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Der verträumte Ritter

Cervantes: Vor 400 Jahren erschien der "Don Quijote" zum ersten Mal

Der edle Don und sein Diener Sancho, gezeichnet von Grandville im Jahr 1848. Bild aus: Don Quijote, übersetzt von Ludwig Braunfels, dtv München, 1979.

Der edle Don und sein Diener Sancho, gezeichnet von Grandville im Jahr 1848. Bild aus: Don Quijote, übersetzt von Ludwig Braunfels, dtv München, 1979.

Von Birgit Schwaner

Müßiger Leser. – Ohne Schwur magst du mir glauben, dass ich wünsche, dieses Buch, das Kind meines Gehirns, wäre das schönste, lieblichste und verständigste, das man sich nur vorstellen kann. Ich habe aber unmöglich dem Gesetz der Natur zuwider handeln können, dass jedes Wesen sein Ähnliches hervorbringt. Was konnte also mein unfruchtbarer, ungebildeter Geist anders erzeugen, als die Geschichte eines dürren und welken Sohnes, der wunderlich und voll seltsamer Gedanken ist, die vorher noch niemand beigefallen sind . . .?"

Dieser Anfang eines Prologs wurde vielleicht im Jahr 1592, wahrscheinlich aber fünf Jahre später geschrieben, und zwar an einem denkbar unwirtlichen Ort: im Gefängnis von Sevilla. Sein – hier rhetorisch aufs Geschickteste untertreibender – Autor war nicht mehr der Jüngste. Miguel de Cervantes Saavedra, im Herbst 1547 in Alcalá de Henares (Neukastilien) geboren, einst vielversprechender, junger Dichter, dann Soldat in der Schlacht von Lepanto, christlicher Sklave in Algier, Kommissar und Steuereintreiber, war zwischen 45 und 50 Jahre alt, als er seinen "Don Quijote" zu schreiben begann. Er hat ein bewegtes Leben hinter sich, eine temperamentvolle Familie zur Seite, und was das Schreiben angeht, erste Erfolge als Theaterschriftsteller erfahren. Auch einen Schäferroman hat er bereits veröffentlicht: "La Galatea" erschien 1585. Und der Sieg beim Dichterwettbewerb zu Ehren des heiligen Hyazinthus brachte ihm 1595 in Saragossa drei silberne Löffel ein.

Der wunderliche Ritter

Aber wäre er – wie Anton Dietrich, einer seiner zahllosen Biographen, vermutet – nicht ins Gefängnis gekommen, hätten wir wohl nie von Cervantes gehört. Hätte man den königlichen Kommissar nicht fälschlicherweise des Betrugs bezichtigt, für einige Monate zum Häftling gemacht und als "Schuldner" zu privilegierten Bedingungen gefangen gehalten, wäre in den letzten 400 Jahren vielleicht weniger gelacht worden. Die Leser hätten auf eine der tragikomischsten, verrücktesten und menschlichsten literarischen Figuren verzichten müssen. Die Künstler unter den Lesern, die Maler-, Musiker-, SchriftstellerInnen wären um eine profunde Anregung ärmer. Und wir wiederum um all die Werke, die im Gefolge des wunderlichen Ritters entstanden, der seit 400 Jahren landauf, landab zieht. Er ist ein wahrhafter Abenteurer im Reich menschlicher Verblendung, in seiner Torheit ein Weiser, in seinem Elend ein romantischer Held – und vieles mehr. Diese Kunstfigur ist oft beschrieben, interpretiert, kritisiert, verherrlicht, herbeizitiert und immer wieder neu geschaffen worden. Sie ist bereits zur Projektionsfläche geworden, zum Spiegel der unterschiedlichsten Ansichten, Erfahrungen und Gedanken.

Dennoch: noch einmal Licht an und Vorhang auf für Don Quijote! Den berühmten "Ritter von der traurigen Gestalt", der zeigt, was es bedeutet, dass "der Mensch" Illusionen braucht, um handeln zu können, und der damit wohl auch seinen Schöpfer erstaunte. Miguel de Cervantes, der sein Meisterwerk "El Ingenioso Hidalgo de Don Quijote de la Mancha" im Gefängnis begann und der im Jänner 1605 den ersten Teil veröffentlichte, mag ursprünglich nur vorgehabt haben, eine Satire auf die seinerzeit beliebten "Ritterromane" zu schreiben. In diesen wird in der Regel erzählt, wie ein stets siegreicher, edelmütiger, glänzender und natürlich äußerst blaublütiger Recke mithilfe von Schwert und christlichem Glauben eine Prüfung nach der anderen besteht. Er schlägt sich, tötet böse Zauberer und rettet Jungfrauen im Namen einer verehrten, so schönen wie unerreichbaren Dame, der er in keuscher Liebe treu ergeben ist. Eine solche Konzeption würden wir heute – falls es sich bei ihrer Ausführung nicht um Literatur, also eine mehrschichtig deutbare Erzählung handelt – getrost als Kitsch bezeichnen.

Don Quijote nun, der arme Landedelmann aus der Mancha, ist ein großer Fan der Ritterromane. Seine Begeisterung geht so weit, dass er die Fiktion zum Muster der Wirklichkeit macht. Mit anderen Worten: er nimmt ernst, was er liest, identifiziert sich mit den Helden seiner Bücher und hält sich selbst für einen bedeutenden, fahrenden Ritter. Er beschließt also, auszuziehen und das Böse zu bekämpfen. Was ihm auf seiner Reise begegnet, betrachtet er als Prüfung. Nach idealer Rittermanier ist er entschlossen, jede Frau, ob Bäuerin oder Hure, als hilfloses Edelfräulein zu betrachten und ungefragt jedem zu helfen, den er in Bedrängnis wähnt.

Ideal und Wirklichkeit

Don Quijotes hartnäckige Verwechslung von Ideal und Wirklichkeit ist die grundlegende Idee des Buches, das übrigens als der erste abendländische Roman gilt. Das Missverhältnis zwischen der Welt in seinem Kopf und der außerhalb zeigt sich bereits im physischen Erscheinungsbild des Ritters, von seinen materiellen Verhältnissen ganz zu schweigen. Cervantes beginnt die Geschichte dieses ehrbaren Narren mit einem Hinweis auf dessen relative Armut (hier in der Übersetzung von Ludwig Tieck):

"In einem Dorfe von La Mancha, auf dessen Namen ich mich nicht entsinnen kann, lebte unlängst ein Edler, der eine Lanze und einen alten Schild besaß, einen dürren Klepper und einen Jagdhund. Eine Olla, mehr von Rind- als Hammelfleisch, des Abends gewöhnlich kalte Küche, des Sonnabends arme Ritter und Freitags Linsen, Sonntags aber einige gebratene Tauben zur Zugabe verzehrten drei Vierteile seiner Einnahme."

Er ist um die Fünfzig, bei ihm leben noch eine Haushälterin und eine junge Nichte, die sich um ihn sorgen. Sein Aussehen wird als "hager" und "mit dürrem Gesichte" beschrieben, seine Beine sind sehr lang und sehr behaart. Seine Kleidung ist alt, befleckt und zusammengestoppelt.

Don Quijotes Begeisterung für das Lesen, schreibt Cervantes, "verwickelte ihn so, dass er die Nächte damit zubrachte weiter und weiter, und die Tage, sich tiefer und tiefer hineinzulesen; und so kam es vom wenigen Schlafen und vielen Lesen, dass sein Gehirn ausgetrocknet wurde, wodurch er den Verstand verlor." Er bastelt sich also aus Pappe einen Helm und sattelt seinen mageren, alten Klepper, um auszuziehen, die Welt zu retten. Vorher hat er noch seinen Namen – der Quijada oder Queseda lautet – standesgemäß in Don Quijote geändert und sein Pferd Rosinante getauft. Nach einem ersten missglückten Ausritt überredet er seinen bäuerlichen Nachbarn, als Knappe mitzukommen. Sancho Pansa, klein und rund, begleitet fortan seinen "Herrn" auf dem Esel. Sancho ist die bodenständige Ergänzung zum fahrenden Phantasten. Wird Don Quijote von der Sehnsucht nach Ruhm, Ehre und immateriellen Gütern angetrieben, so strebt Sancho vor allem weltliche Erleichterung an: gutes Essen, Reichtum und die Statthalterschaft einer Insel. Auch er ist auf seine Weise verblendet, klug und töricht zugleich, und seinem Herrn auf rührende Weise zugetan.

Die Abenteuer der beiden enden je nach Blickwinkel komisch oder grausam. Der erste Teil des Buches wurde sofort ein ungeheurer Erfolg. Bald gehörte der noch heute sprichwörtliche Kampf Don Quijotes gegen "dreißig bis vierzig Windmühlen" , die er für Riesen hält, zu den beliebtesten Episoden. Man findet sie im 8. Kapitel, und sie ist das erste Abenteuer, bei dem Don Quijote von Sancho begleitet wird. Dessen Einwand, es handle sich bei den Windmühlen keinesfalls um Riesen, wehrt Don Quijote mit der Bemerkung ab, Sancho wisse noch nichts von Abenteuern. Und schon prescht er den Mühlen entgegen, jedenfalls, soweit der klapprige Rosinante dazu gewillt ist, und ruft ihnen laut entgegen: "Entflieht nicht, ihr feigherzigen und niederträchtigen Kreaturen! Ein einziger Ritter ist es, der euch die Stirn bietet." Es kommt wie es kommen muss: der Wind nimmt zu, und die sich drehenden Flügel der ersten Mühle zerbrechen Quijotes Lanze und schleudern ihn mitsamt seinem Pferd weit übers Feld zurück, wo er reglos liegenbleibt, bis Sancho eintrifft. Wie später noch oft, hat er den sonderbaren Kampf aus sicherer Entfernung beobachtet.

Grausamkeiten

Es ist nicht das erste und schon gar nicht das letzte Mal, dass der "Mann aus la Mancha" Prügel bezieht. Es ist vielmehr die Regel, dass er für seine "Abenteuer" mit körperlichem Schaden bezahlt. Er wird geschlagen, man verspottet ihn, nutzt seine närrische Sanftmut aus, und dies in einer Unbefangenheit, die zumindest die Leser späterer, feinfühligerer Jahrhunderte irritierte. Bereits die vergleichsweise harmlose Windmühlenepisode ist nur dann ganz zum Lachen, wenn man sich aus purer Schadenfreude amüsieren kann.

Vladimir Nabokov, der zu Beginn der fünfziger Jahre in Harvard eine Vorlesungsreihe über den "Don Quijote" hielt, bezeichnet die beiden Teile des Buches sogar als "Folterkammer" und "veritable Enzyklopädie der Grausamkeit", ja, "als eines der furchtbarsten und barbarischsten Bücher, die je geschrieben wurden". Doch fügt er hinzu: "Und seine Grausamkeit ist überdies auch noch künstlerisch gemeistert."

Anschließend zählt Nabokov einige Torturen auf, die Don Quijote innerhalb eines Tages und einer Nacht erleidet: "(1) Prügel mit Tragstöcken, (2) in der Schenke einen Fausthieb in die Kinnbacken, (3) weitere Schläge im Finstern, (4) einen Hieb mit der eisernen Öllampe auf den Schädel. Und der darauffolgende Tag beginnt sehr hübsch mit dem Verlust fast aller Zähne, als unser Don von ein paar Schafhirten gesteinigt wird."

Immerhin übersteht Don Quijote auch die ärgsten Blessuren wie ein Stehaufmännchen und geht aus jedem Zusammenprall mit der der allzu realistischen Schadenfreude und Gewaltbereitschaft seiner Mitmenschen als Bewahrer seiner Ideale hervor. Dieser märchenhafte Aspekt der seelischen Unverwundbarkeit, der stets sich wieder erneuernden Euphorie, mag ein Grund dafür sein, dass der "Don Quijote" trotz seiner Grausamkeit als eines der großen humoristischen Werke gilt.

Doch es gibt viele Möglichkeiten, das Buch zu lesen. Denn es handelt sich beim Original mitnichten um eine stringente Erzählung; vielmehr hat Cervantes dem Zeitgeschmack entsprechend immer wieder kürzere Geschichten, so genannte "novelas" eingebaut, die mit den Erlebnissen von Don Quijote und Sancho Pansa kaum etwas oder nichts zu tun haben.

Dies ist nur eines von mehreren strukturierenden Elementen, zu denen auch Sanchos reicher Vorrat an Sprichwörtern gehört, wie Wortspiele, Bruchstücke alter Balladen und anderes mehr. Vladimir Nabokov, der Cervantes’ Hauptwerk mit dem kritischen Blick des Schriftstellerkollegen interpretierte, hat unter anderem eine Schwäche in der Landschaftsbeschreibung konstatiert, hingegen die gelungenen Dialoge gelobt. Zutreffend ist sicher Nabokovs Feststellung, dass die Figur des Don Quijote "größer" sei als das Buch, dem sie entstieg. Man kann hinzufügen: nicht nur "größer", sondern auch weniger zeitgebunden.

Der zur Liebe und zur Verklärung einer grausamen Welt entschlossene Junker passte sich den Jahrhunderten an. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts porträtierte Cervantes anhand der Abenteuer Don Quijotes die damalige spanische Gesellschaft. Nicht wenige der zwei- bis dreihundert im Buch auftauchenden Personen könnten Porträts von Menschen sein, denen Cervantes als Steuereinnehmer auf seinen Reisen begegnete.

Doch Cervantes fühlte sich missverstanden, als nach dem Erfolg seines "Don Quijote" ein von seinem Zeitgenossen Alonso Fernández de Avellaneda schlecht gefälschter zweiter Teil erschien und ebenso erfolgreich war – obwohl er sich vornehmlich auf grobe und grobgezimmerte Späße verließ. Als Cervantes daraufhin selbst einen zweiten Teil veröffentlichte (1615, ein Jahr vor seinem Tod), ließ er Don Quijote und Sancho Pansa als Prominente durchs Land reiten, die bereits den Ruhm ihrer veröffentlichten Geschichten genießen. Er fügt also dem Verwirrspiel des ersten Teiles noch eine weitere, verwirrende Ebene hinzu.

Das moderne Individuum

Für die europäischen Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts wurde der traurige Ritter zum Inbegriff des modernen Individuums, das im vergeblichen und doch rührend unbeirrten Kampf um seine Ideale durch die Welt stolpert. Oder man verstand den Don mit seinem letztlich aussichtslosen Kampf für seine Phantasie und seine Ideen als Künstler.

Wie würde ein aktueller Don Quijote auftreten? Als unzeitgemäßer Heiliger oder von einem wohlgenährten Mäzen begleitet? Frei nach Arno Schmidt, der überlegte, ob es nicht besser wäre, Sancho Pansa zum reichen Mann zu machen, der für alles zahlen müsste. Oder wäre Quijote, wie bei Kathy Acker, eine Frau, die in befreiendem Wahnsinn vorhat, sich in der Abtreibungsklinik zum Ritter der Nacht schlagen zu lassen? Wem müsste der gegenwärtige, närrische Ritter heutzutage standhalten? Welchen Schlägen und Konsumattacken? Eines scheint sicher: Er wird’s überleben.

Literatur:

– Anton Dietrich: Cervantes, Rowohlt-Monografie, Reinbek 1984.

– Vladimir Nabokow: Die Kunst des Lesens. Cervantes’ "Don Quijote". Herausgegeben von Fredson Bowers. Mit einem Vorwort von Guy Davenport. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Polakovics, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1983.

– Christoph Strosetzki: Miguel de Cervantes. Epoche – Werk – Wirkung, C. H. Beck Verlag, München 1991.

Freitag, 29. April 2005

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