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Housewarming-Party in der Internationalen Raumstation

Die Mühen des All-Tags

Von Christian Pinter

Einmal hin fliegen und sich alles anschauen - gut. Aber monatelang in so einem Kasten eingesperrt sein, das wäre für mich Zeitverschwendung, meinte eine Freundin, als sie von der "Expedition 1" hörte. Viele Menschen würden dennoch gerne mit den drei Männern tauschen, die als erste die Internationale Raumstation beziehen. Am 31. Oktober sollten die Pioniere vom Weltraumbahnhof Baikonur aus aufbrechen. Vier Monate Stress erwarten sie.

Drehwurm

Zusammengepfercht in einer Sojus-Kapsel zählen die Männer im Geiste die letzten Sekunden des Countdowns mit. Dann presst sie der Schub der Rakete neun Minuten lang in die Schalensitze. Plötzlich beginnt alles zu schweben. Unverdrossen pumpt das Herz Blut in den Kopf, als müsse es noch immer gegen die Erdanziehung ankämpfen. Die Gesichter werden knallrot. Dem Gehirn fehlt die vertraute Schwerkraft, der "Drehwurm" schlägt zu. Am besten, man heftet den Blick auf die Instrumente. Es gibt keine Garantie, dass die berüchtigte Weltraumkrankheit die Passagiere verschont, auch wenn sie "alte Hasen" des Raumflugs sind.

Kommandant William Shepherd gehört der NASA seit 1984 an. Der 51-Jährige stieg bereits dreimal mit dem Shuttle ins All. Juri Gidzenko verbrachte 1995/96 sieben Monate auf der MIR. Flugingenieur Sergeij Krikalew einmal fünf, dann zehn. Er begrüßte 1991 den Österreicher Franz Viehböck auf der russischen Raumstation und half 1998 mit, die beiden ersten Module der neuen, internationalen Station ISS im Orbit miteinander zu verbinden. Mittlerweile hat sie ein drittes, 13 m langes Modul bekommen: Swesda wird Wohn- und Arbeitsstätte der ersten Crews sein.

Zuerst taucht die Station als gleißender Lichtpunkt in der Ferne auf. Doch bald schwebt sie mit ihren 30 m weit ausgebreiteten Sonnenflügeln wie ein Rieseninsekt vor den Männern. Sie docken an und schweben durch den Verbindungstunnel in ihr neues Zuhause. Niemand ist da, der sie mit Händedruck, Brot oder Salz willkommen heißt.

Knapp vier Monate lang führen die beiden Russen und der US-Amerikaner auf der ISS Experimente und Wartungsarbeiten durch oder helfen beim weiteren Ausbau mit. Dabei halten sie Funkkontakt mit ihren Nachfolgern auf der Erde. Die nächsten drei Folgemannschaften sind bereits fixiert. Erste Wachablöse ist im Februar 2001. Dann wird mit Susan Helms, Oberst der Air Force, auch eine Frau auf der ISS einziehen. Im Juni kommt die dritte, im Oktober die vierte Besatzung. Im Gegensatz zur Expedition 1 starten sie alle mit dem geräumigen US-Shuttle. Es bringt in seiner Ladebucht gleichzeitig weitere Module und Bauteile zur ISS und holt die abgelöste Crew zur Erde zurück.

Ein Abstieg mit der Sojus ist nur im Notfall vorgesehen. Halbjährlich ausgetauscht, bildet sie das Rettungsboot der Station. Das Shuttle wäre hierfür viel zu teuer und könnte überdies kaum drei Wochen im All verbleiben. Die praktisch "in Serie" gefertigte Sojus wurde hingegen für Langzeiteinsätze konzipiert.

Niemand hofft, dass das Rettungsboot tatsächlich zum Einsatz kommt. Beim ersten bemannten Flug 1967 zerschellte die Kapsel mit Kosmonaut Wladimir Komarow, weil der Hauptfallschirm versagte. Vier Jahre später riss sie die allererste Mannschaft einer Raumstation in den Tod; auf der Rückreise von Saljut 1 entwich die Kabinenluft durch ein schadhaftes Ventil.

Seither mehrmals umgebaut, gilt die Sojus heute als das verlässlichste Raumfahrzeug. Notorisch kompliziert ist allerdings das Herausklettern aus dem engen Gefährt. Alle künftigen ISS-Bewohner müssen es trainieren. Sogar im Schwarzen Meer, falls die Kapsel nicht landen, sondern wassern sollte: eine falsche Bewegung, und das Wasser schwappt durch die geöffnete Luke.

Druckverlust oder Feuer im Wohnmodul sind die schwersten Katastrophen, die die ISS heimsuchen könnten. Lecks entstehen am ehesten durch die Kollision mit anderen Objekten. Kometenstaub schießt mit einer Geschwindigkeit von Dutzenden Kilometern pro Sekunde daher. Erdenbürger sehen ihn als hübsche Sternschnuppen in der Lufthülle verglühen und ahnen nicht, welche Energie dabei im Spiel ist. Da die Bewegungsenergie quadratisch mit der Geschwindigkeit wächst, besitzt ein kosmisches Projektil von Reiskorngröße die Zerstörungskraft einer Handgranate; ein Objekt von einem Gramm Masse schlägt ein wie ein ungebremster Formel-1-Bolide.

Erhöhtes Trefferrisiko besteht bei der Passage von Meteorwolken. Im August 1993 verlor die ESA einen Satelliten an die sogenannten "Perseiden"; die zunächst gefürchteten Leoniden im November 1998 und 1999 beschädigten hingegen keinen der 500 aktiven Erdbegleiter.

Noch gefährlicher ist Weltraumschrott: zigtausend Teile von kaputten oder noch intakten Satelliten, vom Lacksplitter bis zum Bolzen, umkreisen die Erde. Bei Relativgeschwindigkeiten von einigen zehntausend Kilometern pro Stunde sind Zusammenstöße auch hier fatal. 1996 stieß ein französischer Militärsatellit ausgerechnet mit dem Fragment einer explodierten, europäischen Ariane-Rakete zusammen. Trümmer ab einigen Zentimetern Durchmesser werden von der Erde aus regelmäßig überwacht. Kleinere entgehen den Himmelsspähern. Ein nach sechs Jahren aus dem All zurückgeholter Testkörper wies bis zu vier Einschläge pro Quadratzentimeter auf. Vor den winzigsten Geschossen schützen Folien. Problematisch bleiben Kaliber knapp unter 1 cm - zu klein, um rechtzeitig erkannt, zu groß, um sicher abgefangen zu werden.

Die MIR hat in fast 15 Jahren Betrieb keinen ernsthaften Zusammenstoß mit Weltraummüll oder Meteoriten erlitten. Wohl aber mit einem anderen Raumfahrzeug. Abgekoppelt und zu Testzwecken wieder herangeführt, rammte der 7 t schwere, unbemannte Progress-Transporter am 25. Juni 1997 ihr Spektr-Modul - zum Glück nur im Schritttempo.

Camping-Klo

Beim Bau und beim Betrieb der ISS gehören solche Andockmanöver fast zum Alltag. Jeder weiß, welche Kräfte dabei frei werden können. Heimtückisch und unsichtbar ist hingegen die stets vorhandene kosmische Strahlung; Raumfahrer werden belastet, als müssten sie während des Flugs alle paar Stunden zum Röntgen. Heftige Sonneneruptionen lassen den Strom geladener Partikel mitunter dramatisch anschwellen. Im Extremfall kann dabei sogar jene Maximaldosis überschritten werden, die die NASA für die gesamte Karriere eines Astronauten einräumt.

Auch Feuer ist eine besondere Gefahr an Bord. Im Februar 1997 brannte ein Sauerstoffgenerator im Kvant-Modul der MIR. Zum Glück gelang es, ihn rasch zu löschen. Die Kabine füllte sich dennoch mit Rauch, die sechsköpfige Besatzung griff zu Atemmasken. Erinnerungen an die schweren Feuerunfälle wurden wach, die 1961 einem russischen und 1967 drei amerikanischen Raumfahrern bei Tests am Boden das Leben kosteten.

Vier Monate lang erleben die ISS-Bewohner die Mühen des All-Tags. Fehlende Schwerkraft erschwert die Orientierung. Dunkler Boden und helle Decke sollen ein "Unten" und "Oben" suggerieren. Das triste Braun der einstigen US-Raumstation Skylab, die 1973/74 drei Mannschaften beherbergte, ist unaufdringlicheren Tönen gewichen. Auch die kantigen Ausrüstungskisten wurden vermieden. Auf der ISS ist alles in "Einbaukästen" mit glatter Frontpartie verstaut. Generell wirkt das Interieur aufgeräumt, ja fast steril. Überall sind Griffe montiert; sie erleichtern die gezielte Fortbewegung und das nötige Verankern des Körpers. Stößt man an der Wand an, prallt man wieder ab. Dreht man an einem festsitzenden Teil, rotiert man selbst. Arbeiten im Orbit ist kompliziert. Auf Erden würden wir einen Notizblock oder einen Schraubenzieher einfach auf den Tisch legen, um die Hände frei zu bekommen. Dort schweben solche Hilfsmittel weg, müssen erst wieder eingefangen werden.

Geträumt wird im Schlafsack, um nächtliche Kollisionen zu vermeiden. Ohne ständigen Zug würde man dabei an der ausgeatmeten Luft ersticken. Auch Rückschmerzen sind ständiger Begleiter. Der Körper ist unterfordert; der Wadenmuskel verliert in wenigen Wochen ein Fünftel seiner Masse, die Druckkraft sinkt um die Hälfte. Das Resultat sind "Hühnerbeine". Knochen entmineralisieren und werden spröde.

Muskelschwund und Osteoporose bekämpft man mit Gymnastik. Das tägliche Training am Laufband dauert eine Stunde; auch hier kann man Erfahrungen aus russischen Langzeitflügen nützen: Waleri Poliakow meisterte 14 Monate Schwerelosigkeit an Bord der MIR.

Privatsphäre gibt es kaum. ISS-Bewohner werden selbst zum Experiment, nehmen einander Blut ab oder kleben Sensoren auf die Haut. Der Umgang mit Flüssigkeiten erfordert besondere Wachsamkeit, damit die davon schwebenden Blasen nicht irgendwo Kurzschlüsse verursachen. Die Toilette ist komfortabel wie ein Camping-Klo; ein Luftsog übernimmt dabei die Rolle der Schwerkraft. Die vollen Behälter verglühen später in der Erdatmosphäre.

Manchmal kommen ISS-Bewohner ihrem irdischen Zuhause fast 400 km nahe - und dennoch sind sie unendlich weit davon entfernt. Melancholie und Heimweh können sich einstellen. Neben Kontakten via Funk bilden Postsendungen die Nabelschnur zu Freunden und Verwandten.

Shannon Lucid arbeitete ein halbes Jahr lang auf der MIR. Sie blickte heranfliegenden, automatischen Progress-Schiffen immer sehnsüchtig entgegen: "Und auf einmal fühlte ich mich wirklich wie jemand, der aus einem kosmischen Außenposten hinaus starrte und begierig auf Nachschub wartete - und dabei inbrünstig hoffte, dass meine Familie auch nicht vergessen hatte, ein paar Bücher und Süßigkeiten mitzuschicken."

Besserwisser

Viel Zeit zum Lesen bleibt allerdings nicht. Der Bau der ISS kostet bis 2006 mehr als eine Viertel Billion Schilling. Ihre Lebensdauer wird mit etwa 15 Jahren angesetzt. Zeit will gut genützt sein. Der Tagesablauf an Bord ist minutiös eingeteilt; kommt man mit einer Arbeit nicht so gut voran, wie sich das die Kollegen auf der Erde vorgestellt haben, muss wohl die Freizeit als Puffer herhalten. Stress und Arbeitsdruck können, so zeigen Erfahrungen mit Skylab und MIR, schlimm werden.

Auch Spannungen und Aggressionen zwischen Mitgliedern der Crew sind unvermeidbar. Die russische Flugkontrolle versuchte manchmal, solche auf sich selbst zu lenken, indem sie Kosmonauten bewusst vor besonders schwierige oder unsinnige Aufgaben stellte. Allerdings darf man das bekannt heikle Verhältnis der Stationsbewohner zu den "Besserwissern" am Boden auch nicht überstrapazieren.

16 Staaten tragen das Mammutprojekts ISS. Die ersten Crews setzen sich dennoch nur aus Vertretern der beiden Hauptfinanciers zusammen: Bei Expedition 1 stellt Russland zwei Crew-Mitglieder, die USA dafür den Stations-Kommandanten. Bei der nächsten Mannschaft ist es genau umgekehrt. Allerdings betont die USA ihre Führungsrolle beim ISS-Projekt. Englisch ist offizielle Bordsprache; sicherheitshalber sind wichtige Systeme und Schalter auch russisch beschriftet.

Später werden gleichzeitig bis zu sieben Bürger verschiedener Nationen auf der ISS werken. Labors und zusätzliche Wohnmodule schaffen Bewegungsspielraum.

Das Wohnmodul Swesda besitzt 14 Bullaugen. Die Beobachtung unseres Planeten vom Orbit aus dient auch zur Entspannung der Raumfahrer. Aus 360 km Flughöhe ist die Erde keine kleine, ferne Kugel, wie sie die Mondfahrer sahen, sondern füllt noch fast das ganze Blickfeld aus. Nach und nach überfliegt die ISS alle Orte zwischen dem 52. nördlichen und südlichen Breitenkreis. Am Tage dominiert das Weiß der Wolkenspiralen und das Blau des Meeres; beim Flug über Festland lassen sich unschwer Gebirge, Täler, Seen oder Städte identifizieren. Auf der anderen Bordseite sieht man die Sterne, zahlreich wie am Himmel über der Wüste. Aber ohne jedes Funkeln.

Mit knapp 28.000 km/h zieht die ISS gen Osten. Am Rand der sichtbaren Erdscheibe schauen die Betrachter tangential durch die Lufthülle. Sie schrumpft zum blauen, schmalen, zerbrechlich wirkenden Streifen. Der nächtliche Planet ist wie ein gewaltiger, dunkler Schild. Lichterketten der Städte zeichnen Küstenlinien nach. Vielleicht denken die Raumfahrer manchmal darüber nach, wie viele Menschen dort unten in noch beengteren Verhältnissen leben und noch größere gesundheitliche Belastungen ertragen müssen - ohne jede Hoffnung auf Ruhm und Ablöse.

Die ISS zieht als strahlend heller Lichtpunkt über den Himmel Österreichs. Sichtbarkeitszeiten unter http://members.eunet.at/pinter.

Freitag, 27. Oktober 2000

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