einräumen müssen?

Versteckspiel

Unsere neun Planeten sind zweifelsfrei Kinder der Sonne. Sie formten sich aus einer Staubscheibe, die unseren Stern einst umgab. Jüngst schlossen Astronomen aus dem Infrarot-Spektrum von akribisch untersuchten Zwergstern-Singles ebenfalls auf die Existenz solcher Staubscheiben. Vielleicht sind die Wissenschaftler hier Zeugen der Planetengeburt im Orbit um braune Zwerge geworden.

Bei 250 ° C Außentemperatur fühlten sich zukünftige Bewohner dieser Welten kaum wohl. Uns sonnenverwöhnten Wesen bleibt die Muße zu philosophieren, wie wir solche Himmelskörper dereinst bezeichnen werden. Wenn man schon braunen Zwergen den Status "richtiger Sterne" abspricht, darf man dann ihre Begleiter überhaupt "Planeten" nennen?

Bei einer Fachtagung stimmten Astronomen jüngst informell über eine neue Bezeichnung für braune Zwerge ab. Begriffe wie "substellare Objekte" (von lat. stella, Stern) oder das Englische "planetars" wurden debattiert. Konsens erzielte man nicht.

Den Namen des sonnennächsten Sterns wird man vielleicht sehr bald ändern müssen. Momentan schreibt man diesen Rang einem roten Zwerg im Zentauren zu, vier Lichtjahre entfernt. Man taufte die Nachbarsonne Proxima Centauri (proxima, lat. die Nächste). Doch womöglich stolpert man demnächst auf einen noch näheren braunen Zwerg, der uns bislang nur entgangen ist.

Um das Zoo-Beispiel ein letztes Mal zu strapazieren: mit den braunen Zwergen hält unsere Ferninventur bei den schwer auszumachenden "Mäusen". Bisher schafften wir bloß deren stichprobenartige Erfassung. Rechnet man hoch, könnten sie so zahlreich sein, wie die vertrauten, Wasserstoff verzehrenden Sonnen - vielleicht sogar doppelt so häufig.

Aus dem Studium der Sternbewegung weiß man: In der Milchstraße muss mehr Masse versammelt sein, als der direkten Beobachtung zugänglich ist. Niemand kann mit Sicherheit sagen, woraus diese dunkle Materie besteht. Die braunen Zwerge allein lösen das Dilemma jedenfalls nicht - selbst hunderte Milliarden brächten noch zu wenig Masse ein.

Freitag, 24. August 2001

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