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Am nördlichen Himmel werden immer häufiger Nachtwolken gesehen

Rätselhafte Eisgebilde

Von Christian Pinter

Wer im Sommer an die Nord- oder Ostsee pilgert, mag eine Überraschung erleben: ein bis zwei Stunden nach Sonnenuntergang tauchen am schon recht dunklen Nordhimmel helle, silbrig-weiße Wolken auf. Oft bilden sie bizarre Figuren aus parallelen Rippen oder Streifen. Werden diese von einer weiteren Bänderschar gekreuzt, zaubert die Natur ein Fischgrätenmuster ans Firmament. Und das geschieht in letzter Zeit immer häufiger.

Auf den ersten Blick erinnern diese Gebilde an hochfliegende Federwolken. Doch die sind, wie alle anderen vertrauten Wolken auch, während der fortgeschrittenen Dämmerung in den Erdschatten eingetaucht. Herkömmliche Wolken zeigen sich jetzt nur noch als dunkle Flecke vor hellerem Himmelshintergrund. Die leuchtenden Gebilde müssen also sehr viel höher schweben. Ihr erhabenes Reich wird noch von Sonnenstrahlen getroffen, während das Tagesgestirn aus unserer Perspektive längst versunken ist. So können sie ein wenig Sonnenlicht in unsere Augen streuen.

Sterne schimmern durch sie hindurch. Vor allem Capella, Hauptstern im Fuhrmann, fällt niedrig über dem Nordhorizont auf. Die Griechen sahen im Sternbild Fuhrmann auch den übermütigen Phaethon, der sich einst den Sonnenwagen lieh. Doch er verlor die Herrschaft über die Rosse seines Vaters. So erhitzte er die Sternbilder vom Skorpion bis zur Schlange. Feuer verdörrte und versengte die Erde, hüllte alles in heißen Rauch und ließ die Flüsse dampfen.

Soweit Ovid in seinen "Metamorphosen". Über leuchtende Nachtwolken schweigen sich alte Autoren aber aus. Eindeutige Berichte liegen dazu erst seit 1885 vor. Waren sie früheren Betrachtern keine Notiz wert? Glänzten sie einst nur matt und unauffällig? Oder existierten sie vielleicht gar nicht?

Krakatau

Im August 1883 detonierte der Krakatau vor der Küste Javas. 36.000 Menschen fanden in der Flutwelle den Tod. Unvorstellbare Mengen vulkanischen Staubs wurden in die höhere Atmosphäre geschleudert und dort um den ganzen Globus verteilt. Intensive Himmelsbeobachtungen folgten. Drei Jahre lang registrierte man außergewöhnliche Dämmerungserscheinungen. Im Juni 1885 fielen Wissenschaftlern erstmals seltsame, helle Wolken am Nachthimmel auf. 1887 publizierte Otto Jesse über "Die Beobachtung der leuchtenden Nachtwolken". Dieser Begriff hat sich seither in unserer Sprache eingebürgert. Im Englischen spricht man von "noctilucent clouds", wovon sich auch das Kürzel "NLCs" ableitet.

Mit dem deutschen Astronomen Wilhelm Foerster rief Jesse damals eine Kampagne zur Beobachtung der offenbar völlig neuartigen Wolkenart ins Leben. Indem man die Gebilde gleichzeitig von zwei verschiedenen Stationen aus anvisierte, ließ sich deren Distanz zum Erdboden messen. Das Ergebnis verblüffte. Während für Federwolken eine maximale Flughöhe von 13,7 km angegeben wird, ziehen leuchtende Nachtwolken sechsmal so hoch dahin. Es sind die fernsten Wolken, die es überhaupt gibt. Entsprechend kompliziert ist ihre Erforschung.

Wolken sind Ansammlungen von Wassertröpfchen oder Eisteilchen, die sich eigentlich nur im tiefsten Abschnitt der Lufthülle bilden: Die Troposphäre ist die Bühne der meisten Wettervorgänge, reicht über den Polen 8 und über dem Äquator etwa 17 km hoch.

Darüber erstreckt sich die Stratosphäre, die unter anderem die bedrängte Ozon-Schicht beherbergt. Dort wird ein Teil des solaren UV-Lichts verschluckt. Das bewirkt vor allem in 50 km Höhe deutlichen Temperaturanstieg. Dann folgt die Mesosphäre. Hier fällt das Thermometer wieder. In etwa 85 km Höhe, in der so genannten "Mesopause", zeigt es das absolute Rekordtief. Weiter oben in der Ionosphäre sind die Gase durch UV- und Höhenstrahlung zum Teil ionisiert: Elektronen werden von ihren Atomen losgelöst; die Temperatur steigt wieder.

Die zuvor erwähnte Mesopause ist also der grimmigste Platz der ganzen Erdatmosphäre. Paradoxerweise nicht im Winter, sondern im Sommer. Dann wird die Luft über dem Pol nach oben gedrückt. Sie kühlt dabei ab. Kurzfristige Schwankungen lassen die Mesopausen-Temperatur sogar auf minus 140 oder 150° C stürzen. Die eisige Kälte ist eine der Voraussetzungen zur Entstehung leuchtender Nachtwolken.

Günstige Zone

Weit ab vom Pol bleibt die Mesosphäre zu "warm". Unterhalb des 50. Breitengrads erspäht man NLCs daher selten. Norddeutschland bietet bessere Aussichten. Allzu weit gen Norden darf man aber nicht reisen: In hohen Breiten bleiben die Sommernächte störend hell. Die Sonne sinkt dort nur ein kleines Stück unter den Horizont, die abendliche Dämmerung gleitet hell und nahtlos in die morgendliche über. Und jenseits des Polarkreises versinkt die Sonne zu Sommerbeginn gar nicht mehr.

Um sie in der hellen Dämmerung zu sehen, sind leuchtende Nachtwolken viel zu fein. Satelliten genießen vom Orbit aus die bessere Sicht. Mit Hilfe von UV-Kameras studieren sie Wolken über den Polgebieten sogar am helllichten Tage. Es sind bloß 2 km dünne Gebilde, die man "polar mesospheric clouds" oder kurz "PMCs" getauft hat. Diese Mesosphärenwolken entstehen Anfang Juni über der Arktis. In den folgenden Wochen dringen sie weiter nach Süden vor, ziehen sich schließlich aber wieder in arktische Gefilde zurück. Dort verschwinden sie Ende August. Die NLCs stellen den südlicheren, auch vom Boden aus sichtbaren Part der PMCs dar.

Für erdgebundene Betrachter bietet die Zone zwischen dem 55. und 60. Breitengrad in der Praxis die besten Beobachtungsbedingungen. Dänen, Südschweden oder Schotten sind klar bevorzugt. Aber selbst an ihrem Himmel zeigen sich NLCs nicht in jeder sternklaren Nacht. Am ehesten erblickt man sie im späten Juni und im Juli. Ein Dutzend Sichtungen pro Saison gilt schon als hübsches Ergebnis.

Berichte aus der südlichen Hemisphäre sind noch viel seltener, obwohl NLCs dort sechs Monate später ebenfalls entstehen. Die Erklärung ist einfach: Die günstigste Beobachtungszone verläuft im Süden primär über Wasser.

Damit sich in der extrem kalten und trockenen Mesopause Eiswolken bilden können, muss Wasserdampf angeliefert werden. Offensichtlich tragen ihn Luftströmungen aus tieferen Atmosphäreschichten hoch. Früher schrieb man Vulkanen dabei eine maßgebliche Rolle zu; heute nicht mehr.

In 82 bis 83 km Höhe gefriert der Dampf zu Eis. Dem Wachstum der Eispartikel sind Grenzen gesetzt: Je größer ihre Oberfläche, desto stärker erwärmt sie das Sonnenlicht. Die Teilchen fallen außerdem mit einer Geschwindigkeit von einigen cm pro Sekunde. Sobald sie in etwas wärmere Regionen der Mesosphäre sinken, verdampft das Eis. Der mittlere Durchmesser der NLC-Teilchen bleibt somit unter einem Zehntausendstel mm.

Für die Verwandlung des Wasserdampfes in Eis braucht man Kondensationskerne, an denen sich die Eiskristalle anlagern können. Vielleicht übernehmen vulkanische Staubpartikel diese Rolle. Tatsächlich tauchten nach der Eruption des balinesischen Agung im März 1963 zwei Sommer lang besonders prächtige Nachtwolken auf. Sie erschienen aber auch in Jahren ohne Vulkankatastrophe. Es muss daher weitere, wohl noch wichtigere Lieferanten für Kondensationskerne geben.

Sicher sorgt der Kosmos für Nachschub. Täglich stürzen an die 1.000 Tonnen Materie aus dem All in die Erdatmosphäre. Meist handelt es sich dabei um Auflösungsreste von Kometen. Objekte von einigen mm Durchmesser produzieren dank ihrer hohen Geschwindigkeit bereits auffallende Leuchterscheinungen. Wir sehen dann Meteore, also Sternschnuppen, über den Himmel huschen. Die meisten verdampfen schon in der Ionosphäre. Nur selten durchstoßen größere Eindringlinge auch die Mesopause.

Das Gros des kosmischen Materials besteht aus mikroskopisch kleinen Staubpartikeln. Deren Bewegungsenergie reicht nicht zum Aufschmelzen. Der Staub wird von der dünnen Luft abgebremst und schwebt dann langsam durch die Atmosphäreschichten. Längst hat man Forschungsraketen in NLCs geschossen, um ein wenig Wolkenmaterie zu analysieren. Dabei fand sich auch Eisen und Nickel. Ein Beleg dafür, dass die Teilchen tatsächlich aus dem All stammten. Weitere Untersuchungen sind derzeit im Gange.

Moldaublick

In Großbritannien oder Deutschland halten Naturfreunde jeden Sommer Ausschau nach Nachtwolken. Seit 1962 existiert eine Gruppe um Moskau, seit 1988 ein gemeinsames Netzwerk von US-amerikanischen und kanadischen Amateuren. Vor allem die Kanadier sind oft auch eingeschworene Nordlichtbeobachter, obwohl es sich dabei um eine ganz andere Erscheinung handelt. Beim Polarlicht werden Sauerstoffatome der Luft durch Elektronen aus dem All zur Abgabe von grünem oder rotem Licht angeregt. Das geschieht primär in Höhen von mehr als 100 km; in die Mesopause greift das Nordlicht selten hinab. Meist erscheint es nach heftigen Eruptionen auf der Sonne, die wiederum in Zeiten hoher Sonnenaktivität kulminieren.

Die Häufigkeit der Nachtwolken schwankt, wie die der Polarlichter, in einem grob elfjährigen Rhythmus - allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen und etwas zeitverschoben. Vermutlich steuert die Sonnenaktivität den Wasserdampfgehalt der Mesopausen-Region mit und beeinflusst dadurch die Bildung der NLCs.

Im Vorjahr wurden Nachtwolken schon am 20. Mai in Schottland beobachtet. Bis 16. August 2001 langten weitere Berichte aus England, Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Finnland, Irland, Russland, Kanada sowie aus den US-Bundesstaaten Utah, Nord-Dakota und Alaska ein. Die einzige österreichische Meldung stammte von Karl Kaiser. Er hatte seine allererste Nachtwolke im Juni 1995 vom Moldaublick nahe der tschechischen Grenze gesehen. Seither legt sich der Oberösterreicher jede Saison auf Lauer - mit wechselndem Erfolg. 1997 gelangen sechs Beobachtungen, 1999 drei, 1998 und 2001 je eine. 1996 und 2000 ging er trotz zahlreicher Versuche leer aus.

Tendenz steigend

Obacht ist nötig: In heimischen Breiten erblickt man NLCs bestenfalls ganz knapp über dem Nordhorizont. In der hellen Dämmerung besteht Verwechslungsgefahr mit normalen, noch sonnenbeschienenen Federwolken. Selbst bei fortgeschrittener Dunkelheit werden ungeübte Betrachter leicht irritiert - von ganz gewöhnlichen Wolken, die bloß das Mondlicht oder den Schein von Städten reflektieren.

Generell ist die Zahl an NLC-Sichtungen in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten deutlich gestiegen. Selbst aus gemäßigteren Breiten treffen jetzt gelegentlich Berichte ein. Was zeichnet für diesen Trend verantwortlich - ist es eine gesunkene Mesopausen-Temperatur, ein gestiegener Wasserdampfgehalt oder eine vermehrte Dichte von Kondensationskernen in 82 km Höhe?

Forscher führen vor allem Veränderungen des Erdklimas ins Treffen. Während die Treibhausgase Kohlendioxid und Methan in der Troposphäre für nachweisbare Erwärmung sorgen, kühlen sie die Mesosphäre ab. Dort kann das von ihnen abgestrahlte Infrarot nämlich ungehindert ins All entweichen. Messungen sind in dieser großen Höhe denkbar schwierig. Am Leibniz-Institut für Atmosphärenphysik im deutschen Kühlungsborn setzt man seit Ende der fünfziger Jahre auf Radiowellen. Resultat: die Mesosphären-Temperatur ist in vier Jahrzehnten um bis zu 20° C gefallen - viel stärker, als vorhergesagt. Allerdings erscheint gerade die polare Mesosphäre, also die Heimat der NLCs, davon noch weitgehend unberührt.

Vielleicht steht heute auch mehr Wasserdampf als Baumaterial zur Verfügung. Eine Ursache könnte das weltweit freigesetzte Methan sein. Es ist wichtiger Bestandteil von Erdgas, wird aber auch in Reisfeldern oder im Darm von Rindern erzeugt. In der Mesosphäre erzeugen fotochemische Prozesse daraus Wasserdampf. NLCs wären somit Folge der rasch gestiegenen industriellen oder agrarischen Produktion, eine Begleiterscheinung des Industriezeitalters und des Bevölkerungswachstums. Dafür würde auch ihr erstmaliges Auftauchen im späten 19. Jahrhundert sprechen; immer vorausgesetzt, man hat sie vor 1885 nicht bloß "übersehen".

Stimmt die Hypothese, wären die hübschen Wolkengebilde am nördlichen Sommerhimmel letztlich "vom Menschen gemacht". Womöglich sind sie sogar ein Menetekel - Indiz für ernsthafte Veränderungen in einem weiteren Bereich unserer Lufthülle.

Freitag, 03. Mai 2002

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