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Erika Mitterer über den Umgang mit Nazis und deren Mitläufern

Mitterer, Erika: Nicht Rache, nur Liebe

Erika Mitterer mit Mann und Kindern in den Nachkriegsjahren. Foto aus: Petrowsky/Sela: Erika Mitterer, Das gesamte lyrische Werk, Bd. 2, 2001.

Erika Mitterer mit Mann und Kindern in den Nachkriegsjahren. Foto aus: Petrowsky/Sela: Erika Mitterer, Das gesamte lyrische Werk, Bd. 2, 2001.

Von Martin G. Petrowsky

Am 15. April 1945 erschien die erste Nummer der "Österreichischen Zeitung" mit dem Untertitel "Frontzeitung für die Bevölkerung Österreichs"; in dieser neuen, nicht der Nazi-Ideologie verpflichteten Publikation wurde die Bevölkerung zur Zusammenarbeit mit den Truppen, die "nicht als Eroberungsarmee, sondern als Befreiungsarmee" in unser Land gekommen seien, aufgefordert.

Wichtigster Appell: "Unterstützt die Rote Armee bei der Dingfestmachung von Hitler-Agenten, Provokateuren, Spionen, Schädlingen und aller der Elemente, die die rascheste Säuberung Österreichs von den Deutschen verhindern und den Maßnahmen der Roten Armee entgegenarbeiten." Weiter hieß es: " Die nationalsozialistische Partei (NSDAP) wird aufgelöst. Die einfachen Mitglieder der nationalsozialistischen Partei werden nicht verfolgt, wenn sie sich den Sowjettruppen gegenüber loyal verhalten." In der Nummer 3 dieser Zeitung vom 27. April wurde die " Pflicht jedes verantwortungsbewussten Österreichers, gegen die Nazi-Agenten, Saboteure usw. einen erbarmungslosen Kampf zu führen, um sie dingfest zu machen" , nochmals in Erinnerung gerufen.

Ruf nach Vergeltung

Schon eine Woche nach Erscheinen der ersten Nummer der "Österreichischen Zeitung" als Sprachrohr der russischen Besatzungsmacht erschien am 23. April erstmals " Das Neue Österreich" (Untertitel: "Organ der demokratischen Einigung" ). Diese Zeitung bemühte sich im Rahmen der von der sowjetischen Zensur eingeschränkten Berichtsfreiheit, Mut zum Wiederaufbau zu machen und die Leserschaft in die Aufarbeitung des Nazi-Traumas einzubeziehen.

Von Beginn an wurden "Arisierer" und "Profiteure" namentlich an den Pranger gestellt; der provisorische Bürgermeister von Wien, Theodor Körner, berichtete über personalpolitische Maßnahmen der Stadt zur Entnazifizierung, und auch in den Wiener Lehranstalten und Hochschulen begann die zügige Säuberung von Nazis. Die "Wiedergutmachung des . . . unter dem abgetretenen Regime begangenen Unrechts, nach dessen Sühne das Rechtsgefühl nicht nur der unmittelbar Betroffenen, sondern weitester Kreise der Bevölkerung stürmisch verlangt", wird zum zentralen Thema des Blattes. In einer Rubrik unter dem Titel "Das Volk ergreift die Initiative" wird dem Ruf nach Rache, Sühne und Vergeltung breiter Raum gegeben.

Ein am 9. Mai beschlossenes Verfassungsgesetz schreibt fest, dass sich alle Nazis ausnahmslos registrieren lassen müssen, und dass jene, die es nicht tun, wegen Betruges mit bis zu fünf Jahren Kerker zu bestrafen seien. Strafbar mache sich aber auch jeder, der sein Wissen über die Parteizugehörigkeit eines anderen den Behörden verschweige.

Es wurde jedoch klar zwischen "einfachen Parteimitgliedern" und "Illegalen bzw. Parteifunktionären" unterschieden. Den Angehörigen der ersten Gruppe sollte, wenn "sie sich das Vertrauen und die Achtung aller Österreicher wie der erwerben" würden, "der Weg, der nach Österreich zurückführt, . . . nicht unbedingt verschlossen bleiben". Die Vertreter der zweiten Gruppe sollten jedoch als Hochverräter streng bestraft werden.

Diese Differenzierung, die der Realität der "Anpassung" eines großen Teils der Bevölkerung Rechnung trug, wurde von vielen Menschen nicht widerspruchslos hingenommen. In Leserbriefen forderte man die Behandlung aller Nazis nach den von ihnen selbst praktizierten Regeln: sie sollten mindestens zu Zwangsarbeit bei den Aufräumungsarbeiten herangezogen werden. Manche Wortmeldungen verstiegen sich aber auch zu Schlussfolgerungen wie die: "Die Nazi haben ihr Lebensrecht verwirkt."

Vor dem Hintergrund dieser drohenden Radikalisierung lassen sich die Aufrufe mancher prominenter Mitbürger zu Besonnenheit und Differenzierung wohl verstehen. Der Kommunist Ernst Fischer schrieb am 20. Juni: " Politik der Rache ist immer schlechte Politik. Was Österreich braucht, ist nicht Rache, sondern die reinigende Gerechtigkeit." Er forderte daher: "Tod den Kriegs- und Nazi-Verbrechern! Gewinnung der einfachen Mitglieder und Mitläufer zu ehrlicher Mitarbeit an einem neuen Österreich!"

Die Dichterin Erika Mitterer ging in ihrem Gedicht "An Österreich" (siehe unten) noch einen Schritt weiter; sie versuchte, die christliche Antwort auf all die schwelenden Fragen in Erinnerung zu rufen.

Alles vergeben?

Dieses Gedicht wurde im Mai 1946 in dem kleinen Band "12 Gedichte 1933–1945" veröffentlicht – und es sorgt bis heute für kontroversielle Diskussionen. Joseph Kalmer lobte im Londoner " Zeitspiegel" die an das befreite Österreich gerichteten, zur Versöhnlichkeit auffordernden Strophen und gelangte zur Überzeugung, dass "die Jahre des Nazismus für die ‚inneren Emigranten‘ nicht verloren waren, sondern zu einer Selbstbesinnung führten, die ein Wechsel auf die Zukunft ist."

Auch der emigrierte Dichter Ernst Waldinger lobte in der "Austro American Tribune" die Tendenz dieser "Inneren Emigrations"-Lyrik: " Erika Mitterers Sympathie mit den Vertriebenen begann . . . mit dem Augenblick, da die Vertreibung anfing, und ist nicht eine Konjunkturangelegenheit, wie sie uns heute gleich widerlich und empörend entgegentritt." Er kritisierte aber ihren "Standpunkt des Alles Verzeihens, ohne zu bemerken, dass dies gleichzeitig ein Standpunkt des Alles Vergessens wäre ". Er befürchtete, Erika Mitterers Aufruf zu " christlicher Nächstenliebe" (eigentlich hätte er schreiben müssen: zu christlicher Feindesliebe ) würde "gewissen Elementen einen höchst willkommenen Mantel" leihen: "Liebe allein aber genügt nicht, ohne die zivilisationsbildende, ethische Kraft der Gerechtigkeit."

Mitterers lyrischer Appell

Die Dichterin, so stellte sie in einem Brief klar, hatte keinesfalls "Liebe" gegen "Gerechtigkeit" ausspielen wollen. Die Ankündigung des Kriegsverbrechergesetzes hätte in ihr den Eindruck erweckt, " als wenn nun jeder Soldat, der nicht desertiert war, als Kriegsverbrecher bestraft werden könnte, weil ja auch er einem sittenwidrigen Befehl gehorcht hatte. " Hass könne nur Böses hervorbringen, "aber Liebe sei nicht gleichbedeutend mit Blindheit..."

Mitterers lyrischer Appell war nicht an die Opfer gerichtet, sondern an all jene, die zwar nicht in der NSDAP gewesen waren, die sich aber durch "Anpassung" und durch Wegschauen das Überleben gesichert hatten: " Wie viele unter uns sind ohne Schuld?"

Der Hinweis auf Shylock, der den Schuldschein zerreißen soll, obwohl er mit seiner Forderung im Recht ist, und die Aufforderung, das Recht auf "Zahn um Zahn" durch Liebe zu ersetzen, offenbart Mitterers große Angst vor neuer Heuchelei, die nicht zur Grundlage einer erneuerten Gesellschaft werden dürfe. Die Sorge einer jungen Sprachwissenschaftlerin, Mitterers Wahl eines "antisemitisch beladenen Bildes" könne zu Missverständnissen führen, scheint aber nur dann begründet, wenn man einzelne Verse des Gedichtes isoliert betrachtet. Eines stimmt jedoch: Erika Mitterer fordert dazu auf, das " nie erfüllte neue Wort " nach zwei Jahrtausenden und nach sieben Jahren unvorstellbar brutaler menschlicher Verirrung endlich ernst zu nehmen; und sie zieht aus dieser Erkenntnis für sich selbst die Konsequenz und wird sich in den folgenden Jahren des Kalten Krieges mit großem persönlichen Einsatz für internationale Versöhnung, einseitige Abrüstung und die Verurteilung jeglicher Gewalt als Mittel der Politik engagieren.

Für welchen Weg hat sich das Nachkriegsösterreich letztlich entschieden? Haben sich die Verfechter einer radikalen Abrechnung mit allen ehemaligen Nationalsozialisten durchgesetzt oder ist der immer wieder erhobene Vorwurf berechtigt, unser Land hätte sich nicht kritisch genug mit den Untaten vieler seiner Bürger auseinandersgesetzt?

Eine detaillierte Betrachtung der politischen und legislativen Maßnahmen lässt den Schluss zu, es sei ein vernünftiger Mittelweg eingeschlagen worden: "Sofort nach Ende des 2. Weltkriegs, noch im Jahr 1945" , so fasst Erich Machu in einer Analyse zusammen, "hat Österreich mit einer Entnazifizierung begonnen, die strenger war als in Deutschland. Von der Gesetzgebung wurden alle Mitglieder der NSDAP erfasst. Ungefähr 100.000 verloren ihre Anstellung im öffentlichen Dienst (Schule und Universität, Justiz, Polizei usw.); Parteifunktionäre ab Kreisleiter aufwärts erhielten automatisch Gefängnisstrafen, auch dann, wenn man ihnen persönlich keine kriminellen Handlungen vorwerfen konnte (außer eben der Mitgliedschaft bei der kriminellen Organisation NSDAP). ‚Illegale‘ Parteimitglieder (Mitglieder vor März 1938, als die NSDAP in Österreich verboten war) mussten Zwangsarbeit leisten. Alle Parteimitglieder verloren ihre politischen Rechte, mussten eine Sühneabgabe leisten, mussten vor Entnazifizierungs-Kommissionen erscheinen; diese fällten 13.600 Schuldsprüche, davon 43 Todesurteile. Zum Vergleich: ähnliche Kommissionen in Deutschland mit rund 7-mal größerer Bevölkerung fällten 6.500 Schuldsprüche, davon 12 Todesurteile."

Rumänische Humanität

Es wurden zwar manche Maßnahmen, z. B. die Dispensierung von Lehrern, die bei der NSDAP gewesen waren, schon nach einigen Monaten zurückgenommen, um ein geordnetes Schulwesen sicherzustellen, generell wurden die Verbots- und Sühnemaßnahmen jedoch erst mit dem Amnestiegesetz des Jahres 1957 aufgehoben. Dass es sich viele der Täter allerdings schon in der Zwischenzeit "richten" konnten, haben der Fall Dr. Gross und die Dokumentation "Der Wille zum aufrechten Gang" leider nur allzu deutlich gemacht.

Und Erika Mitterer – was lernte sie aus der Geschichte? Als im Jahr 1990 der rumänische Diktator Ceaucescu hingerichtet wurde, schrieb sie das Gedicht "Humanität" (siehe Kasten oben.) Geschichte wiederholt sich. Immer wieder. Denn die Menschheit wagt es nicht, das "neue Wort" in der Praxis zu erproben.

Humanität

Den Diktator und seine Frau

haben sie schleunigst hingerichtet:

er sollte nicht mehr befreit werden können.

In Ordnung? – Mit Nachsicht aller Taxen!

Aber zwei Tage später

haben dieselben Leute

die Todesstrafe abgeschafft!

Gab es denn nur zwei Schurken im Land?

Nein. Aber die andern riskierten es nicht,

ebenfalls sterben zu müssen.

An Österreich

O hör die Stimme, welche warnend spricht:

Mit Bösem tilgest du das Böse nicht!

Wer Qual verhängt, wird nicht von Qual befreit.

Gesundet, bist du gegen Hass gefeit.

Es sterbe jeder, der einst Tod verhängte?

Den willst du schlagen, welcher dich bedrängte?

Der soll verhungern, der den Krieg begrüßte,

und keiner sei willkommen, eh er büßte . . . ?

Bevor du richtest, forsche in Geduld:

Wie viele unter uns sind ohne Schuld?

Und fühlst du dich im Recht und weißt dich rein,

zerreiße, Shylock, dennoch deinen Schein!

Erweckte jemals Zorn vergossnes Blut?

Unnütze Härte macht selbst Feigen Mut!

Drum wag's noch einmal, ob man drum dich schmäht,

und ernte Liebe, wo sie Hass gesät . . .

Nur Liebe tilgt die Greuel endlich aus

und schafft aus Trümmern ein verlässlich Haus!

Hör nicht das alte Wort von Zahn um Zahn

und Aug um Auge - hör das neue an,

Zweitausend Jahre alt und ewig neu;

dem nie erfüllten zeige du dich treu!

O hör die Stimme, welche jubelnd spricht:

Die Finsternis erhellt sich nur – vom Licht!

Nicht in der Rachsucht qualmend-gelbem Schein,

im Liebesfeuer glüht die Welt sich rein!

Die zitierten Gedichte sind dem Buch "Erika Mitterer – Das gesamte lyrische Werk", herausgegeben von Martin G. Petrowsky und Petra Sela, Edition Doppelpunkt, Wien 2001, entnommen.

Freitag, 06. Mai 2005

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