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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Eine kleine textkritische Bemerkung zum Andersen-Jahr

Andersen - eines Märchens uralte Kleider

Von Robert Schediwy

Um 1990 erwarb ich ein Buch mit mittelalterlichen Erzählungen aus Spanien. Auf den Seiten 179ff. der "Cuentos de la Edad Media" (Madrid 1987) wartete eine Überraschung auf mich. Unter dem Titel "Exempel 32" der Sammlung "El Conde Lucanor" von 1335 konnte ich, verkürzt zitiert, etwa folgendes lesen: Drei Gaukler kamen zu einem König und sagten ihm, sie verfügten über die Gabe, solche Gewebe anzufertigen, die nur der sehen könne, der wirklich der Sohn jenes Mannes sei, der als sein Vater gelte. Wer es aber nicht sei, könne das Gewebe nicht sehen. Das gefiel dem König sehr, denn auf diese Weise hoffte er, seine Güter zu mehren. Bei den Mauren erbt nämlich einer nur dann, wenn sein offizieller Vater auch wirklich sein Erzeuger ist. Also hieß er sie, das Gewebe zu verfertigen.

Nach einigen Tagen meldete einer der Drei dem König, das Gewebe sei schon halbfertig und lud den König ein, es zu sehen. Der König schickte probeweise zunächst einen Diener. Der sah die Meister, hörte, was sie sagten, und wagte nicht, einzubekennen, dass er nichts gesehen hatte. Daraufhin ging der König selbst hin – und war der Verzweiflung nahe. Denn nun dachte er, er wäre nicht der Sohn des Königs, den er für seinen Vater hielt. Also kehrte er zurück in seinen Palast und begann das Gewebe zu loben. Nach drei Tagen schickte der König seinen Wesir zu den Schneidern, nachdem er ihm das Gewebe genau beschrieben hatte. Der Wesir, der nichts davon sehen konnte, musste nun denken, er sei nicht der Sohn seines offiziellen Vaters, daher lobte auch er das Gewebe.

Am nächsten Tag schickte der König einen anderen Berater, um nach dem Gewebe zu sehen. Dem erging es wie den anderen. Da nun aber ein Fest herannahte, sagten alle zum König, er möge an diesem Festtag die neuen Gewänder tragen. Am Tage des Festes taten die Gaukler so, als ob sie ihm die Gewänder anlegten, sodass der König glaubte, bekleidet zu sein. Dann ritt er zur Stadt, und es war Sommer. Keiner entüllte das Geheimnis der Gewänder – außer einem schwarzen Rossknecht, der nichts zu verlieren hatte; er sagte zum König: "Entweder ich bin blind, oder Ihr geht nackt." Der König sah den Betrug ein, die Gaukler aber waren längst entflohen. Die Geschichte endet mit der Moral: "Wenn einer Euch etwas streng im Geheimen anvertraut, das keiner wissen darf, könnt Ihr sicher sein, dass er Euch betrügen will."

Als Verfasser des "Conde Lucanor" gilt Don Juan Manuel, Neffe von König Alfons X. Da die Geschichte an einem maurischen Hof spielt, entstammt sie wohl der orientalischen Erzähltradition.

Hans Christian Andersens Fassung des Stoffs bleibt nahe am Original, ist allerdings dialogischer aufgebaut (Andersen war ja auch Theaterautor). Andererseits hat er der Fabel die soziale Schärfe genommen. An die Stelle der beschämenden Herkunft tritt die mangelnde Eignung zum ausgeübten Amt, und statt des sozial Deklassierten spricht ein "unschuldiges Kind" die Wahrheit aus.

Ich habe mich gefragt, ob Andersen je die Herkunft seines Märchens einbekannt hat. Dank Internet konnte ich nun eruieren: Ja, er hat es getan – unter anderem in seinem Tagebuch. Es besteht also kein Anlass, dem berühmten Dänen in seinem Jubiläumsjahr etwas am Zeug zu flicken. Man weiß ja, dass die "guten Stoffe" der Weltliteratur immer wieder neu gewendet werden. Dennoch tut ein wenig Klarheit gut. Denn nicht selten ist auch das Kleid der geistigen Urheberschaft ein transparentes.

Freitag, 20. Mai 2005

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