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Vor 50 Jahren regnete es über der Taiga Eisen vom Himmel

Ostsibirische Narben

Von Christian Pinter

Nach einer Woche Fahrt arbeitet sich die schwere Diesellok von Chabarowsk endlich Richtung Süden vor - zum fernen Ziel, dem Hafen Wladiwostok. Die Gleise folgen dem Westrand des Sichote-Alin-Gebirges, das die letzte Barriere vor dem Pazifik bildet. Dort endet Sibirien. Gäbe es die Transsibirische Eisenbahn nicht, befände man sich an der Peripherie der Peripherie.

Vor 50 Jahren war das nicht anders. Doch am 12. Februar 1947 regnete es hier 100 t Eisen vom Himmel. Es hinterließ Narben in der Taiga.

Feuerball Ein klarer Wintermorgen. Der Künstler Medvedev möchte Motive der Stadt Dalnerecensk malen. Kaum ist die Staffelei aufgestellt, blendet ein greller Blitz seine Augen. Ein Feuerball schießt von Nord nach Süd, wetteifert mit dem Glanz der Sonne. Während er den Himmel teilt, wandern die Schatten erstarrter Passanten über den Boden. Nach fünf Sekunden verschwindet der Spuk hinter den Bergen.

Dann folgt eine Serie markerschütternder Donnerschläge. In einer Bäckerei fliegt der Verschluß des Ofens auf, heiße Kohle prasselt auf den Boden. Wie von Geisterhand öffnen sich Türen. Fenster bersten, Verputz bröckelt von den Wänden. Einige Bewohner verkriechen sich in ihren Holzhütten, fürchten einen amerikanischen Atombombenangriff. Andere stürzen ins Freie, erblicken eine mächtige Rauchspur am Himmel, die noch stundenlang an das dramatische Geschehen erinnert. Medvedev hält die dunkle Säule fest.

Tage nach dem seltsamen Vorfall überfliegen Piloten den Westhang des Gebirges. Etwa 75 km östlich von Dalnerecensk machen sie umgestürzte Bäume und herausgeschleuderte Erde aus, die sich deutlich vom Schnee abhebt. Selbst Augenzeugen des Feuerballs, erstatteten die beiden in Chabarowsk Report. Mit Mitgliedern der Geologischen Gesellschaft kehren sie zurück. Da man in der dichten Taiga keinen Landeplatz findet, wird die Maschine 10 km südlich zu Boden gesetzt. Drei Tage lang kämpft sich die kleine Expedition durch tiefen Schnee und beinahe undurchdringlichen Wald.

Am 24. Februar stößt man auf abgeschlagene Äste und gespaltene Stämme, auf Felstrümmer und Erdbrocken. Ein 27 m weites und 6 m tiefes Loch mit leicht erhöhtem Wall tut sich auf. Im Chaos zerstörter Bäume stolpern die Männer über 33 weitere, kleinere Kessel. In einem findet man den ersten Eisenmeteoriten. Kein Zweifel: Dies ist eine Sammlung von Meteoritenkratern, die der spektakuläre Feuerball zwei Wochen zuvor geschlagen hat. Nie zuvor haben Menschen von der tatsächlichen Entstehung eines Kraterfelds berichtet.

Zwei Monate später trifft eine weitere Expedition ein. Mit dabei ist der erfahrene Mineraloge E. L. Krinov. In den zwanziger Jahren war er mit Leonid Kulik in die Steinige Tunguska vorgedrungen, wo sich am 30. Juni 1908 eine gewaltige, rätselhafte Explosion ereignet hatte. Immer wieder muß er seine Erlebnisse schildern: Er war damals vor 2.000 km² verwüsteten Waldes gestanden, hatte jedoch weder Krater noch Meteorite gefunden. Vielleicht, so erzählt er, war dies alles Folge eines Kometentreffers. Selbst aus Eis bestehend, könnte sich die Tatwaffe aufgelöst haben. Krinov ahnt nicht, daß das Tunguska-Rätsel auch Ende des 20. Jahrhunderts nicht eindeutig gelöst sein wird.

Wie Schrapnelle Im Vergleich zur Steinigen Tunguska wirkt Sichote-Alin zunächst wie ein offenes Buch. Nur der dichte Urwald behindert die Männer. Krinov läßt ihn sorgsam durchkämmen. Jeder Krater wird vermessen, Position, Durchmesser und Tiefe werden festgehalten. Die Männer müssen den Fundort jedes einzelnen Meteoriten notieren. Selbst die Lage umgestürzter Bäume zeichnet Krinov auf. Man zählt nun 122 Krater mit mindestens einem halben Meter Durchmesser. Dazu kommen dutzende kleine Gruben, deren Entstehung nicht immer klar ist.

Rasch gelangen die Forscher zu einem widersinnigen Befund. Eigentlich muß die beim Aufprall freiwerdende Energie mit der Masse des Geschoßes steigen. Mächtigere Meteorite müssen größere Krater schlagen. Hier scheint es umgekehrt: Je weiter die Krater, desto kleiner die darin ruhenden Geschoße. Die Natur steht Kopf.

Man findet eine plausible Erklärung. Die höhere Aufschlagsenergie ließ schwere Meteorite wohl größere Krater schaffen, zerriß die himmlischen Geschoße aber dabei. Wie Schrapnelle schossen ihre Bruchstücke durch die Taiga, köpften Wipfel, schlugen Äste ab, schrafften an der Rinde vorbei oder blieben in den Zedern stecken.

Die Eisenfragmente haben scharfe Ränder, die sich wie Klauen wegbiegen. Doch plötzlich hält Krinov ein exotisch wirkendes Exemplar hoch, das sich deutlich von den anderen unterscheidet. Es wiegt 11 kg und besticht mit seiner glatten Oberfläche. Scharfe Kanten gibt es nicht. Solche Himmelseisen mit offensichtlichen Schmelzspuren hat Krinov schon früher studiert. Es handelt sich um kleinere Meteorite, die beim Aufprall unzertrümmert geblieben sind. Sofern sie in Sichote-Alin überhaupt Krater schlagen konnten, bleiben deren Durchmesser meist unter 2 m. Die blaugrauen Einzelstücke sind viel seltener als die scharfkantigen Fragmente.

In den folgenden Jahren durchstreift Krinov mehrmals das Kraterfeld. Offenbar sind alle Meteorite innerhalb einer 1x2 km großen Streuellipse angeordnet, deren Hauptachse nach Südsüdost weist. Krinov leitet daraus die vermeintliche Flugrichtung des Feuerballs ab. Später wird die Suche von Krinovs Nachfolger, Valentin Tsvetkov, ausgeweitet. Er vergrößert die tatsächliche Streuellipse auf 4x12 km und korrigiert ihre Ausrichtung auf Südsüdwest.

Rekonstruktion Die größten Krater liegen am südlichen Ende der Streuellipse, während sich in der Mitte Krater unterschiedlicher Weite befinden. Aus diesem Befund und der Befragung Hunderter Augenzeugen rekonstruiert man den Ablauf des Meteoritenfalls. Demnach muß ein mehrere Meter großer Himmelskörper am 12. Fe~bruar 1947 um 10.38 Uhr in die Erdatmosphäre eingetaucht sein. Seine Flugbahn war flach, 40 bis 45 Grad zum Boden geneigt, die Geschwindigkeit mit rund 13 km pro Sekunde enorm. Kollidierende Luftpartikel erhitzten seine Oberfläche zur Glut, wurden ionisiert und sorgten für die grelle Leuchterscheinung. Winzige Teilchen der Meteoritenoberfläche schmolzen ab und formten die gewaltige, 35 km lange Rauchspur.

Auf seinem Flug nach Südsüdwesten zerbrach der Bolide zum ersten Mal in weniger als 6 km Höhe. Das späte Aufbrechen erklärt die recht kleine Streuellipse. Kleine Stücke (von einigen Gramm bis Kilogramm) wurden rasch von der Atmosphäre gebremst und fielen im nördlichen Teil herab. Ihr Flug hatte gerade lange genug gedauert, um Schmelzspuren an den Oberflächen auszubilden. Mittelgroße Reste barsten Augenblicke später abermals, regneten als Gemisch kleinerer und größerer Klötze herab und zeichneten für die unterschiedlich großen Krater in der Mitte des Felds verantwortlich.

Große Trümmer wurden am wenigsten gebremst und donnerten am südlichen Ende auf den Eisboden. Sie schufen die mächtigsten Krater, wurden beim Aufprall aber zerrissen. In Summe dürften rund 100 t Eisen niedergegangen sein.

Im Gürtel Jupiters Woher aber kommt das eiserne Geschoß? Man rechnet später die Flugbahn ins Weltall zurück und kalkuliert ein elliptisches Orbit, das in den Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter hineinreicht. Für die Existenz dieses Gürtels zeichnet Jupiter verantwortlich. Seine enorme Schwerkraft verhinderte, daß sich hier vor viereinhalb Milliarden Jahren ein weiterer, großer Planet bilden konnte. Stattdessen blieben unzählige kleinere Objekte zurück. Sie werden Kleinplaneten oder Asteroide genannt. Nur die mächtigeren besaßen durch den Zerfall radioaktiver Elemente genug Hitze, um aufzuschmelzen. Schwere Elemente wie Eisen und Nickel sanken zum Zentrum hinab, bildeten einen metallischen Kern. Darüber entstand ein Mantel aus Silikaten. Im Lauf von Jahrmillionen kühlten die Himmelskörper aus.

Schwere Kollisionen im Asteroidengürtel legten die Kerne frei. Weitere Zusammenstöße zersplitterten sie, so daß zwischen Kleinplaneten aus Stein auch metallische Bruchstücke aus Nickeleisen kreisen. Mit Hilfe spektraler Untersuchungen lassen sich diese M-Asteroide ausmachen. Zu ihnen zählt die 1852 entdeckte Psyche oder die Budrosa mit 62 km Durchmesser. Die allermeisten Trümmer sind aber winzig. Manche werden von Jupiter gestört und gelangen auf Bahnen, deren sonnennächster Punkt in Erdnähe liegt. Kollidieren sie mit unserem Planeten, verglühen sie in der Lufthülle oder stürzen als Meteorite zu Boden.

Poliert und geätzt zeigen die Fundstücke aus Sichote-Alin ein für die meisten Eisenmeteorite typisches Muster, das nach dem Österreicher Alois von Widmanstätten benannt ist. Wegen des geringen Nickelgehalts um 7 Prozent fällt das "Widmanstättensche Gefüge" hier allerdings ungewöhnlich grob aus. Sicher sind diese Meteorite Materialproben aus dem ehemaligen, metallischen Kern eines Kleinplaneten. Von welchem der vielen M-Asteroide sie stammen, läßt sich jedoch nicht sagen.

Geteilte Welt Aus dem Sichote-Fall lernen sowjetische Wissenschafter viel über den Ablauf eines Meteoritenfalls und die Bildung kleiner Krater. Man wird schließlich mehr als 9.000 Eisenfragmente mit einem Gesamtgewicht von 29 t sicherstellen. Der größte Fund wiegt über 1.700 kg. Geschätzte 70 t verbleiben in sibirischer Erde.

Sichote-Alin wird genauestens dokumentiert, Krinov zum Vorsitzenden des Komitees für Meteorite der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Medvedevs Bild, das die drohende, dunkle Rauchsäule zeigt, ziert das Mineralogische Museum in Moskau. 1957 wählt man es als Motiv einer 40-Kopeken-Briefmarke aus. Doch englischsprachige Publikationen lassen auf sich warten.

Der Westen erfährt zunächst wenig. Dabei diskutiert man vor allem in den USA seit 50 Jahren leidenschaftlich über die mögliche Existenz von Meteoritenkratern. Man kennt mehrere kreisrunde, verdächtige Strukturen wie den Barringer-Krater in Arizona oder das Nördlinger Ries in Süddeutschland. Deren Entstehung wurde lange Zeit mit vulkanischen Kräfte erklärt. Immer mehr Geologen glauben hingegen an schwere Meteoriteneinschläge als Ursache - doch sie können ihre Thesen nicht beweisen. Niemand hat die Entstehung der Krater mitangesehen. Auch der Blick zu den Abertausenden Mondkratern hilft zunächst nicht weiter. In den vierziger Jahren halten sie noch viele Forscher für erloschene Vulkane. Wissenschafter wie Ralph B. Baldwin, Robert S. Dietz und Fred L. Whipple bemühen sich um einen Meinungsumschwung.

Als man lunare Meteoritenkrater endlich akzeptiert, fällt auch der Glaube an die Existenz irdischer Gegenstücke leichter. Doch es sind erst die amerikanischen Atombombentests, die einen unumstößlichen Beweis liefern. Sie hinterlassen Coesit, eine Hochdruckmodifikation des Quarz, die bei den wesentlich harmloseren Vulkanexplosionen nicht entstehen kann. Das seltene Mineral wird zunächst im Barringer-Krater und kurz darauf im Nördlinger Ries nachgewiesen.

So kommt es, daß die 1.200 m weite Eintiefung in der Halbwüste Arizonas erst 1960 als erster, zweifelsfrei identifizierter Meteoritenkrater in die Literatur eingeht - obwohl sich der Sichote-Fall 13 Jahre zuvor und fast vor den Augen sowjetischer Wissenschafter abgespielt hat. Läge Sichote-Alin nicht im östlichsten Teil der vom Kalten Krieg geteilten Welt, hätte es die Forschungsgeschichte wohl schneller bewegt.

Wilde Suche Laut Valentin Tsvetkov sahen ausländische Wissenschafter Sichote-Alin erst 1995. Selbst für Russen ist es praktisch unmöglich, Besuchsbewilligungen zu bekommen. Mittlerweile fahnden manche auch ohne Genehmigung nach den geschätzten 70 t Himmelseisen, das im Boden dahinrostet. Mit Minensuchgeräten stöbern sie einige Kilogramm pro Tag auf. Die Proben werden in den Westen verkauft und gelangen in großem Stil auf den Markt.

Bei den "Mineralientagen 1996" in München stellte "Sikhote-Alin", so die international übliche Schreibweise, bereits den zweithäufigsten aller ausgestellten Meteorite. Kaum ein Meteoritenhändler, der die meist rostbraunen Fragmente nicht anbot. Die blaugrauen Einzelstücke mit Schmelzkruste sieht man seltener. Sie werden von Sammlern besonders geschätzt.

Die Glücksritter der ostsibirischen Taiga wissen das. Ihre wilde Privatsuche verläuft undokumentiert und spricht der wissenschaftlichen Akribie Hohn, mit der Krinov jeden Fund aufgezeichnet hatte. In Moskau verfolgt man das mit Sorge - vor allem, weil die vielen Fundstücke den Marktpreis für eigene Exemplare drücken. Diese hat das Komitee für Meteorite bisher gerne verwendet, um mit westlichen Museen zu tauschen.

Kraterfelder Heute kennt man rund 150 identifizierte Einschlagsnarben auf der Erde. Die meisten sind Einzelkrater. Selten findet man ganze Kraterfelder wie Sichote-Alin, Henbury in Australien, Kaalijärv in Estland, Campo del Cielo in Argentinien oder Odessa in Texas. Solche Mehrfacheinschläge wurden fast immer von Eisenmeteoriten produziert, obwohl Steinmeteorite sehr viel häufiger zur Erde stürzen.

Modellrechnungen zeigen den Grund: Große Meteorite aus Stein oder Eisen donnern praktisch ungeteilt in den Boden und zeichnen für mächtige Einzelkrater verantwortlich. Kleinere Meteorite fragmentieren mehrmals. Bei Steinmeteoriten beginnt dieser Prozeß bereits 20 oder 15 km über Grund. Ihre Bruchstücke sind schließlich zu winzig, um noch Krater zu schlagen. Die massiveren Eisenmeteorite teilen sich später. So existieren beim Aufschlag noch mehrere Brocken, deren jeweilige Masse zur Kraterbildung ausreicht.

Ein besonders faszinierendes Kraterfeld liegt fast vor unserer Haustür. Über dem polnischen Morasko muß vor Tausenden Jahren . . . - doch das ist bereits eine andere Geschichte.

Mittwoch, 20. Mai 1998

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