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Wie die alten Mythen um Merkur die moderne Zeit beflügeln

Der Gott, der den Markt erfand

Von Christian Pinter

Die Griechen nannten ihn Hermes, die Römer Merkur. Sie verehrten ihn als Gott der Wege, der Reisenden, der Händler und der Diebe, sahen in ihm einen geflügelten Boten zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen, Lebenden und Toten.

Überraschenderweise waren es die astronomischen Eigentümlichkeiten des innersten Planeten, die zu solchen Vorstellungen führten. Manche haben in Firmennamen und -zeichen sogar bis heute überlebt.

Rarer Gast

Fünf helle Planeten ziehen ihre Schleifen zwischen den Fixsternen. Vier davon - Venus, Mars, Jupiter und Saturn - prangen in den meisten Nächten recht auffällig am Firmament. Nur wenn sie gerade in Sonnennähe weilen, ziehen sie sich für ein paar Wochen völlig unbeobachtbar an den Taghimmel zurück. Ganz anders Merkur, der innerste aller Planeten. Sein geringer Abstand zur Sonne lässt ihn die meiste Zeit im Himmelsblau ertrinken. Keiner macht sich so rar wie er.

Manchmal entfernt sich Merkur am Firmament bis zu drei Fäuste weit vom Tagesgestirn. Nur dann hat man eventuell die Chance, ihn am Abend- oder Morgenhimmel aufzustöbern. Bald eilt er jedoch wieder auf die Sonne zu. Er sinkt dabei von Tag zu Tag tiefer zum Horizont hinab und verschwindet schließlich aus unseren Augen. Den Alten schien es, als würde er in die Unterwelt hinabsteigen.

Daher geleitete gerade Gott Hermes, der von den Griechen mit dem innersten Planeten verbunden wurde, die Seelen Verstorbener in das dunkle Reich des kalten und gnadenlosen Hades. Hermes trug dabei einen Heroldsstab aus Lorbeer- oder Olivenholz, umrankt von Schlangen. Als Mittler zwischen den Welten der Lebenden und der Toten kehrte er natürlich stets unbeschadet zurück. So führte Hermes einst auch den Helden Herakles, römisch "Herkules", aus der Unterwelt hinauf in die göttlichen Höhen des Olymp.

Im All umrundet Merkur die Sonne in bloß 88 Tagen, ist schnellster aller Planeten. Entsprechend flott wandert er am irdischen Himmel durch die Sternbilder. Die Griechen machten ihren Hermes daher zum Gott der Wege und der Wanderer. An Kreuzungen stand sein Kultbild, ein bärtiger Kopf auf einem Pfeilerschaft. Diese Form des Porträts hieß passend "Herme". In römischer Zeit erfreute sie sich besonderer Beliebtheit, wenn es darum ging, prominente Persönlichkeiten zu verewigen.

Der flinke Lauf des Planeten ließ den griechischen Hermes ebenso wie seine römische Entsprechung Merkur zum Gott aller werden, die es eilig hatten. Menschen, die nur kurz auftauchen und nirgends lange verweilen, nennen wir heute "Touristen". Früher waren sie einfach "Reisende".

Erinnerungen an Merkurs alte Funktion als Gott der Reisenden begegnen wir im Namen der seit 1939 produzierten Ford-Autoserie Mercury. Auch die ersten Raumschiffe der USA hießen so. In einsitzigen Mercury-Kapseln schrieben Heroen wie Alan Shepard oder John Glenn zwischen 1961 und 1963 Geschichte. Vier der sechs Gefährte umrundeten die Erde mit 28.000 km/h.

Diebe hatten es freilich auch eilig, sie kürten Hermes gleichfalls zu ihrem Gott. Schließlich stahl Hermes, kaum dass er laufen konnte, schon die Rinder seines Bruders Apollo. Der Dreizack des Poseidon (röm. Neptun) und das Schwert des Ares (röm. Mars) sollten ebenfalls nicht vor seiner Dreistigkeit sicher gewesen sein. Antike Diebe wären sicher erstaunt, das Antlitz ihres Gottes auch an der Fassade des Bezirkspolizeikommissariats Wien-Hietzing vorzufinden.

Zu Diensten

Hermes war Sohn der Bergnymphe Maia und des Zeus (röm. Jupiter). Listig und verschmitzt half er seinem Vater bei vielen amourösen Abenteuern.

Als Zeus in Leidenschaft für Europa verfiel, die Tochter des phönizischen Königs, tarnte sich der Göttervater als herrlicher, weißer Stier und mischte sich in die königliche Herde. Hermes, der übrigens auch als Hirtengott verehrt wurde, trieb die Rinder zum Strand. Dort erregte das prächtige Tier Europas Aufmerksamkeit. Kaum hatte sie sich auf seinen Rücken geschwungen, trabte Zeus schon mit ihr ins Mittelmeer. Erst auf der Insel Kreta gab er sich zu erkennen und zeugte mit Europa den späteren König Minos. Europa war auf Kreta so beliebt, dass man gleich einen ganzen Kontinent nach ihr taufte.

Auch Europas Nichte Semele trug das Kind des liebestollen Zeus unter ihrem Herzen. Als sie starb, vertraute man den kleinen Bacchus dem flinken Hermes an. Er sollte ihn vor der Rache der stets eifersüchtigen Zeus-Gattin Hera schützen. Besonders keck verhielt sich Hermes bei einem anderen Spross des Zeus, dem schon erwähnten Herakles. Um ihn unsterblich zu machen, legte er den Kleinen der schlafenden Hera einfach an die Brust. Herakles saugte allerdings zu heftig. Hera erwachte und stieß ihn entsetzt von sich. Wegspritzende Milch formte die Milchstraße.

Zu Hermes eigenen Kindern zählten ungewöhnliche Personen. Aus der Verbindung mit Aphrodite (röm. Venus) wurde der Hermaphrodit, ein Zwitterwesen. Beim Himmelsjäger Orion teilte sich Hermes die Vaterschaft mit Poseidon und Zeus. Der Riese wurde nämlich gezeugt, als die drei Götter gemeinsam auf eine Stierhaut urinierten. Später stellte Orion wiederum der Maia nach, die ja eigentlich seine Großmutter war.

Nur drei- oder viermal pro Jahr lässt sich der Planet Merkur in unseren Breiten blicken. Wir erspähen ihn dann einen halben Monat lang kurz nach Sonnenuntergang bzw. vor Sonnenaufgang. Abends schält er sich langsam aus der Dämmerung, sinkt tiefer und taucht kaum eine Stunde später im Dunst des Horizonts unter. Morgens verfolgen wir seinen Aufgang und beobachten, wie er ebenso rasch im heller werdenden Blau verblasst. Kein Wunder, dass chinesische Astronomen vom "Stundenstern" sprachen.

Merkur ist also bestenfalls in der Dämmerung und auch dann nur knapp über dem Horizont zu sehen. So wirkte er einst wie ein Vermittler zwischen Tag und Nacht, Himmel und Erde, Göttern und Menschen. Tatsächlich wurde Hermes auch als Götterbote verehrt.

Heute erinnern in Österreich etwa ein Funkbotendienst für Kleintransporte, ein Fahrradbotendienst und eine Spedition an das Botenmotiv. Sie tragen "Hermes" oder "Merkur" im Titel. Der dahineilende Götterbote findet sich auch auf dem Emblem von Fleurop; dort hält er freilich einen Blumenstrauß in der Hand.

Geflügelte Schuhe

Gern stellte man sich den raschen Gott als geflügelte Gestalt vor. Bildhauer und Maler zeigten ihn mit Flügelsandalen und schwingenbesetzter Kappe. Sein geflügelter Schuh fand später Eingang ins Logo des Reifenherstellers Goodyear; eine Merkur-Statue im Haus des Firmengründers stand bei dieser Idee Pate.

Die Römer setzten den griechische Hermes mit ihrem Gott des Handels, Merkur, gleich. "Mercurius" hieß der Händler, "mercator" der Käufer, "merx" die Ware. Aus "mercatus" (lat., Markt, Warenmesse) wurde schließlich unser Wort "Markt". Etymologisch stehen "Marketenderin", "Kommerz" und "Kommerzialrat" dem "Merkur" ähnlich nahe, wie auch "merkantil", "Merkantilismus", "Merchandising" oder "Marketing".

Auf die Rolle als Gott der Händler stützt sich wohl die Mehrzahl der über 200 Eintragungen, die man im österreichischen Telefonverzeichnis unter "Merkur" oder "Hermes" findet. Das Gros bilden die Filialen der Merkur-Warenhandels AG und der Merkur Versicherung. Weitere Unternehmen mit göttlichem Firmennamen sind in den Bereichen Wohnbau, Hausverwaltung, Vermögensverwaltung, Unternehmensbeteiligung, Finanzierungsvermittlung oder Steuerberatung tätig.

Die Zentrale der Merkur Bank steht in München. Ihr Emblem zeigt den Heroldsstab mit stilisierten Flügeln und Waagschalen. Mit Flügelkappe präsentiert sich ein ebenso stilisierter Hermes auf dem Logo der Messestadt Hannover. Gemeinsam mit Wien ist sie Mitglied in der Union des Foires Internationales, einem 1925 gegründeten Zusammenschluss von 20 europäischen Messen; auch ihr Zeichen präsentiert den antiken Handelsgott.

Die ewige Leier

Als Apollo den Diebstahl seiner Rinder bemerkte, besänftigte ihn Hermes mit einem neuen Musikinstrument, das er gerade erdacht hatte. Er zog eine Rindshaut über den Panzer einer Meeresschildkröte und spannte Saiten aus Schafsdarm darüber. So entstand die Lyra. In Apollos Händen geriet sie zum Symbol der Musik schlechthin. Später stieg Apollos Sohn Orpheus damit in die Unterwelt, um seine geliebte Eurydike zu suchen. Die Leier wurde schließlich als Sternbild am Sommerhimmel verewigt.

Der griechische Hermes soll auch die Schrift erfunden sowie den Menschen Schreiben, Lesen und Rechnen gelehrt haben. Dankbar wurden Städte nach ihm benannt. Dieser Mythos fußt auf älteren babylonischen Vorstellungen. Denn dort verband man den innersten Planeten mit dem Gott Nabu. Er war Sohn und Sekretär des höchsten Gottes Marduk und hielt die Beschlüsse der Götter über das Schicksal der Menschen auf heiligen Tontafeln fest.

Nabu wurde als Gott des Wissens, des Lernens und der Redekunst verehrt. Er galt zudem als Überbringer wichtiger Nachrichten. Hätte es diesen Berufsstand damals schon gegeben, wäre er vielleicht auch zum Gott der Journalisten geworden. Jedenfalls tauchten Hermes und Merkur später im Titel mehrerer Zeitungen auf. Der Deutsche Merkur erschien von 1773 bis 1810, der Rheinische Merkur wurde bald nach seiner Gründung 1814 wieder eingestellt. Seit 1946 wird in Bonn jedoch eine Wochenzeitung gleichen Namens gedruckt. In Berlin arbeitet die Redaktion der Monatszeitschrift Merkur. Und in der bayerischen Metropole eilt der Münchner Merkur zu seinen Lesern.

In Niederösterreich gibt es den Wirtschaftsnachrichtendienst Hermes. Das göttliche Konterfei findet man außerdem am Kopf des österreichischen Wirtschaftsblatts.

Hermetisch

Als Götterbote, Schutzherr der Schreibkunst und der Wissenschaft erinnert Babylons Nabu auch an den altägyptischen Gott Thoth. Der ibisköpfige Thoth wurde allerdings mit dem Mond in Verbindung gebracht.

Thoth und Hermes verschmolzen jedenfalls nach Christi Geburt zur Figur des sagenhaften Weisen Hermes Trismegistos, was "dreimalgroßer", also "allergrößter" Hermes bedeutet. Man hielt ihn für den Urheber aller Bildung, Weisheit und Künste. Als vermeintlicher Zeitgenosse des Moses soll er 35625 Bücher über magisches Wissen verfasst haben. Geheimnisvoll war auch das Siegel, mit dem er eine Glasflasche hermetisch verschließen konnte.

Alchimisten des Mittelalters hofften, in seinen Werken einen Hinweis zur Herstellung von Gold zu finden. Doch der lebhafte Merkur gab einem anderen chemischen Element seinen Namen. Im Lateinischen heißt es "mercurius", im Englischen "mercury". "Mercurial" steht dort für "sprunghaft", "wechselhaft" oder "quicklebendig" und schlägt die gedankliche Brücke zum Deutschen "Quecksilber". Dessen "queck" stammt von "keck", was früher "lebhaft" bedeutete. Schließlich wird das "lebendige Silber" ja schon bei Zimmertemperatur flüssig. Da es heute fast jeder in Form der Legierung Amalgam im Mund trägt, könnte man Merkur eigentlich auch zum Gott der Zahnärzte küren.

Mittelalterliche Sterndeuter waren überzeugt, dass der rastlose Merkur den in seiner Stunde geborenen Kindern besonders regen Geist schenken würde; Philosophie und Rhetorik seien ihnen fast in die Wiege gelegt. Ging es nach den Astrologen, sollten sie Künstler, Sternforscher oder Lehrer werden.

Der Planet Merkur bekam nur einmal irdischen Besuch. Mariner 10 kartierte 1974 und 1975 knapp die Hälfte seiner Oberfläche. Auf der Suche nach Namen für die vielen Krater entsann man sich alter Mythen. Mehr als 200 Künstler wurden ausgewählt - unter ihnen Michelangelo, Cervantes und Goethe. Österreich ist mit den Musikern Haydn, Mahler, Mozart, Schönberg und Schubert vertreten.

In Wahrheit ist Merkur jedoch kein idyllischer Ort. Mangels Atmosphäre reicht der Weltraum direkt bis zum Boden hinab. Tagsüber erhitzt die Sonne das Gestein auf 425° C. Nachts stürzt die Temperatur auf -170° C. Mariners Fotos zeigten eine öde Welt. Sie schien keinen zweiten Erkundungsflug wert. Erst vor kurzem beschloss die NASA die Rückkehr zum vergessenen Planeten. Die neue Sonde bricht im Jahr 2004 auf. Ihr Name: "Messenger" (engl. "Bote").

Freitag, 09. Juni 2000

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