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Vor 50 Jahren entdeckte Jan Oort eine geheimnisvolle Wolke

Tiefkühltruhe für Kometen

Von Christian Pinter

Taucht ein neuer Komet am Himmel auf, ist meist bald von der "Oort'schen Kometenwolke" die Rede. Kaum ein Astronom zweifelt an ihrer Existenz, obwohl sie noch niemand gesehen hat. Die spekulative Struktur am Rande des Sonnensystems feiert heuer den 50. "Geburtstag", und ihr Vater wäre im April 100 Jahre alt geworden.

Dabei waren es gar nicht Kometen, die den am 28. April 1900 im friesischen Franeker geborenen Jan Hendrik Oort zur Himmelskunde brachten. Vielmehr faszinierte ihn die Milchstraße. Ein Leben lang. Schon als Bub hatte der Niederländer stundenlang zum matten Lichtband am Firmament hoch geblickt. Nach der Schule wählte er die Universität Groningen, weil dort sein berühmter Landsmann Jacobus Kapteyn Astronomie lehrte. Er wurde Oort zum verehrten Mentor.

Damals hatte man bereits die Bewegung vieler Sterne bestimmt. Nun wurde versucht, daraus die Rotation der Milchstraße um ihren Mittelpunkt nachzuzeichnen. Oort, der ab 1924 an der Universität Leiden arbeitete, formulierte hierzu eine bahnbrechende mathematische Funktionen. Mithilfe der Oort'schen Rotationsformeln wurde es möglich, aus der Bewegung eines Sterns seine Distanz zum Milchstraßenzentrum abzuleiten. Das half im Bemühen, ein dreidimensionales Modell der Galaxis herzustellen.

Für unsere recht peripher gelegene Sonne ermittelte Oort einen Zentrumsabstand von 21.000 Lichtjahren. Heute gehen wir von 28.000 Lichtjahren aus und glauben, dass unser Stern 240 Millionen Jahre für einen kompletten Umlauf benötigt.

Als die Nazis jüdische Professoren vertrieben, protestierte Oort. Seines Widerstands wegen musste er Leiden 1940 verlassen. Erst nach dem Krieg konnte er an die Universität zurückkehren. Dort verleitete die Arbeit eines Kollegen, der sich mit Bahnstörungen durch Jupiter befasste, Professor Oort zu einem folgenschweren "Seitensprung" ins Reich der Kometen.

Schwarze Schweifsterne

Ein typischer Komet ist ein Winzling von rund einem Dutzend km Durchmesser. Die Oberfläche ist schwarz wie Kohle. Solcherart getarnt wären Kometen für uns kaum sichtbar. Doch in Sonnennähe kommen sie gehörig "ins Schwitzen". Eingeschlossene Eispakete sublimieren dann zu Gas, das in wilden Fontänen durch Risse der Kruste ins Freie schießt.

Gemeinsam mit mitgerissenem Staub bildet es im Vakuum des Alls rasch eine mehr als erdgroße Hülle um den Kern: die Koma. Sie reflektiert Sonnenstrahlung und wird von dieser auch zum Eigenleuchten angeregt. Die Koma verrät die Existenz des Himmelsvagabunden, er taucht im Teleskop auf. Jedes Jahr gehen Astronomen so bis zu zwei Dutzend neuer Kometen ins Netz. Amateure steuern ein Drittel aller Entdeckungen bei.

Lange rätselte man über den Aufbau der Kometenkerne. Oft betrachtete man sie als eine Art "Fahrgemeinschaft" vieler kleiner, nur lose durch Schwerkraft zusammengehaltener Partikel. Je nach angenommenem Teilchendurchmesser sprachen die einen Wissenschaftler von "fliegenden Sandbänken", die anderen von "Schutthaufen".

Vor genau 50 Jahren zeichnete US-Astronom Fred Whipple jedoch ein anderes Bild. Er beschrieb den Kometenkern als Konglomerat aus Staub, Gestein, Wassereis und anderen gefrorenen Substanzen - als "schmutzigen Schneeball". Seit der Erkundungsmission der ESA-Sonde Giotto, die 1986 durch die Koma des Kometen Halley tauchte, gilt Whipples Modell grundsätzlich als bestätigt.

Giotto funkte Bilder eines sehr dunklen, unregelmäßig geformten Kerns mit 16 × 8 × 8 km Durchmesser zur Erde. Jede Sekunde entströmten ihm Tonnen von Wasserdampf. Aber auch Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Methan oder Ammoniak wurden nachgewiesen.

Mit schrumpfendem Sonnenabstand steigt die Gas- und Staubproduktion von Kometen dramatisch an. Der Sonnenwind drückt das Material weg, formt daraus Millionen Kilometer lange Schweife. Entfernt sich das Objekt wieder, verschwindet zunächst der Schweif, dann die Koma. Der Komet wird für uns wieder unsichtbar und der Kern kehrt, um kaum ein Promille seiner Masse erleichtert, in die Kälte des Alls zurück.

Die eiligen Kurzzeitgäste kommen auf exzentrischen, schlanken Ellipsen daher. So exzentrisch, dass diese extrem weit in den Raum greifen und mitunter schon fast wie Parabeln oder Hyperbeln wirken. Die Bahnform hat Konsequenzen. Parabel und Hyperbel sind offen. Ein Komet auf solchem Kurs müsste von einem anderen Stern stammen, wäre Bote einer fremden Welt. Nach seinem Besuch verschwände er für immer in den Weiten der Milchstraße.

Verehrte Ellipsen

Die Ellipse ist hingegen geschlossen, impliziert Gebundenheit an unser System. Im Abstand von Jahren oder Jahrtausenden zwingt sie den Kometen zu regelmäßiger Rückkehr in unmittelbare Sonnennähe.

Unsere Sonne weilt jedenfalls im Brennpunkt der Kometenbahn. Da wir die Winzlinge bloß in ihrer Nachbarschaft sehen können, vermessen wir stets nur den kleinen, brennpunktnahen Bahnabschnitt. Hier ähneln Ellipse, Parabel und Hyperbel einander. Es ist daher nicht leicht, den Orbit wirklich exakt zu bestimmen.

Kometenforscher verehren Ellipsen. Nur wenige räumen die Existenz offener Kometenbahnen ein. Ergibt die Rechnung einmal eine Hyperbel, machen sie meist eingeschränkte Beobachtungsmöglichkeiten, Messfehler oder Planetenstörungen verantwortlich. Vor allem Jupiter gilt als mächtiger Manipulator.

Jan Oort studierte die Bahnen von Schweifsternen mit besonders langen Umlaufszeiten. Häufiger als man dies statistisch erwartet hätte, reichten ihre Ellipsen bis in eine Distanz von Lichtjahresgröße hinaus. Damit stammten diese Kometen vom denkbar äußersten Bereich des Sonnensystems - in 4.3 Lichtjahren Distanz schließt ja schon der nächste Stern, Proxima Centauri, an.

Dort draußen, in einer Entfernung von 0,8 bis 2,4 Lichtjahren, schien ein wahres Reservoir mit hochgerechnet 180 Milliarden Kometen zu existieren. Sie stürzten aus allen Richtungen ins Planetensystem. Das ferne Kometenlager musste also wie eine Kugelschale geformt sein und uns wie eine gigantische, sphärische Wolke einhüllen. Oort publizierte sein Modell 1950 in einem niederländischen Fachbulletin. Es wurde als "Oort'sche Wolke" weltberühmt.

Heute glaubt man an einen etwas kleineren Wolkenradius von 0,3 bis 1,5 Lichtjahren. Der dichteste Teil mag bei 0,7 Lichtjahren Distanz liegen, was dem 45.000-fachen des Erdbahnradius entspricht. In der Wolke tummeln sich vielleicht mehrere 100 Milliarden Kometenkerne, die zusammen 1 bis 25 Erdmassen besitzen. Sehen können wir sie nicht. Auch wenn die Oort'sche Wolke ein sehr plausibles Konstrukt ist, bleibt ihre Existenz, streng genommen, unbewiesen.

Unternehmen wir eine Fernreise in Jan Oorts Reich: Fast mit Lichtgeschwindigkeit dahinziehend haben wir nach fünf Stunden alle Planeten hinter uns gelassen. Doch erst acht Monate später erreichen wir den dichtesten Teil seiner Kometenwolke.

Die Sonne ist längst zu einem Lichtpunkt ohne erkennbare Ausdehnung geschrumpft. Sie bleibt aber hellster Stern, erinnert im Glanz an die Venus, die wir einst am irdischen Himmel betrachtet haben.

Nicht einmal ein Milliardstel der vertrauten Sonnenstrahlung erreicht uns noch. Die Temperatur ist auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt gesunken. Als neues Wolkenmitglied kreisen wir mit einigen 100 km/h um den fernen Sonnenstern. Wir brauchen Jahrmillionen, um ihn zu umrunden. Die anderen Kometenkerne bekommen wir kaum zu Gesicht. In der unfassbaren Weite würde sich sogar eine Billion Himmelskörper verlieren.

Die Anziehungskraft der Sonne ist ebenso schwach wie ihr Schein geworden. Sie wird langsam von Gravitationsfeldern anderer Sterne überlagert. Allein im Umkreis von zwölf Lichtjahren machen wir zwei Dutzend Nachbarn aus. Während die Sonne mit uns im Schlepptau um das Milchstraßenzentrum zieht, kommen manche näher, andere rücken fort. In einer Million Jahre zählen wir fünf bis zehn Sternpassagen.

Als Mitglied der Oort'schen Wolke sind wir also häufig von Nachbarsternen in unserer Ruhe gestört. Je nach Geometrie werden wir dabei beschleunigt oder gebremst. Bei allzu heftiger Abbremsung fallen wir wieder der Sonne entgegen und glänzen irgendwann als neuer Komet am irdischen Firmament.

In der Tiefkühltruhe

Molekülwolken, wie sie die Sonne alle paar hundert Millionen Jahre kreuzt, können die kometaren Winzlinge ebenso aus der Bahn werfen, wie sehr seltene, gegenseitige Kollisionen. Gelegentlich zieht ein besonders leuchtkräftiger Stern vorbei und lässt die Temperatur um mehrere Grad klettern. Davon abgesehen, ist die Oort'sche Wolke aber eine zuverlässige Tiefkühltruhe. Im Innern der Kometenkerne blieb uralte Materie daher wohl recht unverändert erhalten.

Vielleicht wurden die Kometen einst in dieser fernen Wolke geboren. Sie wäre dann als Überbleibsel des solaren Urnebels zu betrachten und hätte sich abgekoppelt, als dieser immer schneller zu rotieren begann und zur Scheibe geriet. Die meisten Forscher glauben das aber nicht. Sie halten Kometen statt dessen für "Exilierte", wähnen ihre einstige Krippe in deutlich geringerer Sonnendistanz.

Als unsere Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren zu leuchten begann, bildeten Staubkörnchen in der sie umgebenden Materiescheibe immer größere Klumpen. Schließlich zogen Billionen von kilometerkleinen Planetesimalen um den jungen Stern. In seiner Nähe konnten sich nur wenigflüchtige Minerale und Elemente wie Silizium oder Eisen halten. Hier formten steinerne Planetesimale die "erdähnlichen" Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars.

Ab etwa fünffacher Erddistanz war es kalt genug für flüchtigere Substanzen. Dort dominierte Wassereis klar über Silikatstaub. Entsprechend eishaltige Planetesimale gingen in den Riesen Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun auf. Die äußeren Planeten schleuderten übrig gebliebenes Baumaterial fort. Die meisten der überschüssigen Planetesimale stürzten in die Sonne oder donnerten auf die Planeten herab. Ein Bruchteil wurde wahrscheinlich an den äußersten Rand des Sonnensystems katapultiert.

Störungen der Nachbarsterne modellierten dort aus der fernen, zunächst flachen Kometenscheibe die kugelschalige Oort'sche Wolke. An ihrem äußeren Bereich konnten die fremden Gravitationskräfte leichter ansetzen. Die innere Oort'sche Wolke verfügt hingegen vielleicht noch über eine deutliche, scheibenähnliche Verdichtung.

Jan Oorts Modell inspirierte den ebenfalls aus den Niederlanden stammenden, in die USA emigrierten Planetenforscher Gerard Kuiper. Er schlug 1951 ein zusätzliches, viel näheres Kometenreservoir direkt hinter Neptun und dem winzigen Pluto vor. Zahlreiche Kometen mit kürzeren Umlaufszeiten haben dort ihren fernsten Bahnpunkt. Sie halten sich beim Flug recht brav an die Umlaufebene der Planeten. Deshalb sprach Kuiper auch von einem flachen Kometenring - und nicht von einer Wolke.

Tatsächlich stößt man seit 1992 immer wieder auf Himmelskörper im Kuiper-Gürtel. Sie dürften Kometenkernen in der Zusammensetzung ähneln. Mit ein paar 100 km Durchmesser übertreffen sie deren typische Dimension jedoch dramatisch.

Kuipers Gürtel

Niemand weiß, wie weit der Kuiper-Gürtel, der ebenfalls Milliarden Kometenkerne beherbergen könnte, in die Dunkelheit des Alls hinausreicht. Möglicherweise erstreckt er sich bis zur inneren Oort'schen Wolke. Vielleicht tauschen beide Reservoirs untereinander sogar Kometen aus.

Nach dem Krieg wandte sich Jan Oort immer mehr der noch ganz jungen Radioastronomie zu. Dem US-Amateur Grote Reber war es gelungen, breitbandige Radiostrahlung der Milchstraße aufzufangen. Auf Oorts Anregung hin suchte Henk van de Hulst 1945 auf theoretischem Weg nach einem Prozess, bei dem hingegen Radiowellen einer genau definierten Wellenlänge entstehen könnten.

Hulst fand ihn: wenn das Elektron in einem Wasserstoffatom seinen Drehimpuls ändert, sollte Strahlung mit einer Wellenlänge von 21 cm ausgesandt werden. Zur Suche danach verwandelte Oort eine 7,5 m weite, von der deutschen Wehrmacht zurückgelassene Radarantenne in ein Radioteleskop. Damit hatte er 1951 fast gleichzeitig mit US-amerikanischen und australischen Kollegen Erfolg.

Wie erhofft, verrieten geringe Frequenzverschiebungen der 21-cm-Strahlung die Bewegung galaktischer Wasserstoffwolken. Unter Einsatz der "alten" Oort'schen Rotationsformeln konnte man deren Abstand zum galaktischen Zentrum abstecken. Der Großteil der Milchstraße wurde so kartiert. Zum ersten Mal tauchten dabei Spiralarme auf, wie man sie bei anderen Galaxien schon fotografiert hatte.

1958 wurde der "Vater der niederländischen Radioastronomie" zum Präsidenten der Internationalen Astronomischen Union (IAU) gewählt. 1962 half er, die Europäische Südsternwarte (ESO) mit ihrem Großteleskop im chilenischen La Silla aus der Taufe zu heben.

Nach seiner Pensionierung als Direktor der Leidener Sternwarte im Jahr 1970 teilte sich Jan Oort das Büro mit seinem Enkel Marc, ebenfalls Astronom. Bis kurz vor seinem Tod verfolgte der alte Mann die rasante Entwicklung der Himmelskunde mit Interesse. Er starb am 5. November 1992.

Freitag, 05. Mai 2000

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