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Die tanzenden Polarlichter wurden mit vielen Mythen verwoben

Fackeln am Firmament

Von Christian Pinter

Für die Sami, Bewohner Lapplands, durchdrangen Geister und geheimnisvolle Mächte die Natur. Als Mittler zu den Menschen fungierte der Noaide. Der erste dieser Schamanen, so erzählen die russischen Sami der Kola-Halbinsel, wurde aus Schnee geformt, nachdem der Weltschöpfer mit dem Nordlicht eine Brücke zwischen Himmel und Berggipfeln errichtet hatte. Der so Geschaffene brachte die Schamanentrommel mit. Mit diesem Instrument, das oft auch mit dem Nordlichtsymbol geschmückt war, trommelten sich Noaiden später in Ekstase. Ihr

Geist entwich dann vermeintlich in eine andere Welt, in der man Rat einholen und Hilfe bekommen konnte.

Ob die verschiedenen Mächte gut oder schlecht gesonnen waren, hing auch vom Verhalten der Menschen ihnen gegenüber ab. In einer Sage verfolgte Unglück einen Mann, der Sonne, Mond, Sternen und dem Nordlicht Spottlieder sang. Die Skolt-Sami erblickten im Nordlicht den Tanz der Toten; diese wollten damit den Lebenden leuchten. Einst soll ein alter Mann drei Nordlichtstrahlen eingefangen haben, um seine Hütte zu beleuchten. Das Himmelslicht holte sich die Seelen aber wieder zu-rück.

In einem anderen Sami-Märchen ist das Nordlicht die Gestalt Nainas. Wenn die Sonne im langen Winter machtlos wird, wandert er stolz übers Meer, durchdringt die düstere Nacht mit heiteren Strahlen. Nainas ist gleichzeitig der älteste Bruder der Nordlichter: schöne, starke Krieger, allesamt in silberne Rüstungen gekleidet. Kämpfen sie zum Spaß miteinander, lassen ihre Säbel weiße Funken und purpurrote Blitze zum Himmel springen.

Finnische Sami erzählten, das Zucken eines Fuchsschwanzes zaubere das Nordlicht ans Firmament. Der Ausdruck Revontulet - Fuchsfeuer - ist in Finnland noch immer geläufig. Übrigens nahm auch der urtümliche Gesang der Sami, der Joik, das Nordlicht zum Thema.

Brücke in den Himmel

Für die Inuit Labradors führte eine schmale Brücke hinauf in den Himmel. Der schwierige Pfad stand jenen offen, die freiwillig oder gewaltsam aus dem Leben geschieden waren. Um Neuankömmlingen den Weg zu weisen, entzündeten die Seelen Verstorbener am Firmament helle Fackeln. Dabei spielten sie mit einem Walrossschädel. Das Ballspielmotiv taucht in den Polarlichtlegenden der Inuit - früher "Eskimos" genannt - häufig auf: In Grönland waren es Totgeborene, die mit der Nachgeburt spielten, und auf der Nunivak-Insel vor der Südwestküste Alaskas vergnügten sich geisterhafte Walrösser mit einem Menschenkopf.

Einem anderen Mythos folgend, wollten die Toten über das Nordlicht Verbindung mit den Lebenden aufnehmen oder ihnen damit zumindest Trost in der rauen Polarnacht spenden. Manche Inuit stellten es sich als schönsten aller Himmel vor. Wer etwa auf Jagd oder im Kindbett starb, hatte Chancen, sich im Nordlicht wiederzufinden - eine unbeschwerte Welt ohne Sturm und Schnee, reich an Wild, das leicht zu erlegen war, und immer hell.

Auch hoch droben im Norden lebende Indianer entwickelten Polarlichtmythen. Manche sprachen vom Wababan, dem lichtdurchfluteten Land des Nordlichts. Dort spielten Fremdlinge Ball, trugen Lichter am Kopf und Regenbogengürtel. Andere Indianer hielten die Erscheinung für einen Boten der Geister; rieb man die Hände, begänne er zu singen und zu tanzen. Den Ottawa war das Leuchten Reflexion eines fernen Feuers, mit dem der nach Norden gereiste Schöpfer seine Aufmerksamkeit signalisieren wollte. Manche machten das Feuer eines mächtigen Zwergenstamms, andere die Fackeln freundlicher, fischender Riesen für den Schein verantwortlich.

Bei den Germanen setzte sich Gott Freyr einmal unerlaubt auf Odins Thron, von dem aus er über die ganze Welt schauen konnte. Zur Strafe ließ ihn Odin die Riesin Gerd erblicken, in die sich Freyr sofort verliebte. Als Gerd ihre Arme hob, wurden die im Dunkel liegenden Länder und Meere erleuchtet. Die germanische Mythologie kennt aber auch kriegerische Assoziationen. So sollte das Nordlicht durch Reflexion an den Schilden der Walküren entstehen; diese hatten die Seelen gefallener Krieger nach Walhall zu führen. Nach dem Siegeszug des Christentums waren die Heldenjungfrauen obsolet. Vielleicht hielten sich gedankliche Verbindungen im Volksglauben skandinavischer Länder: Dort sind es alte Jungfrauen, die im Nordlicht schweben, winken oder Feuer machen. Lag eine ältere unverheiratete Frau im Sterben, sagte man, sie ginge bald "zum Nordlicht".

Meist beginnt das nächtliche Schauspiel mit einem eleganten, schmalen Lichtbogen, der sich über den Himmel spannt. Er teilt sich. Die Fragmente bilden Schleifen, die an einigen Stellen wiederum in Büschel feinster Strahlen zerfallen. Diese ziehen übers Firmament, als würden sie sanft vom Wind bewegt. Figuren tanzen übers Himmelszelt. Mitunter strahlen sie kräftig auf; dann nimmt das Auge vor allem grüne, darüber auch schwächere rote Töne wahr.

Ein komplexer Prozess erzeugt die Polarlichter. Sehr kurz gesagt: Elektronen aus dem Sonnenwind werden von der irdischen Magnetosphäre beschleunigt, folgen den Feldlinien des Erdmagnetfelds. Sie dringen in polnahen Gebieten in die Atmosphäre ein. Dort regen sie Sauerstoffatome an: in 500 bis 200 km Höhe zu rotem, in Höhen um 130 km primär zu grünem Leuchten. Vom All aus betrachtet, legen sich dann zwei ovale Lichtwülste um die beiden geomagnetischen Pole.

Hilfreicher Geselle

Der nördliche Ring rotiert im Lauf der Nacht über Regionen Sibiriens, Nordskandinaviens, Kanadas und Alaskas. Für deren Bewohner ist das Lichterspiel somit ein recht vertrauter Anblick, ja sogar ein hilfreicher Geselle beim nächtlichen Jagen oder Wandern. Entsprechend überwiegen positive Bedeutungszuweisungen in den Mythen.

Ganz anders in Mitteleuropa, wo das Phänomen nur im Abstand vieler Jahre auftritt. Nach heftigen Sonneneruptionen schwillt der solare Teilchenstrom nämlich dramatisch an. Dann blähen sich die beiden Lichtwülste gleichsam auf: Der Südrand des nördlichen Gebildes schiebt sich wenige Stunden lang Richtung Mitteleuropa. Kommt er etwa bis Dänemark, guckt der höhere, rote Abschnitt des Polarlichts auch über den österreichischen Horizont. Der tiefere, grüne Bereich bleibt aus unserer Perspektive meist noch von der Erdkrümmung verdeckt. Beim Blick nach Norden glüht das Firmament deshalb feuerrot bis blutrot auf. Österreicher konnten dies zuletzt eindrucksvoll in der Nacht vom 6. zum 7. April 2000 miterleben.

Kein Wunder, dass Menschen unserer Breiten früher höchst furchtsam auf das Schauspiel reagierten. Zunächst liefen sie zusammen, um die vermeintliche Feuersbrunst im Nachbardorf zu löschen: So beschreibt es schon der Schweizer Conrad Gessner in seinem Bericht vom Jänner 1561. Bald sahen die Aufgeregten jedoch, dass der Brand nicht auf Erden, sondern vermeintlich im Himmel tobte - ebenfalls keine beruhigende Vorstellung. Bibelkundige fühlten sich vielleicht an die Vision von Jahwes Thronwagen im Buch Ezechiel erinnert: "Ich schaute, und siehe, ein Sturmwind kam vom Norden und eine große Wolke, rings von Lichtglanz umgeben, und loderndes Feuer, und in seinem Innern, aus der Mitte des Feuers, leuchtete es hervor wie Glanzerz."

Vorboten der Endzeit

Ovid lässt in seinen Metamorphosen vor Cäsars Ermordung "dicht an den Gestirnen Fackeln brennen"; auch später galt das Nordlicht als Omen nahen Fürstentods. Es soll etwa das Ende des Augustus oder Ottos des Großen angezeigt haben. Doch meist wurde es als Menetekel betrachtet, das alle anging. Die Bibel hatte mehrmals Zeichen am Himmel als Vorboten der Endzeit beschrieben. Ein scheinbar in Brand stehendes Himmelszelt musste auch deshalb Weltuntergangsstimmung auslösen.

Im 16. Jahrhundert hielten Flugblätter solche Erscheinungen und die Reaktionen der Betrachter in Wort und Bild fest. Ein Druck von 1570 spricht von einem "unerhörten Wunderzeichen" über Böhmen; er illustriert das Geschehen mit dichten Wolken, aus denen brennende Kerzen ragen. Als zehn Jahre später "ein gros und sehr erschröcklichs Wunderzeychen" über Augsburg leuchtete, wollte das Firmament

gar "Feuerflammen geben": Oft fürchteten Beobachter, der Himmelsbrand könnte auf die Erde übergreifen.

Nachträglich interpretierte man das Gesehene als Mahnung zu Einkehr und Buße. "Gott treu und gut ins Fenster hat gesteckt die Rut", warnt ein Blatt von 1580 - bevor er die Bosheit samt den ihr anhängenden Menschen austilge. Um Strafe und Pein abzuwenden, sollte man um sanftmütige Vergebung bitten.

Manche meinten, Erzengel Michael kämpfe mit Feuer gegen das Satansheer. Tatsächlich erblickten Menschen im Mittelalter immer wieder Militärisches am Firmament: feurige Pfeile, Speere und Schwerter, Burgen und Festungen, Reiter oder ganze Armeen. Die Angst vor Kriegsgräuel ließ sie das rote Leuchten als Vorzeichen irdischen Blutvergießens deuten.

Selbst in "Wallensteins Lager" von Schiller hängt der Herrgott noch "aus den Wolken blutig rot . . . den Kriegsmantel 'runter". Oft genug folgte einem solchen Anblick tatsächlich Krieg: etwa der Deutsch-Französische von 1870 oder der Zweite Weltkrieg, dem ein überaus dramatisches Nordlicht Anfang 1938 "voranging".

Freilich gab es spätestens seit dem 13. Jahrhundert auch Versuche, die Himmelslichter ohne Rückgriff auf übersinnliche Mächte zu erklären. Aus heutiger Sicht muten sie naiv an, geradezu wie "wissenschaftliche Mythen". Für nordische Fischer entstand das Licht durch gewaltige Insektenschwärme oder durch die Spiegelung an Heringen im Meer. Andere Quellen sprachen vom Widerschein kräftiger irdischer Flammen am Himmel: Diese sollten von Vulkanen oder einem lodernden, die Erde umschließenden Feuer stammen.

Man führte angebliche Reflexe an den Eismassen des Nordmeers ins Treffen oder machte Kollisionen ferner Eisberge verantwortlich. Später hielt man die Lichter für bizarre Figuren aus gefrorenem Wasserdampf, die bloß Sonnen- und Mondlicht zur Erde warfen, erklärte sie mit dem Zusammenstoß eiskalter Wolken oder machte eine nördliche, winterliche Spielart des Gewitters daraus.

Selbst Galileo Galilei irrte. Für ihn stieg bloß irdischer Dunst gelegentlich so hoch auf, dass er von Sonnenstrahlen getroffen würde. Der Italiener zog somit eine falsche Parallele zur Dämmerung, bei der Luftpartikel tatsächlich Sonnenlicht in den dunklen Erdschatten streuen.

Die alten Römer hatten die Morgenröte einst nach ihrer Göttin Aurora getauft. So prägte Galilei 1619 den Namen "Aurora borealis" - lateinisch eigentlich "nördliche Morgenröte". Später reichten Seefahrer Beschreibungen einer ähnlichen Erscheinung am Südhimmel nach, bald "Aurora australis" (lat. australis: südlich) genannt.

Der Name "Aurora" ist dem Lichterspiel geblieben. Die einstigen Mythen braucht man hingegen nicht mehr, um es zu verstehen. Das Phänomen ist im Wesentlichen erforscht. Dennoch bleibt ein Paradoxon: Frühe Beobachter sprachen oft von Geräuschen, die das Leuchten begleiten sollten.

Sie meinten dann zum Beispiel, Geister würden über gefrorenen Schnee laufen. Selbst aus jüngerer Zeit liegen Berichte über "Knistern" oder "Zischen" vor. Einige stammen sogar von geübten Himmelsbeobachtern. Nur: tiefer als 70 km leuchtet das Polarlicht nie. Und selbst dort ist die Luft zu dünn, um Schall zu transportieren. Die Geräusche müssten deshalb im oder sehr nahe am Betrachter entstehen.

Der letzte Mythos

Die Aurora induziert Strom in Überlandleitungen und Pipelines. Manche Autoren spekulieren daher mit elektrischen Entladungen des Bodens, um speziell das Knistern zu erklären. Sie produziert zudem niederfrequente Funkwellen. Besonders starke könnten, so eine andere Hypothese, von bestimmten Gegenständen in Schallwellen verwandelt werden. Leider tritt das alles offenbar nur extrem selten und unregelmäßig auf. Tonaufnahmen gibt es bislang keine.

Sinnestäuschung ist daher nicht völlig auszuschließen. Im Alltag werden schnelle Bewegungen oft von Schallentwicklung begleitet. Vielleicht gaukelt menschliche Wahrnehmung die akustischen Eindrücke nur vor, wenn die Aurora rasch über den Himmel zieht. Vielleicht verquicken gebannte Betrachter dann auch ganz gewöhnliche, sonst unbeachtete Umweltgeräusche mit dem Lichterspiel. Wenn tatsächlich Illusion, wäre der "Schall des Polarlichts" ebenfalls bloß ein Mythos - der letzte, der bis heute überlebt hat.

Freitag, 08. März 2002

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