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Winzige Lamellen in Meteoriten machten Alois Widmanstätten (1754 bis 1849) unsterblich

Grazer Mustermann

Von Christian Pinter

Schwere Massen aus Nickeleisen stürzen immer wieder zur Erde. Man zersägt die Brocken, poliert und ätzt die Schnittflächen. Dann bewundert man das hervortretende, regelmäßige Muster einander
kreuzender Lamellen. Mineralienfreunde auf der ganzen Welt studieren die Widmanstättenschen Figuren fasziniert. Doch kaum jemand kennt die Biographie ihres Entdeckers. Der Grazer Pionier des
Industriezeitalters starb vor 150 Jahren in Wien. Er entstammte einer traditionsreichen Familie, in deren Geschichte Namen wie „Kopernikus" oder „Kepler" auftauchen.

Vortrag im Vatikan

In Nellingen bei Ulm wird 1506 Johann Albrecht Widman geboren. Bereits in der Dorfschule fällt seine außergewöhnliche Begabung auf. So schickt man ihn nach Tübingen, wo 65 Jahre später auch
Johannes Kepler studieren wird. Um sich von den vielen anderen „Widmans" zu unterscheiden, fügt Johann den Familiennamen seiner Mutter hinzu, nennt sich fortan „Widmanstadt" oder „Widmanstetter". Im
Laufe seines Lebens tritt er in den Dienst von Herzögen, Kardinälen und Päpsten. König Ferdinand I. macht ihn zum Kanzler der österreichischen Länder. Kaiser Karl V. schlägt ihn und seine Brüder zu
Rittern. Im Gefolge des Kaisers trifft er erstmals Johannes Flachsbinder, später Bischof von Ermland und unter dem Namen „Dantiscus" bekannt. Vermutlich ist es der Danziger, der ihm von den
merkwürdigen Ideen eines der Domherren in Frombork erzählt; demzufolge drehe sich der Kosmos nicht täglich um den Menschen herum, vielmehr kreise die Erde mit den anderen Planeten um die zentrale
Sonne. Diese grundlegend neue Kosmologie ist allerdings nur Eingeweihten bekannt. Ihr Schöpfer, Nikolaus Kopernikus, zögert den Druck hinaus.

Widmanstadt ist beeindruckt. 1533 trägt er die kopernikanischen Gedanken in den Gärten des Vatikans Clemens VII. vor. Der Papst schenkt ihm dafür eine wertvolle griechische Handschrift. Für
Astronomiegeschichtler ein bedeutsamer Augenblick: Sieht man in der päpstlichen Dankesgabe mehr als bloße Formalität, so scheint Rom zunächst gar nicht mit scharfer Ablehnung auf Kopernikus reagiert
zu haben. Das erst 83 Jahre später ausgesprochene Verbot seiner Lehre oder gar der Prozeß gegen Galilei 100 Jahre danach wirken wie verzögerte, überspitzte Reflexe im Zuge der Gegenreformation.

Widmanstadt wird jedenfalls Sekretär des Kardinals Nikolaus Schönberg, und auch dieser bittet Kopernikus nun, seine Entdeckungen „den Wißbegierigen mitzuteilen". Johanns Hauptinteresse gilt aber seit
Tübinger Studententagen orientalischen Sprachen. In Wien läßt er syrische Letter anfertigen, um 1555 den allerersten Druck des Neuen Testaments in dieser Sprache herauszugeben. Ferdinand I.
finanziert das Werk. Die Hälfte der 1.000 Exemplare wird ins osmanische Reich geschickt, um dort lebende Christen zu unterstützen. Im Laufe seiner vielen Reisen trägt Widmanstadt eine unglaublich
reiche Bibliothek zusammen, die 300 Handschriften, darunter 140 hebräische und 50 arabische, sowie 900 Drucke umfaßt. Als er 1557 als Domherr in Regensburg stirbt, erwirbt Herzog Albrecht V. seine
Sammlung. Sie bildet heute den Grundstock der Bayerischen Staatsbibliothek in München.

Das Druckmonopol

Seit 1559 werden in Graz Bücher gedruckt. Protestanten dominieren in der Steiermark, und auch die Drucker sind Ende des 16. Jahrhunderts Anhänger Luthers. Adelige lassen ihre Sprößlinge an der
protestantischen Stiftsschule ausbilden, an der seit 1594 Johannes Kepler Mathematik lehrt. Der Schwabe gibt seine beliebten Kalender mit den astrologischen Prognosen bei Hans Schmidt in Druck, der
im Auftrag der Stände zunächst im Landhaus, dann in der Stiftsschule und seit 1593 im Rauberhof werkt. Der Protestant Schmidt betreibt auch einen Buchladen.

Ganz im Gegensatz zu Ständen und Volk ist der Hof katholisch. Im Zuge der Gegenreformation hat Erzherzog Karl die Jesuiten nach Graz gerufen. Sie gründen die Universität und wollen nicht auf
protestantische Drucker angewiesen sein. So läßt man 1585 Georg von Widmanstetter, einen Neffen des berühmten Orientalisten, aus München kommen. Zunächst hat er es in Graz nicht leicht, fände ohne
Hilfe der Jesuiten nicht einmal eine Wohnung. Doch noch im selben Jahr wird er zum Hofbuchdrucker ernannt. Um rasch billige katholische Werke unters Volk zu bringen, schließt er der Druckerei eine
Buchhandlung an. Ab 1596 erscheinen in der Postgasse 5 fast alle Streitschriften gegen die Lutheraner.

Drucker Schmidt soll 1599 ein Spottbild auf den Papst ausgehängt haben. Er wird inhaftiert und schließlich, wie alle, die nicht zum katholischen Glauben übertreten, vertrieben; auch Johannes Kepler
muß Anno 1600 gehen. Die Katholiken haben das Heft nun wieder fest in der Hand. Georg sitzt im Stadtrat und übernimmt einen Teil von Schmidts Aufträgen. Sein Enkel Ferdinand wird später
Bürgermeister. 1637 heiratet Maria Susanna Widmanstetter den Franken Johann Beckh. Ihre Erben wählen aber nicht „Beckh", sondern den traditionsreicheren „Widmanstetter" als Name. Manche nennen sich
„Beckh von Widmanstetter".

1650 erhalten sie von Ferdinand III. das vererbbare Privileg, die Buchdruckerkunst in der Steiermark exklusiv auszuüben. Die Familie besitzt damit praktisch das Druckmonopol. Zwei Jahrhunderte lang
bestimmt sie fast die ganze Buchproduktion. Zwischen 1586 und 1805 erscheinen 2.700 Titel; darunter so unterschiedliche Werke wie die „Wahrhaftige und gründliche Beschreibung von dem Ursprung,
Art, Qualität und Eigenschaft der erschröcklichen Erbkrankheit der Pestilenz" aus dem Jahr 1609 oder die „Dibbslista" von 1711, die alle bekannten Diebe der Steiermark und angrenzender
Länder aufzählt. Man gibt sogar Zeitungen wie den „Grätzer Mercurius" heraus. Allerdings herrscht strenge Zensur. Die geistliche Aufsicht haben Jesuiten. „Weltliche und politische Sachen" ·
dazu zählen später auch Buchstabenformen und Verkaufspreise · kontrollieren Beamte.

Am 13. Juli 1754 wird in Graz Alois Beckh von Widmanstätten geboren. Unter der Regentschaft Maria Theresias widmet er sich an der Grazer Universität dem Studium der Naturwissenschaften. Bald muß er
die väterliche Druckerei übernehmen. Er modernisiert und vergrößert den Betrieb, fügt eine Schriftgießerei hinzu. 1784 finden wir den 29jährigen in Wien wieder. Gerade haben die Brüder Montgolfier
den ersten bemannten Heißluftflug bei Paris unternommen. Nun experimentiert Alois im Garten des Herrn von Damm auf der alten Wieden selbst mit einem mannsgroßen Ballon. „An Schnüren befestigt ließ
man selben dreymal bis zur Höhe von 110 Klaftern steigen. Der Ballen hat hiebey alles geleistet, was man hievon erwarten konnte", berichtet die „Wiener Zeitung" vom 17. Jänner. Am 21. geht
sie auf Seite 1 ausführlicher auf die Versuche ein, die längst vor neugierigem Publikum stattfinden. Trotz Regen und Wind zieht ein fast 6 m weiter Ball mit rotweißer Flagge in den Himmel, gefüllt
mit „brennbarer Luft". Abends erfreuen sich adelige Zuschauer an einer Laterne, die Widmanstätten am Ballon festmacht. Nach weiteren Experimenten im „Dammischen Garten" holt er das Gerät ein, um es
für spätere Versuche aufzusparen. Doch diese haben, soweit wir wissen, nie stattgefunden.

Vielmehr trifft Alois ein schwerer Schlag: Im Zuge der josephinischen Reformen wird das Druckmonopol gestrichen. Ablöse gibt es nicht. „Dies verbitterte den seiner Naturanlage nach unzugänglichen
und zu Sonderlichkeiten geneigten Mann", schreibt Constantin Wurzbach später. Der Grazer · „klein und unansehnlich, aber von zäher, ausdauernder Lebenskraft" · sieht sich plötzlich mehreren
Rivalen gegenüber. Eine Situation, die seinem Betrieb fremd ist. Familiäre Streitigkeiten kommen hinzu. Alois verliert das Interesse, verpachtet Druckerei und Buchhandlung. 1807 verkauft er sie
seinem Konkurrenten Andreas Leykam, der damit die Führung im Grazer Druckgewerbe übernimmt.

Textilindustrie, Eisenverarbeitung und Eisenbahnbau stehen am Beginn der industriellen Revolution. Es dauert Jahrzehnte, bis sie von England aus auf das Festland übergreift. 1801 errichtet John
Thornton südlich von Wien eine große Maschinenspinnerei · die erste der Monarchie. An Arbeitskräften mangelt es im Wiener Becken nicht. Die Bevölkerung bringt Erfahrung mit: In vielen Haushalten
steht das Spinnrad. Zahlreiche Handwerker finden beim Bau der Baumwollspinnerei und Zwirnerei Beschäftigung, unter ihnen Schuster, Drechsler und Zimmerleute. Zwar stammen die Maschinen aus England,
doch werden etwa Ständer oder Gleitlager vor Ort gefertigt. Die Leitha speist den Werkskanal, der dreht drei große Wasserräder, und die halten schließlich 38.880 Spindeln in Bewegung. Pottendorf
wächst vom Marktflecken zur Industriegemeinde.

1804 übernimmt Alois Widmanstätten die Leitung der jungen Spinnerei. Sein Vertrag stellt ihm bei Erfolg sogar Beteiligung in Aussicht. Dennoch legt er sie bereits 1807 zurück, folgt einem Ruf des
Kaisers. Ein Schritt, den er rückblickend als „sehr empfindliches Opfer" bezeichnet. 1893 wird übrigens ein Brand die Hallen in Schutt und Asche legen, Ziegel und Maschinenteile zu garstiger Schlacke
verschmelzen. Nur das ersatzweise hochgezogene, dreistöckige Gebäude von 1894 überdauert als Ruine bis in unsere Tage.

Wegen seiner vorzüglichen Erfindungsgabe auf dem Gebiet des Maschinenbaus fällt die Wahl auf Widmanstätten: Im März 1807 wird er von Kaiser Franz I. zum Direktor des neuen Fabriks-Produktenkabinetts
ernannt. Der 52jährige erhält ein Gehalt von 2.000 Gulden, freie Wohnung, Licht und Beheizung. Die für das kaiserliche Kabinett vorgesehenen Räumlichkeiten in der Hofburg sind allerdings zu klein.
Widmanstätten schlägt als Provisorium eine Mietwohnung mit 13 Zimmern im Sprinzensteinschen Palais in der Wipplingerstraße vor. Dort präsentiert er bald Erzeugnisse der jungen, heimischen Industrie.
Die Kollektion dient der Wirtschaftsförderung. Nach dem Willen des Kaisers soll sie einen Überblick über die Erzeugnisse der Monarchie bieten, die Industrie anspornen und ihren Absatz beleben.
Widmanstätten will damit aber auch vor ganz Europa demonstrieren, „auf welcher hohen Stufe der Kultur der österreichische Kaiserstaat sich bereits befindet".

Meteoritenkundler

Franz I. fordert Fabrikanten auf, Musterstücke „von jedem Artikel" einzusenden. Widmanstätten selbst macht sich in Böhmen und Mähren, in Nieder- und Oberösterreich, in Kärnten und der Steiermark
auf die Suche. Der Bogen der ausgestellten Exponate reicht von der einfachen Schaufel bis hin zum kleinen Modell einer Flintenlauffabrik. Die meisten Stücke lassen sich beim Kaufmann erstehen. Auf
Basis der verwendeten Rohstoffe teilt sie Widmanstätten in Fabrikate aus dem Pflanzen-, dem Tier- oder dem Mineralreich. Bald schmiedet er Pläne für die Unterbringung der Kollektion in einem eigens
zu errichtenden Gebäude.

Widmanstätten trifft Carl von Schreibers, der die k. k. Naturaliensammlung in der Hofburg leitet. Sie ist älter als die beiden Männer. Kaiser Franz Stephan, Gemahl Maria Theresias, gründete sie 1748.
Zu ihren Schätzen zählen auch Stücke, die zunächst nur der Kuriosität halber belassen wurden: Steine, die angeblich aus dem Himmel gestürzt sind. Derartige Berichte tauchten im Lauf der Jahrhunderte
immer wieder auf. Es gab aber auch Erzählungen vom angeblichen Fall von Geld, Schwefelklumpen, Wolle, Milch, Blut, Menschenhaaren, Schleim oder papierähnlichen Substanzen. Entsprechend skeptisch
reagierten Wissenschafter, wenn man ihnen „gefallene Steine" sandte. In Kopenhagen, Dresden, Bern oder Verona warfen sie Kuratoren in den Müll.

Am 26. Mai 1751 beschworen sieben Augenzeugen den Fall zweier Eisenbrocken über Hraschina in Kroatien. Der Bischof von Agram sandte die Protokolle mitsamt der 39 kg schweren Hauptmasse an die
Kaiserin. Der damalige Leiter der Naturaliensammlung, Andreas Stütz, archivierte sie. Erst 1790 publizierte er die Berichte in seinem Werk „Über einige vorgeblich vom Himmel gefallene Steine".
Für Stütz war die Sache bloß Märchen. Gelegentlich langten auch Meldungen vom Fund gediegenen Eisens, fern jeder Mine, ein. 1749 war ein riesiger Brocken gut 200 km südlich von Krasnojarsk in
Sibirien entdeckt und später vom Deutschen Peter Simon Pallas untersucht worden. Aus Campo del Cielo, Argentinien, trafen Proben des „geschmeidigsten und reinsten Eisens" ein, obwohl „100 Meilen
umher keine Eisenbrüche, keine Berge, ja nicht einmal Steine anzutreffen" waren. Und auch im mexikanischen Toluca hatte man bereits vor 1776 ähnliche Funde gemacht.

Der deutsche Gelehrte und Vortragsreisende Ernst Florens Chladni sammelte solche Nachrichten. Die von Stütz veröffentlichten Aussagen zum Hraschina-Fall beeindruckten ihn besonders. 1794 verband er
im Büchlein „Über den kosmischen Ursprung der Meteorite und Feuerkugeln" die angeblichen Fälle · meist von Steinen · mit den rätselhaften Eisenfunden; aus seiner Sicht alles Proben aus dem All,
die nach feurigem Ritt durch die Lufthülle zur Erde gestürzt waren. Als am 26. April 1803 rund 3.000 Steine vor aller Augen über dem französischen L'Aigle herabregneten, war die Existenz von
Meteoriten nicht mehr zu leugnen. Ein Jahr zuvor hatte der Engländer Edward Howard das sonst seltene Metall Nickel sowohl in verdächtigen Stein- als auch in Eisenproben nachgewiesen, was auf
ähnlichen Ursprung beider Gruppen hindeutete. Diesen suchten viele Zeitgenossen aber noch auf der Erde oder in der Lufthülle: Sie hielten Meteorite etwa für weit fortgeschleudertes Vulkangestein oder
gar für „verdichtete Dämpfe" der Metallverarbeitung. In Paris erschien 1803 sogar ein Buch über „atmosphärische Gesteinskunde".

Wer den Ursprung der Meteorite im All vermutete, machte meist vermeintliche „Mondvulkane" verantwortlich. Die Vorstellung eines von unzähligen kleinen Materiebrocken bevölkerten Weltraums schien
vielen noch absurd. Chladni bewies Weitblick. Für ihn bildeten sich Welten durch Schwerkraft aus zunächst locker im Raum zerstreuter Materie oder aus Teilen einer zerstückelten, einst größeren Masse.
Er sah in Meteoriten daher Proben von übriggebliebenem Material, das der Erde einfach zu nahe geraten war.

Ballon über Wieden

hält er es an die Flamme, beobachtet, wie sich die Schenittfläche dunkelblau bis violett verfärbt. Schemenhaft taucht ein seltsames, regelmäßiges Muster millimeterbreiter Lamellen auf. Mit
Ätzverfahren vertraut, greift Alois zur Salpetersäure. Sie läßt das Muster klarer hervortreten. Unschwer können wir uns seine Verblüffung vorstellen, denn solche Figuren sind in irdischem Eisen
unbekannt. Widmanstätten wiederholt den Versuch noch im gleichen Jahr an der Probe aus Krasnojarsk. 1810 folgen Experimente mit dem Toluca-, 1812 mit dem böhmischen Elbogen-Eisen. 1815 bearbeitet er
den in den Karpaten gefundenen Lenarto-Meteoriten. Die Figuren fallen dabei unterschiedlich fein aus.

Die Säure greift die balkenförmigen Lamellen stärker an, als die ganz dünne, dunkle Schicht, die jede einzelne einzufassen scheint. Ätzt Alois lange genug, entsteht ein tastbares Relief. Es erinnert
ihn an Druckletter, die ihm einst so vertraut waren. Also bestreicht er die Fläche des Hraschina-Eisens mit Druckerschwärze und preßt sie auf ein Blatt Papier. Lange vor Erfindung der Fotografie
entsteht ein naturgetreues Abbild. 1813 macht er das riesige Elbogen-Eisen, das besonders feine Lamellen zeigt, selbst zum Druckstock und produziert damit eine überwältigende Grafik.

Widmanstätten publiziert den Fund nicht. Andere Forscher erfahren von den Figuren und nehmen in ihren Arbeiten darauf Bezug. 1820 ist Schreibers in seinem Buch „Beyträge zur Geschichte und
Kenntnis meteoritischer Stein- und Metall-Massen" um Prioritätssicherung bemüht. Er tauft das „merkwürdige krystalline Gefüge" in Eisenmeteoriten nach seinem Grazer Freund und betont, daß dieser
die Figuren bereits 1808 entdeckt hat. Eine einschlägige Abhandlung sei lange geplant, von „Zeitumständen und Verhältnissen" jedoch vereitelt worden.

Vergebliche Beschwerde

Wahrscheinlich spielt Schreibers damit auf die Pensionierung Widmanstättens als Direktor des Fabriksprodukten-Kabinetts an. Der Grazer ist nämlich schon seit 1811 um die Zukunft seiner
Industriesammlung besorgt. Man attestiert ihr vor allem historische Bedeutung und betreibt ihre Eingliederung in das Polytechnische Institut am Karlsplatz · heute die technische Universität Wien.
Widmannstätten wehrt sich verbittert. In einer Eingabe vom 19. Juli 1815 zeigt er sich „ungemein erschüttert" und „tief gekränkt". Seine Sammlung wende sich an den künstler, den Kenner, den
fabrikanten und den Staatsmann, nicht aber an „Schüler". Er selbst wolle sich keinem Manne unterordnen, der ihm im Alter nachstehe, nie eine Anstalt geleitet habe und ihm fachlich keine Kenntnisse
vermitteln könne, polemisiert er gegen den Direktor des Polytechnischen Instituts, Johann Prechtl.

Die im dort angebotene Lehrstelle für Technologie, so der Adelige, sei bloß „Zumuthung", da er sich „nie dem öffentlichen Kanzelvortrage" gewidmet habe. Weder „Geburth noch
Vermögensverhältnisse, noch besondere Neigung" hätten ihn zu einer solchen Laufbahn bestimmt. Er fühle sich degradiert und in der öffentlichen Meinung herabgewürdigt. Die Beschwerde gelangt bis
zum Kaiser, der sie jedoch abweist. Statt dessen erhält Widmannstätten den Auftrag, mit den Erzerzögen Johann und Ludwig zur Reise nach ENgland aufzubrechen. In seiner Anwesenheit wird das Kabinett
geräumt. Ausgerechnet Schreibers muß den Transfer der vielen tausend Exponate überwachen. Sie werden letztendlich in den Sammlungen des 1908 gegründeten Technischen Museums aufgehen; doch es ist bloß
Zufall, daß das renovierte Haus fast genau am 150. Todestag Widmanstättens Wiedereröffnung feiert.

Der Kaiser versetzt den verletzten Direktor im Juli 1817 in den Ruhestand. Die Pension stammt aus der kaiserlichen Privatkasse. Man zieht ihn noch als Sachverständigen heran, wenn es um öffentliche
bauvorhaben oder die Einführung der Sparherde in Wien geht: Die kleineren Kochherde mit regelbarer Luftzufuhr nutzen Wärme effizienter und sparen damit Brennmaterial. 1851 faßt Joseph Hofrichter
Widmanstättens Rolle so zusammen: Man bediente sich seiner „wo immer es galt, zweckmäßige Neuerungen oder wichtige Erfindungen im Gebiete practischer Technik auf heimischen Boden zu verpflanzen".

Über den Semmering

Erzherzog Johann bemüht sich vergeblich, Widmanstätten zur Annahme einer Lehrstelle am Joanneum zu bewegen. Dafür übergibt Alois 1843 dem landesmuseum die alten originaldokumente seiner Familie.
Ein jahr später sind Graz und Wien erstmals per Eisenbahn verbunden. Nur der Semmering unterbricht die Fahrt. Zeitgenossen erzählen, daß Widmannstätten den Paß noch im Alter von 90 Jahren lieber zu
Fuß überquert, als sich in die Postkutsche zu setzen. Der unverheiratet gebliebene Grazer, von dem offenbar aus eigenem Wunsch kein Porträt existiert, erlebt die Revolutionstage von 1848
zurückgezogen in Wien. Für Hochrichter sind sie mit Schuld an seinem Tod: Der Greis hätte der Ruhe bedurft, erlebte statt dessen jedoch „Kanonendonner und Gewehrfeuer, Geheul des aufgeregten
Pöbels und alle Gräuel eines Bürgerkriegs"; in Folge sei er immer mehr dahingesunken.

Viel sachlicher reiht ihn die „Wiener Zeitung" vom Samstag, dem 16. Juni 1849, in die Rubrik „Versstorben"; „Den 10. Juni. Der wohlgeborne Herr Alois Beck Edler v. Widmanstätten, jubil.
Direktor des k. k. technischen Kabinets, alt 96 Jahre, in der Spiegelgasse Nr. 1097, an Altersschwäche."

Jupiters Vorgarten

Kaiserliche Truppen schießen im Oktober 1848 den Dachstuhl der Hofburg in Brand. Die wertvollen Meteorite werden in Sicherheit gebracht. Seit 1889 präsentiert man sie im Naturhistorischen Museum.
Zählte Schreibers 1819 noch knapp drei Dutzend dieser kosmischen Sendboten, so machen heute 1.700 Exemplare Wien zur Heimat der weltweit viertgrößten Meteoritensammlung. Fast alle stammen aus
„Jupiters Vorgarten". Bereits Kepler hatte in seinen frühen Grazer Jahren an einen lichtschwachen, unentdeckt gebliebenen Planeten geglaubt, der in der auffälligen Lücke zwischen Mars und Jupiter um
die Sonne ziehen sollte. Doch es dauerte zwei weitere Jahrhunderte, bis man dort tatsächlich fündig wurde: Widmanstättens Zeitgenossen Piazzi, Harding und Olbers stießen zwischen 1801 und 1807 auf
ein ganzes Quartett kleiner Himmelskörper.

Heute kennt man die Bahnen von 10.000 Kleinplaneten. Piazzis Ceres ist mit 1.000 km Durchmesser die weitaus mächtigste Vertreterin; die meisten anderen messen bloß wenige Kilometer. Sie halten
sich vor allem in einem gürtelförmigen Bereich zwischen Mars und Jupiter auf. Dort verhinderte Jupiters enorme Schwerkraft vor 4,5 Milliarden Jahren die Bildung eines weiteren, richtigen Planeten.
So blieb gleichsam nur „Bauschutt" zurück. Die Winzlinge haben sich seither kaum verändert. Nur die etwas größeren besaßen genug Masse, um sich beim Zerfall radioaktiver Elemente dramatisch zu
erhitzen. ihre Materie schmolz auf. Schwere Elemente flossen zum zentrum, bildeten · ähnlich wie bei der Erde · einen Nickeleisenkern. Darüber spannte sich ein Mantel aus Silikatgestein.
gegenseitige, heftige Kollisionen zwischen Kleinplaneten entkleideten mitunter Eisenkerne oder zertrümmerten diese sogar. Splitter aus Eisen und Stein gerieten auch auf Erdkurs. Noch heute fallen sie
als Meteorite.

Anhand von Spurenelementen fassen Wissenschafter Eisenmeteorite in chemische Gruppen zusammen. Demnach könnten wir Materialproben aus rund 60 verschiedenen Mutterkörpern besitzen. Soweit diese noch
existieren, umrunden sie die Sonne in 2,5- bis 3facher Erddistanz, bevorzugen den inneren Teil des Kleinplanetengürtels. Flaches, leichtrötliches Spektrum entlarvt die Eisenkerne. Zu ihnen zählt die
1852 entdeckte Psyche: Mit 260 km Durchmesser ist sie wahrscheinlich die größte exponierte Eisenmasse im Planetensystem.

Leider ist es unmöglich, einzelne Eisenmeteorite in unseren Sammlungen ganz bestimmten Mutterkörpern im All zuzuordnen. Die meisten Proben stammen aber offenbar aus Kleinplaneten mit einst knapp
100 km Durchmesser. Deren Kerne benötigten viele Millionen Jahre, um auszukühlen. Bei rascherem Absinken der temperatur bildet sich Widmanstättens Muster nicht · das ist auch der Grund, warum alle
Reproduktionsversuche scheiterten. Lange konnte man über die Entstehung der eigentümlichen Figuren nur rätseln. Die wohl originellste Erklärung lieferte otto Hahn, der sie 1880 für Fossilien von
fremden, zerstörten Welten hielt; die vermeintlichen „Pflanzen" im Toluca-Eisen taufte er nach seinem Tübinger Professor „Astrosideron Quenstedti".

Tatsächlich ist das Muster aber Spiel zweier Nickeleisen-Legierungen, Kamazit und Taenit. Der nickelarme Kamazit, früher „Balkeneisen" genannt, formt die millimeterdicken, länglichen
Balken. Eine dünne Schicht aus nickelreicherem Taenit („Bandeisen") hüllt ihn ein; angeschnitten und unter der Lupe scheint es, als würde sich Taenit wie ein schmales Band an die Seiten der Balken
schmiegen. Die Räume zwischen den lamellen schließt Plessit; dieses „Fülleisen" ist aber bloß eine feine Verwachsung von Kamazit und Taenit. Die heiße Eisenmasse im Kleinplanetenkern bestand
zunächst nur aus Taenit. Erst beim gemächlichen Abkühlen formte sich Kamazit. Seine plattenförmigen Kristalle ordneten sich meist parallel zu den vier Flächenpaaren einer Doppelpyramide, eines
Oktaeders, an. Deshalb präsentieren „Oktaedrite" · sie bilden die stärkste Klasse der Eisenmeteorite · im Anschnitt einander kreuzende Lamellen. Der Nickelgehalt dieser proben schwankt zwischen 6 und
20%. Je mehr Nickel, desto feiner geraten die Balken; mitunter messen sie nur noch Bruchteile von Millimetern. Denn Nickel verzögert die Kamazitbildung. Außergewöhnlich nickelarme Meteorite ·
„Hexaedrite" · bestehen daher zur Gänze aus Kamazit, die besonders nickelreichen „Ataxite" hingegen nur aus Taenit. Auch wenn Schreibers glaubte, sein Freund hätte ein Charakteristikum entdeckt:
Vertreter dieser beiden seltenen Klassen können Widmanstättens Muster nicht zeigen.

Nicht der erste

Die Geburt der Himmelseisen im Schoß der Kleinplaneten ist nicht ganz unumstritten. Man fragt sich unter anderem, wie Körper von kaum 100 km Weite überhaupt aufschmelzen konnten. einige Forscher
vermuten statt dessen, daß Eisenmeteorite direkt, ohne Umweg über einen derartigen Mutterkörper aus dem solaren Urnebel hervorgegangen sind. Sicher ist seit 1939 jedenfalls, daß Widmanstätten die
Figuren gar nicht als erster gesehen hat. Der in Neapel lebende Engländer William Thomson kam ihm mindestens vier Jahre zuvor, als er Proben aus Krasnojarsk und Campo del Cielo behandelte, um
Rostflecken zu entfernen. Er hielt die eisenbrocken für irdisches Vulkangestein und veröffentlichte Beschreibungen des Musters in der „Bibliothèque Britannique", die 1804 in Genf herauskam.
Sein Artikel erschien außerdem 1808 in Sienas „Atti dell'Academia delle Scienze . . . Beide Publikationen fanden damals offenbar keine Resonanz. und so bleibt das Lamellenspiel allein mit dem
Namen des österreichischen Druckersohns verbunden.

Freitag, 04. Juni 1999

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