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Der gescheiterte Flug zum Mars erinnert an das nukleare
Vermächtnis und die unsichere Zukunft der russischen Raumfahrt

Gagarins schwieriges Erbe

Von Christian Pinter

Die Bewohner Australiens eilten gerade zur Arbeit, als der Premierminister die
Warnung durchgab. Wer immer Teile des russischen Raumfahrzeugs finden sollte, dürfe
diese keinesfalls berühren. Mars 96 befand sich in kritischem Orbit - viel zu tief und viel
zu lange.


Präsident Clinton bot persönlich die Unterstützung von US-Experten beim Bergen
radioaktiver Trümmer an. Doch die trudelnde Sonde, die wegen eines Fehlers der
vierten Stufe nicht auf Bahn zum Mars geschickt werden konnte, hielt sich ein paar
Minuten länger als befürchtet im Erdorbit und verglühte weiter östlich über dem
Pazifik. Widerstandsfähige Komponenten, darunter vier Kapseln mit Plutonium, dürften
dem feurigen Schicksal entgangen sein. Sie schlugen zwischen Osterinseln und
chilenischer Küste in den Ozean.


Versunkene Visionen Mit Mars 96 hatten die Russen ein ehrgeiziges Projekt verfolgt.
Man wollte die beiden amerikanischen Sonden Global Surveyor, gestartet am 7.
November, und Pathfinder, der diese Woche folgte, mit einer russischen Riesensonde
begleiten.


Bis zum Rand mit wissenschaftlichen Experimenten gefüllt, hätte das 6 t schwere
Raumfahrzeug das angeschlagene Image der Weltraumgroßmacht wieder aufpolieren
können. Gleich zwölf Instrumente sollten Aufschluß über die Zusammensetzung der
Marsatmosphäre und seiner Oberfläche geben. Drei weitere dienten
astrophysikalischen Untersuchungen.


Mit an Bord waren zwei Landeeinheiten und zwei Penetratoren, die sich beim harten
Aufschlag 6 m tief in den Marsboden bohren sollten. Niemand ahnte, daß sie
stattdessen in den Tiefen des Pazifik verschwinden würden.


Mit Trümmern des Raumschiffs versanken Illusionen, wohldokumentiert auf zwei CDs.
Die Silberscheiben hätten, als Geschenk für künftige Siedler, auf dem Mars deponiert
werden sollen.


Die "Visionen vom Mars" hielten die Gedanken von Jonathan Swift, Percival Lowell, H.
G. Wells, Orson Welles, Isaac Asimov und Carl Sagan fest. Sie umfaßten Texte und
Hörproben von Literaten und Wissenschaftern, die sich im Lauf der Jahrhunderte mit
dem Planeten, seinen vermeintlichen Bewohnern und der menschlichen Zukunft auf dem
Nachbargestirn beschäftigt hatten.


Denn wie kein anderer Planet hat Mars die Menschheit fasziniert. Zwar ist er bei
weitem nicht so erdähnlich, wie man vor Beginn des Raumfahrtzeitalters geglaubt hatte -
doch prägten vor vier Milliarden Jahren Flüsse, Seen und vermutlich auch Ozeane sein
Antlitz.


Als sich erstes Leben auf der Erde regte, besaß auch Mars wärmeres Klima, dichtere
Atmosphäre und Wasser. Möglich, daß auch Leben existierte. Fossile Zeugen eindeutig
nachzuweisen, wäre allein schon Herausforderung genug. Womöglich gibt es aber unter
der Marsoberfläche sogar Nischen, in denen sich Leben bis heute gehalten hat. Leben,
dessen Formen sich von den uns vertrauten deutlich unterscheiden könnten.


Solche Aspekte heben Mars vom toten, atmosphärelosen Mond ab und von der
Venus, die ihrer extrem dichten Atmosphäre wegen einer Gluthölle gleicht.


Als Nachbarplanet ist Mars vergleichsweise leicht zu erreichen. Er eignet sich als
Testgebiet für zukunftsweisende Techniken, zu denen auch der Einsatz von selbständig
agierenden Roboterfahrzeugen zählt. Die NASA nutzte modernste Technologie und
entschied sich zum Bau kleiner, "abgespeckt" wirkender Sonden. Sie kosten nur einen
Bruchteil jener Summen, mit denen frühere Marsmissionen den Steuerzahler belasteten.


Der legendenumwobene Mars könnte die öffentliche Begeisterung für die mittlerweile
stark kommerziell orientierte Raumfahrt wiederbeleben. Man sucht nach Wasser, denkt
an Siedlungen, die sich selbst versorgen können und träumt davon, Mars mittels
"Terraforming" in einen erdähnlicheren Planeten umzuwandeln. Mars ist nach dem
Mond das nächstmögliche Ziel. Daher sollte sich in den nächsten Jahren eine ganze
Armada amerikanischer und russischer Sonden auf den Weg machen.


Wehrhafter Planet


Doch fast scheint es, als würde sich Mars zur Wehr setzen. Von zwei Dutzend
Marsmissionen erreichte die Hälfte ihr Ziel nicht oder lieferte nur einen Bruchteil der
erhofften Daten.


Die Pechsträhne begann bereits mit der ersten Marssonde, die die Sowjets am 10.
Oktober 1960 starteten. Die Rakete zerbarst drei Minuten nach dem Start. Das
Schwesterschiff scheiterte vier Tage später. Den ersten vollen Erfolg erzielten die
Amerikaner 1965 mit Mariner 4.


Den bisher unübertroffenen Höhepunkt der Marserkundung bildeten die beiden
US-Vikings. Sie landeten 1976, sandten Panoramabilder und Wetterdaten zur Erde.


Beim bislang letzten Marsbesuch einer Sonde im August 1993 brach der Funkkontakt
ab, als der amerikanische Mars Observer gerade in die Umlaufbahn einschwenken
sollte. Zuvor scheiterten die sowjetischen Sonden Phobos 1 und Phobos 2 nach Soft-
und Hardware-Fehlern. Für die Russen ist der Absturz von Mars 96 damit bereits das
dritte Marsdebakel in Folge.


Nuklearbatterien


In der Regel sind Satellitenabstürze ungefährlich. Alle paar Wochen kommt es zum
Verglühen eines meist ausgedienten Satelliten, einer Raketenstufe oder einer
weggesprengten Abdeckung. Die Lufthülle reicht weit ins All hinaus, bremst alle
künstlichen Begleiter stetig ab. Sie fallen daher auf zunehmend niedrigere Bahnen, wo
sie mit noch mehr Atomen kollidieren. Am Ende schaukelt sich dieser Prozeß rasant
auf.


Die meisten Satelliten sind zerbrechlich genug, um innerhalb weniger Sekunden
vollständig zu verglühen. Nur kompakte Strukturen wie die Raumstationen Skylab und
Saljut 7 oder besonders massiv gebaute Komponenten überleben den Höllenflug und
schlagen am Erdboden auf.


Im Gegensatz zu Erdsatelliten kreisen interplanetare Raumfahrzeuge wie die beiden
Voyagers, die Marssonden Viking, die Venussonde Magellan, oder die derzeit aktive
Jupitersonde Galileo nur kurze Zeit um die Erde. Bald zünden die Motoren, um sie in
Richtung ihres Zielplaneten zu schicken. Ihre Schaltkreise benötigen 300 bis 1.500
Watt Energie, die theoretisch zunächst mit Solarzellen gewonnen werden kann. Eine
einzelne, 6 cm große Siliziumscheibe produziert ein Viertel Watt. Der Zusammenschluß
vieler hundert Zellen ergibt leistungsstarke Sonnenflügel, deren Handhabung mit
zunehmender Spannweite freilich immer schwieriger wird. Leider nimmt die solare
Strahlung mit dem Quadrat zur Sonnenentfernung ab. Die Leistung der Solarzellen läßt
bei Flügen ins äußere Sonnensystem rapide nach.


Während sich die Venussonde Magellan buchstäblich im Sonnenlicht baden konnte,
segeln die Pioneers, die Voyagers oder Galileo durch die Dunkelheit des äußeren
Planetensystems. Daher wurden diese US-Roboter nicht mit Sonnenzellen, sondern mit
Nuklearbatterien ausgestattet. Die sogenannten "RTGs" bestehen aus Plutoniumoxid,
das beim radioaktiven Zerfall Wärme erzeugt. Sie wird direkt in elektrischen Strom
umgewandelt.


In typischer Marsentfernung registriert man noch etwa 40 Prozent der uns vertrauten
Sonnenstrahlung. Daher können, je nach Energiebedarf der Sonde, beide Techniken
zum Einsatz kommen. Für Geräte mit geringem Energieverbrauch wie Phobos, Mars
Observer, Global Surveyor oder Pathfinder reichen Solarzellen. Für die beiden Vikings
wählte man RTGs. So kommt es, daß nuklearer Müll bereits seit 1976 auf dem Mars
liegt - obwohl Menschen den Planeten wohl kaum vor dem Jahr 2015 betreten werden.


Die Riesensonde Mars 96 deckte ihren Energiehaushalt mit 200 Gramm Plutonium.
Ebenso wie die gehärteten Penetratoren blieben die RTGs beim Wiedereintritt
wahrscheinlich intakt. Sie dürften in 6.000 m Tiefe am Ozeanboden liegen. Rasches
Verglühen hätte das radioaktive Material in der Hochatmosphäre verteilt. Wären sie
knapp über dem Erdboden geschmolzen, hätte das Plutonium hingegen Teile der
Oberfläche verseucht.


Damoklesschwerter


Die ehemalige Sowjetunion hat auch im All ein nukleares Vermächtnis hinterlassen.
Zwischen 1967 und 1988 wurden mindestens 33 Satelliten nicht bloß mit RTGs,
sondern mit richtigen Atomreaktoren ins All befördert. Diese lieferten jeweils 2.000
Watt Energie für den Betrieb der fliegenden Radaranlagen, die NATO-und
US-Seemanöver beobachteten.


Um hohe Auflösung zu erzielen, wählte man sehr niedrige Bahnen in nur 200 km Höhe.
Nach zwei- bis viermonatiger Spionagetätigkeit hob eine Entsorgungsstufe den Reaktor
in einen höheren Orbit. 900 km Erddistanz sollten reichen, die aufs Eis gelegten
Agenten 600 Jahre lang vor dem Absturz zu bewahren.


Doch diese Technik funktionierte nicht immer.


Im Jänner 1978 stürzte Kosmos 954 ab. Angereichertes Uran zog eine gefährliche,
Hunderte Kilometer lange Spur durch Kanada. Kanadische und amerikanische
Spezialisten suchten das kontaminierte Gebiet ab. Die UdSSR zahlte nach langem
Zögern einen Teil der enormen Bergungskosten. Als Konsequenz des peinlichen
Zwischenfalls ersann man eine Automatik, die den Reaktor beim Versagen der
Entsorgungsstufe auswerfen sollte. Dermaßen freigelegt konnten seine Teile im Notfall
rascher verglühen, radioaktiver Müll noch in der Hochatmosphäre verteilt und politische
Verwicklungen vermieden werden.


So stürzten 1983 Reaktorkern und -mantel des Kosmos 1402 über dem Indischen
Ozean und dem Südatlantik ab. Kosmos 1900 geriet auf eine zu niedrige
Entsorgungsbahn und bleibt dort nur 100 Jahre geparkt. 200 km über ihm ziehen
mehrere ausgeworfene Atomreaktoren wie Damoklesschwerter um die Erde.


Harro Zimmer zieht in seinem jüngst erschienen Buch "Der rote Orbit" Bilanz. Demnach
sollen in über 900 km Höhe fast 1 t hochgradig angereichertes Uran, 15 t strahlendes
Material und zehntausend Tropfen aus Reaktorkühlmittel mit Durchmessern von 0,5 bis
2 cm kreisen.


Doch obwohl es auch zwei Startkatastrophen mit radioaktivem Material gegeben haben
soll, wurden immer weitere Atommeiler gebaut.


Ein geplanter 150.000 Watt starker Reaktor galt offiziell als Energieversorger für eine
russische Marsmission. In Wahrheit dürfte er zum Betrieb lasergestützter
Satellitenabwehrwaffen entwickelt worden sein.


Harro Zimmer: "Eine weiterhin stabile UdSSR hätte bis zum Ende dieses
Jahrtausends massiv Nukleartechnik in den Orbit gebracht, mit kaum
kalkulierbaren Folgen. Heute ist man sich in West und Ost einig, daß der Einsatz
von Nuklearbatterien oder Kernreaktoren in der Raumfahrt extrem restriktiv
gehandhabt werden muß. Nicht nur die öffentliche Meinung ist extrem
sensibilisiert".


Das zeigte sich schon 1989 in den USA, als Galileo mit Plutoniumbatterien starten
sollte. Die NASA verwies zwar auf die extrem stabile Ummantelung der RTGs, doch
nach der Challenger-Explosion schenkten Bewohner Floridas solchen
Sicherheitsbeteuerungen wenig Glauben. Sie bemühten vergeblich die Gerichte.


Die nächste Kraftprobe ist aber schon vorprogrammiert. Im Oktober 1997 wird die
US-Sonde Cassini mit dem ESA-Roboter Huygens zum Saturn aufbrechen. Sein
Energieverbrauch von 630 Watt wird ebenfalls mit Plutonium gedeckt.


Verbitterung


Der Absturz der Marssonde gilt als schwerer Rückschlag für die russische Raumfahrt.
Jahrelange Vorbereitung, Investitionen in Höhe von 14 Mrd. Schilling - darunter 7
Millionen aus Österreich - und ein nicht quantifizierbares Maß an Vertrauen versanken
vor der chilenischen Küste.


Zwei Jahre lang war der Start aus budgetären Gründen verschoben worden. Noch im
Sommer schien es ungewiß, ob Mars 96 überhaupt abheben würde. Die russische
Raumfahrt, die das alleinige Vermächtnis der ehemaligen Sowjetunion trägt, befindet
sich in schwerer Krise.


Erfolgreiche Erkundungsflüge im Planetensystem, wie die beiden Vega-Missionen zum
Kometen Halley, liegen zehn Jahre zurück. Buran, Zwillingsbruder des Space-Shuttle,
brachte es nur zu einem unbemannten Testflug.


Gäbe es die erfolgreichen MIR-Kosmonauten nicht, die ihren US-Kollegen im All die
Hand reichen, wäre der Glanz der russischen Raumfahrt längst Geschichte.


Freilich - Pannen unterlaufen jeder Weltraummacht. Die ESA verlor am 6. Juni 1996
bei der Explosion der Ariane V vier Forschungssonden. Die NASA mußte am 4.
November nach Problemen mit einer Raketenstufe zwei Satelliten abschreiben.


Doch in einem Land, in dem Bürger monatelang auf ihre Löhne warten, führen teure
Fehlschläge zu besonderer Verbitterung. Die Marserkundung bildete den Schwerpunkt
des interplanetaren Forschungsprogramms, in dem die Sonde Mars 96 wichtiger
Eckstein sein sollte. Nun steht nicht nur die nächste Marsmission, sondern das gesamte
Marsprogramm auf Messers Schneide. Ohne dieses aber würde sich Rußland von der
Erforschung des Planetensystems praktisch völlig verabschieden.


In Moskau befürchtet man bereits, durch den möglichen Vertrauensverlust endgültig aus
dem Rennen geworfen zu werden. An der Riesensonde Mars 96 hatten immerhin 22
Staaten mitgearbeitet, die ihre Ausgaben nun in den Wind schreiben können.


Entscheidend wird die Bereitschaft westlicher Nationen sein, sich trotz des Rückschlags
weiterhin an russischen Missionen zu beteiligen, Kooperationsprojekte zu forcieren.
Denn nur auf die eigene Kraft gestützt, werden Gagarins Erben Mars nicht anvisieren.
Die Zukunft der russischen Raumfahrt hängt damit paradoxerweise vom Westen ab.

Montag, 31. März 1997

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