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Funde in der libyschen Wüste geben bis heute Rätsel auf

Glas aus der Sandsee

Von Christian Pinter

Selbst Skorpione und Schlangen finden hier, im nordöstlichen Teil der Sahara, kaum Nahrung: Bewohnbar ist die libysche Wüste nur an wenigen Plätzen, wie den ägyptischen Siwa- oder den libyschen Kufrah-Oasen. In diesem Extremgebiet erstreckt sich die Große Sandsee, eine der trockensten Regionen der Erde. Vom Flugzeug aus wirkt sie wirklich wie ein Meer aus Sand: Wellen ragen gleich Dünen 150 Meter hoch auf. Jeweils Hunderte Kilometer lang ziehen sie nach Süden. Dazwischen tun sich

3 bis 4 Kilometer breite "Wellentäler" auf.

In den Dreißigerjahren erforschte der Engländer Patrick Clayton die Sandsee. Dabei stieß er am 29. Dezember 1932 im ägyptischen Abschnitt der libyschen Wüste auf höchst seltsame Objekte aus Glas. Sie muteten fast wie Edelsteine an. Im folgenden Jahr kehrte der 37-jährige Clayton mit einer internationalen Expedition zurück. Unter den Teilnehmern: László Almásy. Der Ungar war 1895 in Bernstein geboren worden, dessen Burg seine Familie kurz zuvor erworben hatte. 1921 kam das Burgenland zu Österreich. Almásy, zunächst Autorennfahrer, fuhr nun mit Steyr-Fahrzeugen in die Wüste. Schließlich wollte er mit Clayton die verschollene Oase Zarzura suchen.

Diese Expedition setzte auf Automobile und einen kleinen Doppeldecker. Almásy sollte später Modell für den Roman und den Film "Der Englische Patient" stehen. Doch im Gegensatz zur Hauptfigur des 1996 gedrehten Films starb der Flugpionier nicht im Zweiten Weltkrieg, nach Abschuss und schweren Verbrennungen, sondern 1951 in einem Salzburger Krankenhaus an den Folgen der Ruhr. Auch die tragische Liebesbeziehung gab es nur im Buch und im Kino.

Wunderbare Klarheit

Gleich nach seiner Abenteuerreise mit Almásy brachte Clayton Leonard Spencer vom Britischen Museum in die Sandsee, wo er ihm den Fundort des rätselhaften Glases zeigte. Gemeinsam publizierten die beiden 1934 einen Aufsatz, der Mineralogen aufhorchen ließ. Unter den Lesern war auch der österreichische Wissenschaftler Franz Eduard Suess, der bald selbst die "wunderbare Klarheit des blassgelblichgrünen, oft vollkommen durchsichtigen Glases" bewunderte.

Allerdings war Clayton nicht der Erste, der das libysche Wüstenglas in Händen hielt. Schon 1850 hatte es der französische Altertumsforscher Fulgence Fresnel erwähnt. Auch in den berühmten Grabbeigaben des Pharaos Tutanchamun fand man ein solches Objekt. Es zeigt den Skarabäus im Zentrum eines kostbaren Brustschmucks. Grabentdecker Howard Carter hielt den Stein 1922 für einen Chalzedon, eine Quarzvarietät. Erst 1998 entlarvten italienische Forscher den Fund aus dem Tal der Könige als Wüstenglas. Ägyptische Künstler hatten es im 14. Jh. v. Chr. bearbeitet. Unter den in der Sandsee eingesammelten Glasbrocken entdeckt man gelegentlich auch besonders scharfkantige Stücke. Offensichtlich haben Menschen vor 10.000 bis 20.000 Jahren abgeschlagene Splitter als Schaber, Messer, Klingen oder Pfeilspitzen verwendet. Damals herrschte dort ein viel freundlicheres Klima. Das belegen Felszeichnungen, die teilweise bei der Almásy-Expedition entdeckt wurden.

Heute prägen riesige Dünen die Landschaft. Sie wandern wie im Schneckentempo, geben den steinigen Boden nur ganz langsam frei. Dann tauchen die Wüstengläser auf, manchmal weiß, manchmal hellgrün, meist jedoch gelb. Oft sind die Exemplare nur wenige Zentimeter klein, bringen um die 100 Gramm auf die Waage. Man hat aber auch schon Brocken mit mehreren Kilogramm Gewicht geborgen. Die Fundstücke bestehen fast zur Gänze aus Siliziumdioxid. Im Sand verborgen, hat der Zahn der Zeit am Glas genagt, das Antlitz der Steine angegriffen. Doch einmal exponiert, sorgt der sandbeladene Wüstenwind für Schliff und glättetet die Oberflächen wieder.

Bei der künstlichen Glasproduktion dienen quarzhältige Sande als Rohstoff. In mächtigen Wannenöfen wird die Schmelze mehrere Stunden lang auf weit über 1.000 Grad Celsius erhitzt. In der libyschen Wüste muss das Glas aber ohne menschliches Zutun hergestellt worden sein. Wie Altersmessungen ergaben, existiert es dort nämlich bereits seit 28,5 Millionen Jahren.

Zunächst dachte man an chemische Prozesse, die bei normalen, niedrigen Temperaturen ablaufen könnten: an Ausfällung aus siliziumreichem Wasser, an Kieselsäureablagerung in einem austrocknenden See. Doch im Wüstenglas fanden sich die Hochtemperaturformen Lechatelierit und Baddeleyit, die sich nur unter extremer Hitze aus Quarz bzw. Zirkon formen. Temperaturen von über 1.700 Grad sind dazu notwendig. Manche Eigenschaften des Glases deuten sogar auf noch höllischere Hitze während seiner Entstehung hin. Doch was hätte die nötige Energie dafür liefern können?

Im Weltraum sind Meteorite mit mindestens 11 km pro Sekunde unterwegs, wenn sie unseren Planeten treffen. Kleinere Sendboten aus dem All werden von der Lufthülle effizient abgebremst - mächtigere nicht mehr, sie nehmen ihr kosmisches Tempo bis zum Erdboden mit. Die beim Einschlag - dem sogenannten "Impakt" - frei werdende Energie wächst linear mit der Masse und quadratisch mit der Geschwindigkeit des Objekts. Bei großen, schnellen Himmelsgeschossen ist sie verheerend.

Vor 15 Millionen Jahren brannte in Süddeutschland der Wald. Schuld war ein vermutlich 900 m großer, 70.000 km/h schneller Meteorit, der in die Fränkisch-Schwäbische Alb donnerte. Der Impakt entfaltete die Zerstörungskraft einer Viertel Million Hiroshima-Bomben und formte den bis heute erkennbaren, 24 km weiten Ries-Krater in Bayern. Am Einschlagspunkt stieg der Druck im Gestein auf das Millionenfache. Die Temperatur kletterte auf 30.000 Grad Celsius. Ein Teil der obersten Bodenschicht, damals aus tonigen Quarzsanden gebildet, wurde als glühende Schmelze hoch geschleudert. Dabei verschwanden die flüchtigsten Elemente. Silizium blieb zurück. Als die Schwerkraft in 40 km Höhe die Oberhand gewann, stürzten Tausende Tonnen dieser Masse auf Südböhmen und Südwestmähren hinab. Der Glasregen fiel somit Hunderte Kilometer östlich des Ries-Kraters nieder.

Fünfte Tektitenart?

Gläserne Ferngrüße von Impakt-Katastrophen heißen Tektite. Man kennt sie aus mindestens vier Streufeldern. Jene, die sich beim Ries-Impakt bildeten, taufte man "Moldavite" - nach einem frühen Fundort im Moldautal. Die schwarzen Tektite der Elfenbeinküste sind nur rund eine Million Jahre alt. Sie stammen vom Bosumtwi-Krater in Ghana. Die nordamerikanischen Tektite aus Texas und Georgia entstanden vor 35 Millionen Jahren. 1996 entlarvten der Österreicher Christian Köberl und der US-Amerikaner Wylie Poag die 90 km weite Chesapeake-Struktur vor der Küste Virginias als Impaktnarbe gleichen Alters. Nur für die relativ jungen australasiatischen Tektite, deren Streufeld von China bis nach Australien reicht, steht ein Kraterfund noch aus.

Betrachtet man das Wüstenglas gleichsam als "fünfte Tektitenart", stellt sich sofort die Frage nach dem dazu passenden Krater. Tatsächlich fallen mehr als 100 km südwestlich bzw. westlich des Fundgebiets, also schon jenseits der Grenze zu Libyen, zwei weite kreisförmige Gebilde auf. Sie wurden nach Ölgesellschaften getauft, die sie zunächst untersucht hatten. Oasis misst 11,5 km, BP 2,8 km. Beide gelten als Impaktkrater. Leider lässt sich nicht ermitteln, wann genau sie entstanden sind. Sie können aber höchstens so alt sein wie der nubische Sandstein, in dem sie liegen, also maximal 120 Millionen Jahre. Dieser Sandstein besitzt hohen Gehalt an Siliziumdioxid und weist eine ähnliche Spurenelementverteilung auf wie das Wüstenglas. Doch damit allein ist die Abstammung der Glasbrocken von Oasis oder BP nicht bewiesen.

Mit seiner hohen Lichtdurchlässigkeit erinnert das gelbe Wüstenglas an die grünen Moldavite aus Böhmen und Mähren. Dennoch irritieren chemische Differenzen zu den Tektiten. Moldavite bestehen zu etwa 80 Prozent aus Siliziumdioxid; Wüstenglas ist mit 98 Prozent deutlich reiner. Dafür übertrifft es Tektite klar im Wassergehalt, auch wenn dieser bloß um ein Promille liegt.

Es gibt eine zweite Form von Gläsern, die beim Einschlag massereicher Meteorite entstehen: Impaktgläser. Man kennt sie aus vielen Einschlagswunden. Im Gegensatz zu den weit gereisten Tektiten findet man Impaktglas nur im Krater oder in unmittelbarer Nähe zu ihm. Auch Leonard Spencer hatte solche Proben kurz vor seinem Besuch in der libyschen Wüste studiert - etwa jene, die 1932 in den Wabar-Kratern Saudi-Arabiens eingesammelt wurden. Dort hat ein Meteoritentreffer tatsächlich Sand geschmolzen und in kleine Glaskügelchen verwandelt.

Krater unter den Dünen?

Vergleicht man den Wassergehalt, passt das Wüstenglas gut zu anderen Impaktgläsern - sicher besser als zu den Tektiten. Doch dann müsste der Impaktkrater ja innerhalb des Fundgebiets der Glasbrocken liegen. Doch dort gibt es nichts. Suess erwog 1937, die Einschlagswunde könnte "unter den Dünen verborgen oder auch bis zur Unkenntlichkeit verschüttet und abgetragen und daher unauffindbar geblieben" sein. Hat der Wüstenwind die Narbe wirklich mit Sand zugedeckt? Machte sie die Erosion in knapp 29 Millionen Jahren gar unkenntlich?

Sowohl Impaktgläser als auch Tektite entstanden aus irdischem Gestein. Meteoritische Materie findet sich darin höchstens in Spuren. In manchen Wüstengläsern entdeckt man schleierartige Einschlüsse. Die Analyse weist darin erhöhte Mengen von Eisen, Nickel, Chrom, Kobalt und Iridium nach - und zwar in einem Verhältnis, das typisch ist für Chondrite, die häufigste Meteoritenart. Der Anteil dieser meteoritischen Komponente bleibt im Promillebereich, wie bei anderen Impaktgläsern auch. In Tektiten ist er sehr viel geringer.

Der kosmische Fingerabdruck in manchen Gläsern aus der libyschen Wüste lässt diese in der Tat wie Impaktglas erscheinen. Ohne Kraterfund bleiben dennoch Zweifel. Um das Dilemma zu lösen, blicken manche Forscher nach Sibirien. Dort verwüstete eine mächtige Detonation am 30. Juni 1908 ein Gebiet von der fünffachen Fläche Wiens. Krater blieb in der Tunguska aber keiner zurück. Denn womöglich schlug hier gar kein Himmelsgeschoss ein, sondern es zerfiel noch in der Luft in unzählige Teile.

Wie Hunderte Atombomben

Vielleicht zog damals ein 60 m kleiner Steinmeteorit mit mehr als 11 km/sec über Westchina und den Baikalsee. An seiner Frontseite komprimierte er die Luft extrem, hinter ihm tat sich ein Vakuumtunnel auf. Diesem Stress hielt der Stein nicht stand. Er zerplatzte 6 bis 10 km über der Erdoberfläche. Einen Moment später ging es seinen Fragmenten ebenso. Innerhalb weniger Augenblicke könnte sich ein Körper von über Hunderttausend Tonnen Masse aufgelöst haben. Dabei entlud sich Energie von der Zerstörungskraft Hunderter Atombomben explosionsartig in der Lufthülle. Aus wenigen Kilometern Höhe stach ein Hitzeblitz auf den Waldboden herab, gefolgt von einer brutalen Druckwelle.

Möglicherweise geschah Vergleichbares einst auch über der libyschen Wüste. Dort muss der Hitzeblitz aber zehntausendmal gewaltiger gewesen sein. Nur so könnte er derart große Mengen Sand oder Sandstein geschmolzen haben. Turbulenzen rissen die mehr als 2.500 Grad heiße Schmelze offenbar sofort in die Höhe. Der darin befindliche Quarz wurde zu Glas. Spuren der zerborstenen Tatwaffe mischten sich in die Masse ein. Das schaurige Szenarium ist allerdings nicht frei von Widersprüchen. Sichere Beweise fehlen auch hier.

Einer Schätzung zufolge lagern 1.400 Tonnen Wüstenglas in der Großen Sandsee, verstreut auf eine Fläche von 6.500 Quadratkilometern. Das Areal wäre damit ausgedehnter als das niederösterreichische Weinviertel bzw. halb so groß wie Tirol. Suchexpeditionen sind schwierig und riskant, benötigen zudem unbedingt die Erlaubnis ägyptischer Behörden. "Jüngst soll die Gegend sogar zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden sein", berichtete ein tschechischer Händler bei den Münchner Mineralientagen im Oktober 2002.

Bei dieser größten europäischen Messe für Mineralien, Fossilien und Schmucksteine wurde das eigentümliche Material zu Grammpreisen zwischen 1 und 4 Euro angeboten; gelegentlich sogar günstiger. Auch auf österreichischen Sammlerbörsen taucht es in den letzten Jahren immer häufiger auf. Man braucht also kein Pharao mehr zu sein, um ein Stück Wüstenglas zu besitzen.

Freitag, 15. November 2002

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