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Die Geburt der Dendrochronologie aus der Marsbeobachtung

Redselige Baumringe

Von Christian Pinter

Mars beherrscht mit strahlend rötlichem Glanz die kommenden Sommernächte. Fernrohrbesitzer in aller Welt werden sich dann wieder bemühen, Einzelheiten auf dem kleinen Himmelsscheibchen zu erkennen. Früher spekulierte man mit Vegetation auf dem Nachbarplaneten. "Oasen" oder gar "Wälder" gibt es dort leider nicht. Dennoch stand die Suche nach Leben auf dem Mars Pate für einen wichtigen Fund - allerdings in irdischen Bäumen.

Andrew E. Douglass wird 1867 in Windsor, Vermont, geboren. Er geht aufs Trinity College in Connecticut und nimmt schließlich eine Stelle am Observatorium der Harvard Universität in Boston an. Als die Sternwarteleitung eine Beobachtungsstation auf der Südhemisphäre errichtet, schickt man den jungen Douglass nach Peru - als Assistent des Astronomen William Pickering. Dort, in Arequipa, mustert Pickering 1892 den Mars.

Auch Percival Lowell ist vom Nachbarplaneten fasziniert. Der Bostoner Geschäftsmann will sogar eine eigene Sternwarte bauen, um ihn zu studieren. Pickering macht Lowell auf Douglass aufmerksam, der bald in Lowells Auftrag günstige Beobachtungsplätze testet. Er soll dabei natürlich nicht einfach nur auf das Wetter achten, sondern vor allem auf die örtliche Luftunruhe. Sie produziert das Funkeln der Sterne und verschlechtert das Bild der Planetenscheibchen im Teleskop. Douglass studiert das Phänomen anhand heller Sterne, deren Fernrohrbild er immer wieder prüft. Schließlich gelangt er nach Flagstaff, Arizona - ein aufstrebender Umschlagplatz für Vieh und Holz, verkehrsgünstig an der Eisenbahn gelegen.

Lowell, Pickering und Douglass quartieren sich Ende Mai 1894 hier in einem Hotel ein. Abends richten sie die mitgebrachten Teleskope auf den Mars. Douglass möchte noch weitere Tests, doch Lowell drängt. Er will seine Sternwarte möglichst rasch in Betrieb sehen. Noch im gleichen Jahr legt man den Grundstein. Unter einer mächtigen Kuppel aus dem Holz der Ponderosa-Kiefer wartet ab 1896 ein neues, 13 Tonnen schweres Linsenteleskop mit 60 cm weitem Objektiv auf den ersten Einsatz.

Tagsüber durchstreift Sternwartebesitzer Lowell die Umgebung Flag-staffs. Er stößt dabei auf eine unbekannte Eschenart. Nachts mustert er den roten Planeten. Die dunklen Regionen verändern Umriss und Farbe, in Abhängigkeit zu den Jahreszeiten auf dem Mars. Für den Amateurbotaniker Lowell ist das ein Beleg für Vegetation. In raren Momenten ruhiger Luft glaubt er Dutzende von schmalen Linien festzustellen - vermeintlich künstliche Kanäle, in denen Marsbewohner Wasser von den Polen in die Trockengebiete befördern.

An den Schnittpunkten der Wasserstraßen wähnt Lowell Städte und Wüstenoasen. Er propagiert dieses Bild in Büchern, Artikeln und Vorträgen, die die Öffentlichkeit faszinieren. Die Astronomen sind skeptischer. Viele sehen die seltsamen Kanäle nicht, auf denen das Fantasiegebäude ruht. Lowell kontert: Die Kollegen hätten wohl schlechte Beobachtungsplätze oder allzu große Teleskope. Douglass, mittlerweile Lowells erster Assistent, hat nachgewiesen, dass kleinere Instrumente manchmal bessere Resultate liefern; sie reagieren zumindest auf die Luftunruhe weniger empfindlich.

Steht Mars nicht am Himmel, wendet sich Lowell der Venus zu. Um ihr gleißendes Licht zu dämpfen, blendet er die Teleskopöffnung auf wenige Zentimeter ab - noch mehr als bei seinen Marsbeobachtungen. Dabei sieht er dunkle Streifen, die wie Speichen eines Wagenrads vom Äquator fortziehen. Er denkt, hier Details auf der Venusoberfläche zu erkennen; trotz ihrer überaus dichten Atmosphäre. Die Kritik an Lowell nimmt zu. Douglass muss seinen Chef verteidigen. Später zweifelt er jedoch immer mehr an dessen "Entdeckungen".

Im Frühjahr 1901 beklagt er sich brieflich bei William Putnam - Lowells Schwager - über die unwissenschaftlichen Methoden des Sternwartebesitzers. Kurz danach ist Douglass seinen Assistentenposten los. Später werden sich die radialen Streifen der Venus und die geradlinigen Kanäle des Mars wirklich als Täuschungen entpuppen.

Hölzerne Wetterchronik

Gregor Johann Mendel, der 1865 die heute nach ihm benannten Vererbungsgesetze entdeckte, suchte nach Zusammenhängen zwischen Sonnenflecken und irdischem Wetter. Das verrät etwa ein Besuch im ehemaligen Augustinerkloster in Brünn, dem Mendel als Abt vorstand. Unabhängig von Mendel glaubt Douglass seit Jahren an solche Beziehungen. 1904 blickt er auf einen Baumstumpf und mustert die konzentrischen Jahresringe. Er erkennt: Die Struktur aus weiten und engen Ringen ist in Bäumen der gleichen Art und Region ähnlich; offenbar spiegelt sie gleichartige Wachstumsbedingungen wider. Im trockenen Arizona entstehen breite Ringe in Jahren mit reichlich Niederschlag, schmale in solchen mit kargem. Bei alten Ponderosa-Kiefern, auch "Gelb-Kiefern" genannt, reicht die hölzerne Wetterchronik mehrere Menschengenerationen zurück.

Wenn Bäume also den Niederschlag der letzten Jahrzehnte oder Jahrhunderte dokumentieren, dann müssen Holzbalken historischer Bauwerke das Wetter noch weiter zurückliegender Epochen aufgezeichnet haben. Überschneidet sich das äußere Ringmuster der alten Balken mit dem inneren von noch lebenden Bäumen, lässt sich die Chronik lückenlos erweitern. So kann Douglass weiter in die Vergangenheit zurückblicken - bis in die Zeit der spanischen Eroberer.

Schon als Douglass an Lowells Seite den Mars studiert hat, erforschten Archäologen das Land zwischen dem Rio Grande und dem Colorado. Hier siedelten einst indianische Völker, die man nach einem Navajo-Wort "Anasazi" - "Die Alten" - nennt. Sie lebten in mächtigen Bauwerken, wie dem Pueblo Bonito im Chaco Canyon, dem Pueblo Aztec oder den versteckten Klippenhäusern der Mesa Verde. Manche der Pueblos besaßen viele Hunderte Räume. Ausgeklügelte Bewässerungssysteme erlaubten den Bewohnern trotz des regenarmen Klimas Ackerbau. Doch wahrscheinlich wurden die Anasazi Opfer jener lang anhaltenden Dürre, die das Colorado-Plateau Ende des 13. Jahrhunderts heimsuchte. Sie verschwanden.

In ihren Bauwerken blieben Holzbalken zurück, die einst Zwischendecken und Dächer trugen. Proben davon erhält Douglass 1918. Die Ringmuster der Balken aus Aztec und Pueblo Bonito überlappen sich teilweise mit denen jüngerer Hölzer, so dass Douglass nun auch in vorspanische Zeiten schauen kann. Er publiziert einen Artikel über die Altersbestimmung indianischer Siedlungen anhand der Jahresringe. Archäologen sind begeistert. Jetzt lassen sich einzelne Bauten und sogar Bauabschnitte mit unvergleichlicher Präzision datieren. Douglass selbst prägt für die neue Methode den Begriff "Dendrochronologie", zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für Baum, Zeit und Lehre. Die "redseligen Baumringe", so betont er 1929, könnten die Geheimnisse des Südwestens lösen.

Zunächst ist Douglass an der Universität von Tucson, Arizona, noch als Astronom beschäftigt. Doch 1937 gründet er das Laboratorium für Baumringforschung. Hier soll eine möglichst umfangreiche Sammlung von Jahresringmustern entstehen. Douglass wird Direktor und behält diese Position bis 1958. Vier Jahre später stirbt er.

Flagstaff versöhnt sich mit ihm. Vor dem Lowell-Observatorium ist nicht nur ein Exemplar jener Eschenart zu bewundern, die der Bostoner Sternwartegründer entdeckt hat. In einigem Abstand erinnert eine Ponderosa-Kiefer an seinen ehemaligen Assistenten. Dieser so genannte "George Washington Tree" existiert, so ergab die Ringanalyse, seit 1732 - dem Geburtsjahr des ersten US-Präsidenten.

In jedem Jahr bilden Bäume zunächst ein weitporiges helles Frühholz und dann ein dichteres dunkles Spätholz aus. Durch die Wachstumsunterbrechung im Winter entsteht eine klare Grenze zwischen den letzten Herbst- und den folgenden Frühjahrszellen. Man kann diese an Stammscheiben oder entnommenen Bohrkernen gut erkennen. Zwar hängt das Baumwachstum von mehreren Faktoren ab, doch wird das Wetter an Extremstandorten oft zur entscheidenden Variable. So kommt es zu Ähnlichkeiten im Ringmuster verschiedener Baumindividuen. In Europa setzt die Baumringdatierung in den Dreißigerjahren ein. Heute kennt man Vergleichs-Chronologien für Buche, Esche, Fichte, Lärche, Tanne und Zirbe. Sie reichen viele Jahrhunderte zurück. Besonders interessant ist die Eiche, ein wichtiges Bauholz. Damit reist man zehntausend Jahre durch die Geschichte. Siedlungen aus der Jungsteinzeit lassen sich mittlerweile ebenso datieren wie Musikinstrumente aus dem 18. Jahrhundert.

Am Oberen Zemmgrund in den Zillertaler Alpen zeichnete Peter Pindur von der Akademie der Wissenschaften sogar ein weitgehend geschlossenes Bild der Waldverhältnisse während der letzten 9.000 Jahre nach. Dort sind nämlich immer wieder Zirben ins Schwarzensteinmoor gestürzt und wurden so konserviert. An ihren Ringen lassen sich Klimaschwankungen ablesen. Auch die Häufigkeit schwerer Lawinenabgänge konnte Pindur ermitteln. Die älteste datierte Lawine donnerte im Winter 3834/3833 v. Chr. herab. In alpinen Höhenlagen bestimmt allerdings nicht - wie etwa im trockenen Arizona - der Niederschlag das Baumwachstum. Hier spiegeln die Ringbreiten primär die jeweilige Sommertemperatur wider.

Was tun Sonnenflecken?

Für die Himmelskunde selbst blieb die Dendrochronologie zunächst ohne Nutzen. Dabei glaubte Douglass, in manchen Proben tatsächlich die von ihm vermutete Beziehung zwischen Sonnenflecken und Baumwachstum nachweisen zu können. Alte Balken würden somit über die Sonnenaktivität jener Epochen berichten, in denen es noch keine Fleckenzählungen gab. Andere Forscher widersprachen diesem Befund später. Bis jetzt ist ein Zusammenhang nicht erwiesen.

Die Sonne durchlebt rund alle elf Jahre eine längere Phase besonderer Aktivität. Dann bilden sich auf ihrer Oberfläche vermehrt die etwas kühleren und deshalb dunkler anmutenden Flecken. Früher meinte man, diese würden die Sonnenstrahlung schwächen. Doch so einfach ist das nicht. Die Flecken sind nämlich nur eines von vielen Phänomenen der aktiven Sonne. Insgesamt strahlt der Stern im Fleckenmaximum sogar eineinhalb Promille mehr Energie ab als im Minimum. Die "Solarkonstante" schwankt. Derart winzige Variationen sind aber nur außerhalb der Lufthülle von Satelliten messbar.

Einflüsse der Sonnenaktivität auf die äußeren Schichten der Erdatmosphäre sind heute unbestritten. Die aktive Sonne "bläht" diese im Bereich über 200 km auf. Dann stürzen mehr Satelliten ab als sonst. Sie verändert die Ausbreitungsbedingungen von Funkwellen und zaubert in mehr als 70 km Höhe Polarlichter an den Himmel. Doch die Bühne der meisten Wettervorgänge liegt viel tiefer: Diese Troposphäre reicht über den Polen nur 8, über dem Äquator 17 km hoch. Sollte es Einflüsse der Sonnenaktivität auf die Witterung geben, gehen diese offenbar im Reigen anderer, viel bestimmenderer Faktoren unter. Keinesfalls lässt sich die aktuelle Fleckenzahl für die Wetterprognose nützen. Nur wenn sich die Solarkonstante über Jahrzehnte hinweg um viele Promille ändert, sind deutliche Auswirkungen plausibel.

Die Sonnenaktivität schützt die Erde jedenfalls vor kosmischer Strahlung. In Zeiten der ruhigen, nicht aktiven Sonne dringt diese leichter ins Sonnensystem ein. Aus Kohlendioxidmolekülen der Erdatmosphäre formt sie dann vermehrt Kohlenstoff-14, der sich in der Wachstumszone von Bäumen ablagert. Daraus lässt sich die kosmische Strahlung und somit die Sonnenaktivität tatsächlich über viele Jahrhunderte rekonstruieren - aber ganz anders, als Douglass sich das vorgestellt hat. Dann der eingelagerte Kohlenstoff-14 hat keinen Einfluss auf die Ringbreite. Vielmehr fungieren die Baumringe wiederum nur als bestens datierbare "Kalenderblätter", in denen Mutter Natur den jeweils aktuellen Kohlenstoff-14-Wert eintragen lässt.

Freitag, 30. Mai 2003

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