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Ein Besuch im Meteoritenkraterfeld von Morasko

Posens außerirdischer Vorort

Von Christian Pinter

Der neugierige Besucher benötigt kein Taxi, um die acht Kilometer zwischen dem Zentrum von Posen und Morasko zurückzulegen. Längst hat "Poznan", wie die alte Stadt auf polnisch heißt, das kleine Dorf eingemeindet. Mit dem öffentlichen Autobus geht es eine halbe Stunde lang Richtung Norden. Plattensiedlungen tauchen auf, verschwinden wieder aus dem Blickfeld.

Allmählich nimmt die Umgebung ländlichen Charakter an. Störche stolzieren über Wiesen. In Morasko steigen wir aus dem Bus der Linie 88, marschieren die "Meteorytowa" entlang. Links und rechts der Allee erstrecken sich weite Felder. Die Landschaft ist leicht hügelig. Unwillkürlich fühlt man sich an das Weinviertel erinnert.

Nach 650 Schritten zweigt rechts ein Waldweg ab. Wir folgen ihm und halten überrascht vor einem kleinen See inne. Tiefgrüne Pflanzen bedecken ihn. Dann fällt der 35 m weite Wall auf, der die Struktur umgibt. Wir begreifen: Das Wasser hat sich hier nicht in einer gewöhnlichen Mulde gesammelt - sondern am Boden eines Meteoritenkraters.

Dann ein weiterer See. Hier umfasst der Wall 63 m. Das Wasser füllt nur den tieferen Teil der Schüssel, täuscht somit eine viel kleinere Kraterdimension vor. Aus der Mitte ragt Schilf auf. Ein idyllischer Platz, wenngleich die Zahl surrender Gelsen unten am Ufer zunimmt.

Wasserlinsen

Vogelzwitschern begleitet uns auf dem Weg zum Hauptkrater. Er ist etwa 100 m weit und 13 m tief. Mehr als mannshoch steht darin das Wasser. Wasserlinsen baden im Sonnenlicht; Frösche und Kröten durchbrechen die Stille. Vom Nordufer aus bietet sich der schönste Anblick. Hier liegt der Kraterrand nur wenige Meter über dem Wasserspiegel. Der Südwall ist mächtiger, fällt nach innen und nach außen eindrucksvoll ab.

Das Kraterfeld von Morasko präsentiert sich als Ansammlung beschaulicher Waldseen. Zumindest im Sommer sind einige jedoch völlig ausgetrocknet. Zwei Gebilde klaffen als über 20 m weite, 3 bis

5 m tiefe Gruben im Boden. Das kleinste misst keine 15 m. Das merkwürdige Sextett drängt sich in einem Kreis mit 200 m Radius zusammen. Deutlich abgesetzt wartet Nummer 7 auf unseren Besuch.

Als "Krater" ist diese Struktur kaum zu erkennen. Dafür erinnert eine Suhle an Wildschweine, die hier ihr Refugium haben. Die ganz leicht elliptisch geformten Eintiefungen zeigen ähnliche Charakteristika. Ihre Längsachsen weisen vorwiegend nach Süden bzw. Südwesten. Dort ist auch der Kraterwall höher. Nordöstlich des Walds, im Getreidefeld, soll ein achter, heute nicht mehr sichtbarer Krater liegen. Eine alte Landkarte von 1888 zeigt noch weitere kreisähnliche Strukturen.

Anfang der siebziger Jahre wurde das Ackerland mit schweren Maschinen bearbeitet. Schon vorher ist wohl einiges der Landwirtschaft zum Opfer gefallen, die man hier seit 800 Jahren betreibt. Nur im Buchenwald blieben Krater und Gruben vor dem Pflug verschont.

Am 12. November 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, machte Unteroffizier Cobliner beim Ausheben einer Geschützstellung in Morasko eine merkwürdige Entdeckung: "Bei Schanzarbeiten fand ich heute im gewachsenen Boden (Kies) ungefähr einen halben Meter unter der Erdoberfläche einen Metallklumpen von 75 kg Gewicht." Eine Probe kam nach Berlin, wo sie sich als Meteorit herausstellte. Eisengehalt: 92 Prozent.

Vor 50 Jahren katalogisierte Jerzy Pokrzywnicki die polnischen Meteoritensammlungen und suchte dazu auch das Fundgebiet des Morasko-Eisens auf. Bauern erzählten ihm von weiteren Stücken von rund 80 kg Gewicht. Viele davon waren wieder verloren gegangen. Der Forscher schaute sich bei seiner Recherche auch die runden Strukturen im Wald an. Damals glaubte man noch, sie wären von eiszeitlichen Gletschern geformt worden.

Pokrzywnicki brachte sie aber mit den Meteoritenfunden in Verbindung. Beweisen konnte er die Hypothese freilich nicht. Die erste wirklich hieb- und stichfeste Identifikation eines Meteoritenkraters gelang erst 1960, und zwar in Arizona. Dann dauerte es noch Jahre, bis Morasko endlich als mögliches Meteoritenkraterfeld in der internationalen Fachliteratur Erwähnung fand. Mittlerweile - 1966 - hatte man 16 Eisenmassen mit einem Gesamtgewicht von 211 kg sicher gestellt.

Als weiterer Beleg für die Einschlagsthese dienten zahlreiche Bodenproben, die Honorata Korpikiewicz von der Universität Posen 1978 aus einem halben Meter Tiefe entnahm. Fährt man mit einem Magneten über getrocknete Erde aus Morasko, bleiben winzige Partikel an ihm kleben. Mikrometeorite aus Nickeleisen findet man überall auf unserem Planeten. In Morasko treten sie aber stark gehäuft auf. Unter dem Mikroskop sind die Eisenteilchen entweder kugelrund oder unregelmäßig geformt. Die Kügelchen könnten noch in der Luft vom Meteoriten abgeschmolzen und dann auf Morasko hinabgeschwebt sein. Die irregulären Partikel hingegen splitterten wohl erst beim Aufprall der großen Eisenmassen ab.

Ab 1995 förderten Metalldetektoren im Raum Morasko viele weitere Meteorite zu Tage. Bis heute dürften mehr als 100 Exemplare mit

einem Gesamtgewicht von gut

500 kg aus dem Ackerboden geholt worden sein. Hie und da taucht eines auf Mineralienbörsen auf - es kostet von zwei bis sechs Euro pro Gramm.

Aus der Verteilung des meteoritischen Staubs im Boden, den Fundorten der Meteorite und vor allem aus Form und Größe der Krater rekonstruierten polnische Wissenschaftler den möglichen Ablauf der Katastrophe. Ihrem Befund zufolge drang vor wahrscheinlich 5.500 bis 5.000 Jahren ein eisernes Himmelsgeschoss von vielen tausend Tonnen Masse in die Erdatmosphäre ein. Es raste, vermutlich aus Nordnordosten kommend, über das heutige Polen. Der Großteil des Körpers verdampfte in der Luft. Der Rest von etwa Zimmergröße zerbrach in geringer Höhe. Seine mächtigsten Fragmente donnerten dicht nebeneinander und unter flachem Winkel in den Boden. Sie hinterließen Explosionskrater und Einschlagsgruben.

Vielleicht 200 Tonnen Eisen prallten damals mit einem Tempo zwischen 11.000 und 18.000 km/h auf. Dieser Impakt wirkte wie Sprengstoff, besaß eine Zerstörungskraft etwa von 200 Tonnen TNT. Wäre das in jüngerer Zeit passiert, stünde vom Dorf Morasko keine Mauer mehr. Ob damals Menschen das Desaster erlebt haben, ist unbekannt. Die Narben im Buchenwald sind aber beredte Zeugen. Ihnen verdankt Posen das Privileg, ein Meteoritenkraterfeld innerhalb der Stadtgrenze zu besitzen. 1976 stellte man das 54 Hektar weite Waldareal unter Naturschutz.

Ätzfiguren

"Morasko" gehört zur weitaus größten Untergruppe der Eisenmeteorite, zu den so genannten "Oktaedriten". In Vertretern dieser Gruppe hatte der Österreicher Alois Widmanstätten 1808 typische Ätzfiguren entdeckt, die in irdischem Eisen nicht auftreten. Sie kommen durch das Zusammenspiel zweier Nickeleisen-Legierungen zustande und fallen umso feiner aus, je höher der Nickelgehalt ist. Jener im Morasko-Eisen bleibt mit 6,6 Prozent vergleichsweise bescheiden. Deshalb wirken die Widmanstätten'schen Figuren hier grob.

Das gilt auch für die 102 kg schwere Eisenmasse, die man 1847 in Seeläsgen nahe Schwiebus ausgrub. Ob sie tatsächlich dort gefallen ist oder von Menschen dorthin gebracht wurde, ist unklar. Jedenfalls ähneln die Meteorite aus Seeläsgen und Morasko einander, wenn man die Häufigkeiten von Nickel, Gallium, Germanium und Iridium betrachtet. Vergleichbare Werte zeigt auch der Meteorit von Tabarz, Thüringen, den ein Schäfer 1854 fand. Er gab an, das Eisen vom Himmel fallen gesehen zu haben. Doch starke Verwitterung legt einen viel längeren Erdaufenthalt nahe.

Die drei Fundstellen liegen auf einer Linie, die Richtung Ostnordosten zielt. So ist nicht ausgeschlossen, dass diese Eisen vom selben Einschlag stammen. Demnach hätten sich die in Tabarz und Seeläsgen gefundenen Meteorite noch im Fluge von der Morasko-Hauptmasse abgetrennt und wären rund 475 bzw. 100 km vor Posen niedergegangen. Dabei müsste man die ursprünglich vermutete Flugrichtung des Geschosses "umkehren". Wie auch immer: Zweifelsfrei beweisen ließ sich eine Verwandtschaft der drei Oktaedrite bisher nicht.

Steinmeteorite stellen das Gros der Himmelsboten. Solche aus Eisen - sie stammen aus dem Kern zerborstener Kleinplaneten - sind seltener. Alle tauchen mit mindestens 40.000 km/h in die Atmosphäre ein. Ein kleiner Eindringling wird dabei von der Luft abgebremst. Sofern er nicht völlig verdampft, kommt der Rest im freien Fall herab. Zu langsam, um einen Krater zu schlagen. Ein riesiges, massenreiches Objekt hingegen nimmt einen Teil seiner kosmischen Geschwindigkeit bis zur Erdoberfläche mit. Dort hinterlässt es einen mächtigen Einzelkrater, oft 20-mal so groß wie das Projektil.

Bei Objekten im mittleren Größenbereich ist die Sache komplizierter. Wenn die Luft beim raschen Flug gleichsam "zur Wand" wird, tritt enormer Stress auf. Deshalb fragmentieren Himmelsgeschosse oft. Bei den zerbrechlicheren Steinmeteoriten geschieht das in vielen Kilometern Höhe. Ihre Bruchstücke haben daher Zeit, sich nochmals und nochmals zu teilen. Die kleinen Überbleibsel formen keine Krater. Die viel massiveren Eisenmeteorite spalten sich jedoch erst knapp über Grund. Deshalb donnern hier recht ansehnliche Brocken mit hohem Tempo in den Boden. Kraterfelder entstehen. Berühmt sind Campo del Cielo in Argentinien, Odessa in Texas, Henbury in Australien, Sikhote-Alin in Ostsibirien, Kaalijärv in Estland oder Morasko in Polen - sie gehen alle auf das Konto von Eisenmeteoriten.

In Europa kennt man vier Dutzend Einschlagskrater. Österreichs nächste Nachbarn liegen in Süddeutschland: Nördlinger Ries und Steinheimer Becken. Für Wiener folgt Morasko mit einer Distanz von 500 km auf Platz 3; ausgedehntere Reisen führen zur französischen Rochechouart- oder zur spanischen Azuara-Struktur.

Damit ist die Kraterinventur in Mittel-, Süd- und Westeuropa komplett. Denn fast alle noch identifizierbaren Einschlagswunden unseres Kontinents liegen im Norden und Osten. Vor allem in Finnland, Schweden, Estland, der Ukraine und Russland. Dort gibt es alte Erdkrustenbereiche, die entweder nicht von jüngeren Gesteinsschichten überdeckt oder später wieder freigelegt wurden.

Zweifelhafter Krater

Auf halbem Weg zwischen Danzig und Königsberg liegt Frombork. Ein gotischer Dom wacht über die Stadt, die auch unter dem deutschen Namen "Frauenburg" bekannt ist. Etwa zwei Kilometer südlich davon spazieren wir über ein weites Feld mit einer sanften Einsenkung. 1937 und 1939 fand man zwei Eisenklumpen mit 4 kg Gesamtgewicht. Waren es Meteorite?

Jerzy Pokrzywnicki interpretierte 1960 auch diese Eintiefung als Meteoritenkrater. Durchmesser: über 100 m. Im Zentrum ruht ein kleiner, von Bäumen und Sträuchern dicht umwachsener Teich. Optisch erkennen kann man diesen "Krater" beim besten Willen nicht. Auch wenn der Anteil meteoritischer Eisenkügelchen im Boden höher ist als im Landesdurchschnitt, hat es "Frombork" nie in die Liste anerkannter Krater geschafft. Dass trotzdem viele himmelskundlich Interessierte nach Frauenburg pilgern, hat einen anderen Grund: Im mächtigen Dom wirkte einst ein berühmter Astronom, der hier 1543 auch die letzte Ruhe fand: Nikolaus Kopernikus.

Freitag, 27. Juni 2003

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