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Mit 77 Jahren startet der amerikanische Weltraumveteran

nochmals ins All

„Viel Glück, John Glenn!"

Von Christian Pinter

Es ist der 20. Februar des Jahres 1962: in den frühen Morgenstunden hat sich der US-Amerikaner John Glenn in die einsitzige Mercury gezwängt. Elfmal ist sein Start schon wegen
Triebwerksproblemen und schlechtem Wetter verschoben, viermal abgebrochen worden. Der Druck, der auf den Mitarbeitern des Projekts lastet, steigt ins Unerträgliche. Denn bereits vor zehn Monaten hat
die Sowjetunion Juri Gagarin in eine Umlaufbahn gebracht und wenig später mit German Titow sogar einen 25stündigen Raumflug angeschlossen.

Die junge NASA kann vorerst nicht schritthalten. Mit ihrer schubschwachen Redstone-Rakete läßt sich keine Umlaufbahn erreichen. Zwar schoß sie dreieinhalb Wochen nach Gagarins Premiere Alan Shepard
ins All, doch sein Flug war „nur" ballistisch. Shepards Kapsel stieg wie eine Kanonenkugel 184 km hoch. Dann siegte die Schwerkraft, holte sie programmgemäß nach 15 Minuten zurück. Zwei Monate später
folgte Virgil Grissom auf gleichem Kurs.

Jetzt versucht man den Himmel mit einer modifizierten Atlas zu stürmen, die eigentlich als Interkontinentalrakete für Atombomben entwickelt wurde. An der Spitze ruht Glenns Mercury-Kapsel mit der
Aufschrift „Friendship 7". Der Astronaut liegt mit angewinkelten Beinen in 23 m Höhe. Wenn er sich heftig bewegt, kann er die schlanke Konstruktion ins Schwanken bringen. Die letzten 18 Sekunden
werden heruntergezählt. Über Funk meldet sich Astronautenkollege Scott Carpenter, wünscht ihm Glück.

Die Atlas zündet. Ein Donnern fährt durch Glenns Körper, dann braust er hoch. Der 40jährige erduldet die sechsfache Erdbeschleunigung, wiegt 400 kg. Fünf Minuten nach dem Start explodieren
Sprengbolzen, lösen die Kapsel von der Trägerrakete. Die ausgebrannte Atlas fliegt noch lange neben der Mercury her.

Der erste Amerikaner im Orbit genießt die plötzliche Schwerelosigkeit und Stille. 160 km über dem Atlantik gleitet er mit 28.000 km/h gen Osten. Sofort probiert er die Handsteuerung aus, bewegt das
Raumschiff um alle drei Achsen. „Gieren", „Rollen" und „Nicken" nennen das die Piloten.

Sensoren messen seinen Blutdruck, den Puls und die Körpertemperatur. Die Werte sind normal, ebenso wie knapp 90 andere, die von den Bordsystemen zur Erde gefunkt werden. Entlang der Flugbahn sind
mehrere Empfangsstationen eingerichtet worden. 1962 ist man stolz, einen Stereoplattenspieler zu besitzen · weltweite Kommunikation per Satellit ist Utopie. So reichen die Funker Glenn von Station zu
Station weiter. In einigen warten seine Astronautenkollegen.

Helden und mehr

Sieben Männer sind für das Mercury-Programm ausgewählt worden. Ähnlich den Sowjets setzt die NASA zunächst auf Militär- und Testpiloten: durchtrainierte Flieger, mit starken Beschleunigungskräften
vertraut, mit technischem Verständnis und abgebrüht genug, um auch in haarsträubenden Situationen richtige Entscheidungen treffen zu können. Nach ihren Flügen sollen die sieben Familienväter außerdem
als „Vorzeige-Amerikaner" dienen.

Gefragt ist eine Mischung aus Held und „Versuchskaninchen". Denn noch weiß niemand, wie der Mensch im All reagieren, wie er die Schwerelosigkeit vertragen und ob er voll einsatzfähig bleiben wird.
Die Ziele für Glenns Flug wirken später recht bescheiden: „einen Menschen ins Orbit bringen, seine Reaktionen unter Weltraumbedingungen beobachten und ihn sicher an einem Punkt landen, wo er leicht
gefunden werden kann".

Die ersten Astronauten müssen kleiner als 180 cm und leichter als 67 kg

sein. Höchstalter: 40 Jahre. Bei allen drei Kriterien liegt John Glenn haarscharf am Limit. Am 18. Juli 1921 in Cambridge, Ohio, geboren, ist er noch als Schüler vom Flugfieber angesteckt worden:
während einer Scharlachepidemie vertrieb er sich die Zeit mit dem Bau von Flugzeugmodellen aus Balsaholz. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor ließ er sich zum Piloten ausbilden, meldete sich bei der
Marine. Er flog Kampfeinsätze über dem Pazifik. Weitere folgten im Koreakrieg.

Zwei dünne Bleche

Über dem Indischen Ozean erlebt Glenn den ersten Sonnenuntergang. Ein schmales, weites Lichtband spielt zu beiden Seiten der rasch sinkenden Sonne mit orange, rot, purpur, hell- und dunkelblau.
Dann ist Nacht. Die Erde wirkt wie eine schwarze Grube. Als Glenn die Kapsel dreht, erblickt er die Sterne. Sie leuchten hell wie am Himmel über der Wüste, doch sie funkeln nicht. 40 Minuten später
schießt der erste Sonnenstrahl über den Horizont. Völlig unerwartet taucht ein Schwarm von Tausenden Teilchen auf. Wie Glühwürmchen wirbeln sie um das Raumschiff. Später entlarvt man sie als
Eisstückchen, die sich von der Kapsel gelöst haben und im Morgenlicht erstrahlen.

Die Atlas-Rakete trägt nur 2 t Last. Daher hat man unnötigen Ballast gestrichen, den Rest miniaturisiert. Die Grundfläche der Mercury mißt gerade 180 cm. Raum ist knapp. Ein Kubikmeter bleibt für
Glenn. Er darf nicht einmal die Sitzgurte lösen. „Man quetscht sich an all dem Zeug vorbei, das drinnen montiert ist, als ob man unter das Bett kriecht", erzählt er. „Du kletterst nicht in die
Kapsel, sondern ziehst sie an", witzeln seine Freunde. Sogar auf die Mitnahme einer Fotokamera wollte man zunächst verzichten.

Vom tödlichen Vakuum des Alls trennen Glenn zwei dünne Bleche. Er liegt rücklings auf dem Druckschott am unteren Ende des Schiffs. An der Außenseite ist hier der Hitzeschild montiert. Darauf wieder
sitzen Bremsraketen, von Metallbändern in Position gehalten. Die Konstruktion aus 10.000 Einzelteilen rast in 88 Minuten um die Welt. Doch plötzlich leuchtet in einer Bodenstation das Kontrollicht
des Hitzeschilds auf. Er scheint sich zu lösen. Ein tödlicher Fehler.

Glenn erfährt es nicht. Gegen Ende der dritten Erdumkreisung bereitet er den Wiedereintritt vor. Die automatische Lageregulierung ist ausgefallen, doch kann er das Schiff per Handsteuerung in
richtige Position drehen. Unter einem harmlosen Vorwand weist man ihn an, die Bremsraketen auch nach Brennschluß am Hitzeschild zu belassen. Man hofft, daß ihre Haltebänder den Schild fixieren.

Die Raketen zünden, die Mercury „fällt" aus dem Orbit. Immer dichter werdende Luftschichten bremsen sie ab. Glenn wird mit fast 8 G, der achtfachen Schwerkraft, in den Sitz gepreßt. Rund um die
Kapsel steigt die Temperatur auf 5.000ø C. Die Luft ist ionisiert, der Funkkontakt bricht zusammen. Am Boden hält man den Atem an.

Orangefarbiges Glühen umhüllt das Schiff. Es stammt vom abschmelzenden Harz des Schilds. Dann rasen große Trümmer vorbei. Glenn ahnt Schlimmes, wartet darauf, die Hitze zunächst im Rücken zu spüren.
Doch die Mercury übersteht den Höllenritt.

Brems- und Hauptfallschirm öffnen sich, lassen sie 4 Stunden und 55 Minuten nach dem Start ins Meer gleiten. Der Schild hat gehalten, nur die Kontrollanzeige spielte verrückt. Glenn wird später
kritisieren, daß man ihn nicht aufrichtig informiert hat.

Senator von Ohio

Die Mission macht Glenn zur Weltraumlegende. Präsident John F. Kennedy hatte 1961 angekündigt, noch vor Ende des Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond landen zu wollen. Mit der erfolgreichen
Erdumkreisung ist man dem ehrgeizigen Ziel einen Schritt näher gekommen. Scott Carpenter wiederholt Glenns Flug. Nach Abschluß des Mercury-Programms starten mehrere der ersten Astronauten mit Gemini-
und Apollo-Raumschiffen nochmals ins All. Alan Shepard wird als Kommandant von Apollo 14 sogar über den Erdtrabanten spazieren. John Glenn aber verläßt die NASA, wechselt in die Wirtschaft.

1968 wird Senator Robert Kennedy in Los Angeles niedergeschossen. Glenn, sein enger Freund, kümmert sich mit Gattin Anna Margaret um Kennedys Kinder. Er muß ihnen erklären, daß ihr Vater den
Verletzungen erlegen ist. Sechs Jahre später bewirbt er sich selbst um ein hohes Amt. Der Demokrat wurde seither viermal zum Senator von Ohio gewählt und hat fast ein Vierteljahrhundert lang Einfluß
auf die amerikanische Sicherheits-, Umwelt- und Sozialpolitik genommen. Doch gegen Ende seiner letzten Amtszeit drängt es ihn zurück in den Weltraum.

Alter und All

Im Jänner 1998 beschloß die NASA, Senator Glenn diesen Wunsch zu erfüllen. Nach umfangreichem Training wird er Ende Oktober im Space-Shuttle Discovery ins All aufbrechen und dabei mit
Kollegen der NASA und der ESA sowie einer Spezialistin der japanischen NASDA für die mitgeführten Experimente verantwortlich zeichnen. Die Discovery bringt eine Druckkammer ins All, ein UV-Teleskop,
einen Sonnenbeobachtungssatelliten und eine Plattform, auf der Ersatzteile für das Weltraumteleskop getestet werden.

Mit seinen 77 Jahren ist Glenn der weitaus älteste Mensch, der je an einer Raummission teilgenommen hat · doppelt so alt, wie die meisten seiner Kollegen. Er fungiert auch diesmal wieder als
„Versuchskaninchen" der Weltraummediziner. Bereits 1962 hat man die Reaktion seines Körpers auf die Schwerelosigkeit geprüft. Nach Abschluß der Shuttle-Mission werden Ergebnisse aus zwei
unterschiedlichen Lebensabschnitten vorliegen. Rechnet man die vielen Untersuchungen vor und nach den Flügen hinzu, umspannt der medizinische Datenschatz vier Jahrzehnte.

NASA-Ärzte bescheinigen Glenn exzellente Gesundheit. Der Nichtraucher hat sich mit Hantel- und Laufübungen fit gehalten. Dennoch werden die 144 geplanten Erdumkreisungen seinen Organismus verändern.
Astronauten verlieren im All rasch Knochensubstanz. Das Muskelgewebe bildet sich zurück. Selbst junge Raumfahrer leiden unter Kreislaufproblemen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche und
verringerter Abwehrkraft · ganz ähnlich, wie Millionen Erdenbürger fortgeschrittenen Alters.

Verringerte Aktivität führt im Alter zu einer Unterbeanspruchung des Körpers, Funktionen werden eingeschränkt. Gleiches scheint die Schwerelosigkeit im Orbit zu bewirken; bei Astronauten verschwinden
die Probleme nach der Landung allerdings wieder. Wie die Prozesse im Detail ablaufen, ist trotz russischer Langzeitflüge nicht geklärt. Daher interessiert sich die NASA auch für Erkenntnisse der
Altersforschung. Umgekehrt hofft man, im All gewonnene Erfahrungen zur Linderung von charakteristischen Alterserscheinungen · etwa der Osteoporose · einsetzen zu können.

Risiko fliegt mit

Seit John Glenns erstem Raumflug hat sich die Zahl der Amerikaner über 65 verdoppelt. Er selbst steigt heute in ein ganz anderes Gefährt als 1962. Schon in den Abmessungen unterscheidet sich die
Discovery von der Friendship-7 drastisch, wirkt wie eine DC9 neben einem PKW. Die Raumfähre mißt von Bug bis Heck 37 m. In ihren weiten Laderaum könnte man die Mercury ein Dutzendmal einschlichten.
Obwohl sieben Astronauten an Bord sind, bleiben jedem Crew-Mitglied neun Kubikmeter Raum.

Längst muß man kein Kampfpilot mehr sein, um ins All zu starten. Die Beschleunigungskräfte sind mit maximal 3 G fast „kommod". Zum Abschluß der Mission setzt die 70 t schwere Raumfähre elegant und
wie ein Segelflugzeug auf der Landebahn auf. Nach mehr als 90 Shuttle-Flügen scheint die bemannte Raumfahrt Routine zu sein. Doch das Risiko fliegt immer noch mit. Vor allem Start und Wiedereintritt
in die Erdatmosphäre sind kritische Phasen geblieben.

Am 29. Oktober 1998 werden die drei Haupttriebwerke der Discovery knapp vor denen der beiden Feststoffraketen zünden, die sich auch bei einer Fehlfunktion nicht mehr abschalten ließen. Nur alle
gemeinsam entwickeln genug Kraft, um den schweren Komplex aus Raumgleiter, Hilfsraketen und externem Tank sicher in den Himmel zu heben. Dazu ist 19 mal mehr Schub nötig, als Glenns alte Atlas-Rakete
lieferte.

Schon eine geringfügige Abweichung vom Sollwert kann zur Katastrophe führen. In den letzten Sekunden des Countdowns wird sich Glenn daher wohl der vier Worte erinnern, die ihm Scott Carpenter vor 36
Jahren per Funk mit auf den Weg gab: „Viel Glück, John Glenn!"

Freitag, 23. Oktober 1998

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