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Herausforderung für Astronauten und Weltraummediziner: Die Schwerelosigkeit ist Fluch und Segen zugleich

Schimpansen, Versuchskaninchen

und Hühnerbeine

Von Christian Pinter

Vor genau 40 Jahren, am 9. April 1959, stellte die NASA in Washington jene sieben Männer vor, die als erste ins All aufbrechen sollten: Shepard, Grissom, Glenn, Carpenter, Schirra, Cooper und
Slayton. Alle waren Militärpiloten und Testflieger vom Marine Corps, der Navy und der Air Force. Im folgenden Dezember wählte die Sowjetunion 20 Kandidaten aus, darunter Gagarin und Titow. Auch
Moskau setzte auf Militärpiloten, psychisch extrem belastbar und von außergewöhnlich guter Gesundheit. Während die zukünftigen US-Astronauten lange vor dem ersten Start populär wurden, umhüllte die
russischen Kollegen der Mantel des Schweigens: sogar sie selbst wußten anfangs nur, daß es um die Erprobung einer speziellen Maschine ging.

Ungewisse Reise

Damals konnte niemand mit Sicherheit sagen, was Menschen im Erdorbit erwarten würde. Manche Ärzte glaubten, Organe könnten ohne Schwerkraft nicht funktionieren. Im All ginge der Gleichgewichtssinn
verloren, verformten sich die Augen, bräche der Blutkreislauf zusammen. Andere sorgte das Wechselbad von Gewichtslosigkeit und extremer Belastung. Beim Start mußten die Kapseln in wenigen Minuten auf
28.000 km/h gebracht, beim Wiedereintritt von der Lufthülle ebenso dramatisch abgebremst werden. Dabei war mit Beschleunigungen bis -10 g zu rechnen; Astronauten würden also das Zehnfache ihres
Körpergewichts wiegen.

Schon in den dreißiger Jahren hatten deutsche Flugmediziner die Auswirkungen starker Beschleunigungskräfte studiert. Fingen Piloten ihre Maschinen nach steilem Sturzflug ab, wurde ihr Kreislaufsystem
schwer belastet, die Atmung erschwert. Pumpte das Herz nicht genug Blut in den Kopf, kam es zum gefürchteten „blackout". Spezialisten wie Fritz und Heinz Haber forschten nach dem Krieg in den USA
weiter, wo man bald über mögliche Flüge außerhalb der Erdatmosphäre nachdachte: schon 1948 prägte Hubertus Strughold den Begriff „Weltraummedizin".

In gewaltigen Zentrifugen experimentierten Wissenschaftler mit immer höheren Beschleunigungskräften. Obduzierte Schimpansen zeigten nach 40 g innere Verletzungen. Menschen wurden schonender
behandelt, doch gab es auch hier Brustschmerzen, Atemnot und Bewußtlosigkeit. Generell kamen Testpiloten besser zurecht · ein Befund, der die Auswahlkriterien für Raumflugkandidaten nachhaltig
beeinflußte.

Das andere Extrem, Schwerelosigkeit, ließ sich nur wenige Sekunden lang realisieren, wenn Flugzeuge vertikale Parabeln zogen. Essen, Trinken, Schlafen und Urinieren war dabei möglich, obwohl selbst
routinierte Piloten anfangs unter Desorientierung, Verwirrtsein und Übelkeit litten.

Der Chimponaut

Die USA schoß Anfang der fünfziger Jahre Mäuse und Affen an der Spitze von Raketen hoch in die Luft. Am Scheitel der Flugbahn filmte eine Kamera das Verhalten der schwerelosen Tiere. Sofern die
Landung klappte, überlebten sie. Der Osten setzte Hunde für solche Tests ein. 1957 waren russische Triebwerke stark genug, die Grenze zum Weltraum zu erreichen. Schon kurz nach dem sensationellen
Start des ersten Satelliten, Sputnik-1, brachte die Sowjetunion die Hündin Laika ins All · das erste Lebewesen in einer Erdumlaufbahn. Entgegen den Meldungen aus Moskau war Laika am 40. Jahrestag der
Oktoberrevolution bereits verendet. Die Kapsel überhitzte gleich nach dem Start. Im August 1960 folgten die Hunde Belka und Strelka; Pchelka und Muschka verglühten.

Der erste Amerikaner im All hieß „Ham". Der Schimpanse absolvierte am 31. Jänner 1961 einen ballistischen Flug von 17 Minuten Dauer, davon knapp 5 in Schwerelosigkeit. Er wurde in den US-Medien als
„Chimponaut" gefeiert.

Parabelflüge und Tierversuche ließen hoffen, daß Menschen Exkursionen in den Weltraum gut überstehen würden. Viele Zeitgenossen, so erinnert sich John Glenn, glaubten jedoch, Raumfahrer müßten „eine
Art Yogi" sein und sich während des Flugs in Trance versetzen. Der Russe Juri Gagarin bewies das Gegenteil. Als erster Mensch umkreiste er am 12. April 1961 108 Minuten lang die Erde. Gagarin
versicherte, daß Schwerelosigkeit die Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigen würde. Sicherheitshalber hatte der Jagdflieger aber Befehl gehabt, nur im äußersten Notfall in die automatische Steuerung
der Wostok-1 einzugreifen.

Drei Wochen später stieg Alan Shepard zum 15minütigen, ballistischen Flug in 184 km Höhe auf. Nach Erreichen des Scheitelpunkts fiel die Mercury plangemäß in den Atlantik. „Sie wollten eigentlich
einen Hund raufschicken, aber sie fanden es zu grausam", witzelte der erste US-Astronaut. Die Erfahrungen waren ermutigend, wenngleich die Sowjets Probleme wie German Titows Raumkrankheit
bagatellisierten. Auch die NASA schärfte ihren Piloten ein, alles möglichst „einfach aussehen" zu lassen.

Schon Jules Verne beschrieb 1865 und 1869 in seinen Romanen „Von der Erde zum Mond" und „Reise um den Mond" die Schwerelosigkeit. Seine Mondfahrer hatten plötzlich wackelnde Köpfe und schwebende
Arme. Mittlerweile gehören Fernsehbilder schwereloser Astro- und Kosmonauten zum Alltag. Sobald die Triebwerke des Shuttles den Schub einstellen oder sich die Sojus-Kapsel von der letzten
Raketenstufe löst, ist es scheinbar vorbei mit der irdischen Gravitation. Manche Astronauten finden das faszinierend, anderen ist es lästig. Man muß neu lernen, sich zu bewegen. Dreht man an einer
festsitzenden Mutter, rotiert nicht sie, sondern der eigene Körper in Gegenrichtung. Zum Üben setzt man nach wie vor auf Parabelflüge, bei denen sich rund 30 Sekunden lang Schwerelosigkeit einstellt.
Amerikaner, Russen und Europäer setzen dazu Großraumflugzeuge ein. Der Spitzname der US- Maschine, „vomit comet", verrät, mit welchen Problemen Passagiere kämpfen (engl.: vomit, erbrechen).

Übelkeit gilt zusammen mit Schwindelgefühl, Müdigkeit und verminderter Arbeitsfähigkeit als Symptom der „Weltraumkrankheit", die etwa jeden dritten Kosmonauten befällt. Man fühlt sich wie auf dem
Drehsessel. Auf Erden registrieren Rezeptoren in Muskeln und Bindegewebe die Schwerkraft. Ein Organ im Innenohr meldet Drehbewegungen und der Sehsinn informiert uns über die Position im Raum.
Raumfahrer sehen Boden und Decke, fühlen aber kein „oben" und „unten". Die Systeme liefern widersprüchliche Meldungen. Der resultierende Zustand heißt „Desorientierung" und trifft Kurzzeitflieger oft
heftiger als Langzeitkosmonauten; offenbar paßt sich die Wahrnehmung mit der Zeit an die geänderten Bedingungen an. Wie österreichische Experimente belegen, bewegt man sich im Orbit langsamer und
verläßt sich noch mehr als sonst auf den Sehsinn.

Osteoporose im All

Die Wostok- und Mercury-Flüge zeigten, daß Schwerelosigkeit nicht lebensbedrohend wirkt. Gesundheitsfördernd ist sie aber auch nicht. Auf Erden müht sich das Herz ab, Blut in den höher
angebrachten Kopf zu pumpen. Das wird im Orbit zur Qual: bald sammelt sich zuviel Blut im Haupt an. Man glaubt, der Kopf würde platzen. Venen treten hervor, Benommenheit und Kopfschmerzen stellen
sich ein. Der Blutdruck steigt. Bis zu 2 l Flüssigkeit verschieben sich in den Oberkörper. Der Organismus will sie loswerden, scheidet mehr als gewohnt aus. Das Durstgefühl schwindet, Dehydrierung
droht. Auch die Produktion von Blutzellen im Knochenmark geht zurück. Neugebildete rote Blutkörperchen werden frühzeitig zerstört. Das Immunsystem ist geschwächt. Heimische Untersuchungen stellten
übrigens auch eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit bei Langzeitflügen fest.

Zum Bau der Internationalen Raumstation (ISS) werden über 1.000 Arbeitsstunden im Vakuum des Alls nötig sein. In klobigen Druckanzügen sind Außenbordaktivitäten, sogenannte „EVAs", höchst anstrengend
und sicher kein „Weltraumspaziergang". Ganz anders der Aufenthalt innerhalb des Raumschiffs: in puncto Muskelbelastung kommt er nicht einmal an einen Schreibtisch-Job heran. Viel bewegen kann man
sich in Shuttle oder MIR nicht · und wenn, steuert man mit den Armen. Die Beine verlieren ihre eigentliche Funktion. Ab einer Woche Aufenthalt macht sich Muskelschwund bemerkbar. Strecker sind dabei
stärker betroffen als Beuger. „Beinmuskelatrophie" nennen das die Ärzte, „Hühnerbein-Syndrom" russische Langzeitkosmonauten. Nach der Landung müssen sie auf der Tragbahre in den Helikopter gehoben
werden.

Ein untersuchter Wadenmuskel büßte beispielsweise in 6 Wochen 20 Prozent seiner Masse ein. Die Druckkraft sinkt oft gar um die Hälfte. Muskelmasse und -stärke nehmen entkoppelt ab; offenbar lassen
sich die Muskelfasern nicht mehr richtig ansprechen. Die Knochensubstanz verringert sich pro Monat um mehr als 1 Prozent. Gewohnte Belastungen, die sonst den Knochenaufbau anregen, fehlen. Wie bei
älteren Erdenbürgern nimmt auch die Dichte der Astronautenknochen ab; sie werden entmineralisiert, spröde, von Osteoporose betroffen. Das vom Knochen abgegebene Kalzium erhöht wiederum das Risiko von
Ablagerungen in den Nieren. Zum Glück wurde bislang kein Astronaut im Orbit von Nierensteinen geplagt.

Probleme gibt es auch mit der Feinmechanik: auf Erden korrigieren wir automatisch jeden Handgriff, rechnen die nach unten ziehende Gravitation ein. Im Orbit fallen Bewegungen zu großzügig aus,
schießen über das Ziel hinaus. In Summe ist das Bewegungsrepertoire des Körpers jedoch eingeschränkt. Man bückt sich nicht, sondern läßt sich in die richtige Position treiben. Daher stellen sich
rasch Rückenschmerzen ein. Nicht einmal im Schlaf bewegen Raumfahrer die Wirbelsäule ordentlich.

Schon die Berichte der ersten US-Astronauten ließen Spannungen zwischen Raumfahrern und Weltraummedizinern erkennen. Ärzte entscheiden über die Eignung der Kandidaten; sie können Raumfahrer
zurückstellen oder ihre Karrieren beenden, wenn sie eine bislang verborgen gebliebene Krankheit entdecken. So kam etwa der nominierte Mercury-Pilot Donald Slayton wegen eines minimalen Herzfehlers
erst 16 Jahre später beim Apollo-Sojus-Projekt zum Einsatz. Vor und nach dem Flug, aber auch im Orbit werden Raumfahrer zu Versuchskaninchen, müssen sich ständig Blut abzapfen lassen, Sensoren auf
die Haut kleben oder ihre Ausscheidungen einsammeln.

Ressentiments gegen Mediziner können sich Astronauten heute nicht mehr leisten. Die einst so gefürchtete Schwerelosigkeit ist längst zu einem der wichtigsten Motive für bemannte Missionen geworden.
Auf Erden nicht dauerhaft simulierbar, verlegen Metallurgie, Halbleitertechnik oder Biologie ihre Experimente in den Orbit. Auch die Medizin profitiert. Unter Extrembedingungen testet man Muskeln und
Nerven, Herz und Kreislauf, Stoffwechsel, Knochen, Hormone, Immunsystem und Lungenfunktion. Spezielle Fernbehandlungstechniken, Analysegeräte und Medikamente wurden entwickelt. Manches fand Eingang
in die „Alltagsmedizin", in Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation.

Da der US-Shuttle höchstens zweieinhalb Wochen im All bleiben kann, ließen sich die gesundheitlichen Folgen langwirkender Schwerelosigkeit bislang vor allem auf der russischen MIR studieren. Im
Oktober 1991 unternahm der Österreicher Dipl.-Ing. Franz Viehböck dort 14 Versuche; 10 waren allein der Medizin gewidmet. Fast alle fanden später beim Rekordflug des russischen Arztkosmonauten Dr.
Waleri Poliakow ihre Fortsetzung. 14 Monate lang konnte man dabei unter anderem die hormonelle Regulation des Kreislaufs studieren und Erfahrungen sammeln, wie sie auch für die Behandlung
bettlägriger Patienten interessant sind.

Fitneß an Bord

„Solche Chancen müssen wir auch weiterhin unbedingt nützen", appelliert der Geschäftsführer der 1991 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Weltraummedizin (ASM), Univ.-Prof. Helmut
Hinghofer-Szalkay. Er unterstreicht die Effizienz der bisherigen Projekte, deren Datenschatz Österreich in der Disziplin „Weltraummedizin" eine führende Rolle einräumte. Eine Position, die zu
schwinden droht, da mittlerweile Budgetmittel umverteilt wurden und Folgeprojekte ausblieben. Nun hofft die ASM auf die Russen. Sollte die MIR tatsächlich länger als geplant im Einsatz bleiben,
könnten deren Kosmonauten weitere heimische Experimente durchführen. In kleinerem Rahmen wäre dies später auch im russischen Teil der ISS denkbar. Österreich selbst hat sich ja nicht an der
Internationalen Raumstation beteiligt. Auch das einschlägige „Microgravity Programme" der europäischen ESA blieb bislang ungezeichnet.

Manche Symptome, die bei Raumfahrern beobachtetet wurden, ähneln jenen von normalen Erdenbürgern, die sich wenig bewegen können oder möchten. 360 km über dem Erdboden ersetzen Trainingsgeräte ·
Fahrräder, spezielle Laufbänder oder das österreichische Ergometer Motomir · jene Belastungen, auf die unser Körper eigentlich programmiert ist. Training im All hemmt Muskelschwund und verlangsamt
den Abbau der Knochensubstanz, der sich allerdings nicht völlig unterbinden läßt. Wichtig scheint die Mischung von schwachen langanhaltenden mit starken kurzzeitigen Belastungen zu sein.

Raummissionen der Zukunft, wie monatelange Aufenthalte auf der ISS und gar Flüge zum Mars, werden ausgeklügelte Fitneßgeräte an Bord haben müssen, damit die Erben Gagarins und Shepards in der
wunderbaren Welt der Schwerelosigkeit bestehen können.

Freitag, 09. April 1999

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