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Zum 100. Geburtstag des französischen Philosophen und Dichters Jean-Paul Sartre

Exemplarischer Intellektueller

Im Mai ’68 unterstützte Jean-Paul Sartre die Studentenproteste, wie hier an der Pariser Sorbonne. Foto: AFP

Im Mai ’68 unterstützte Jean-Paul Sartre die Studentenproteste, wie hier an der Pariser Sorbonne. Foto: AFP

Von Stefan Broniowski

So hätten es manche wohl gerne: Jean-Paul Sartre – ein toter Hund; ein Dramatiker, dessen Stücke nicht mehr aufgeführt, ein Erzähler, dessen Romane nicht mehr gelesen werden, ein Philosoph, dessen Denken im akademischen Raum keine Beachtung mehr findet. Ein durchaus gängiges Urteil, wie etwa in der "Frankfurter Rundschau" Anfang dieses Jahres anlässlich der großen Ausstellung zum Werk Sartres in der Pariser Nationalbibliothek, gefällt: "Was bleibt? Das Resümee fällt ernüchternd aus: Sein Theater ist nicht mehr lebendig. Die jungen französischen Regisseure kennen ihn nicht oder meiden ihn bewusst. (. . .) Um das philosophische und literarische Werk steht es nicht besser. In den Schulen gehört es noch zur Pflichtlektüre, aber schon an den Universitäten wird Sartre nicht mehr studiert."

Aber sieht es in Wirklichkeit nicht doch anders aus? Alleine im deutschen Sprachraum sind nicht weniger als vier Dutzend verschiedene Bücher des Philosophen, Essayisten, Erzählers und Dramatikers Sartre derzeit lieferbar, die Bände der Gesamtausgabe nicht mitgerechnet. Verlage halten ihre Produkte bekanntlich nicht im Programm, wenn sie sich davon kein Geschäft erhoffen. Man darf also annehmen, dass Sartres Texte, freilich in unterschiedlichem Ausmaß, tatsächlich gekauft und wohl auch gelesen werden. Auf Französisch, Englisch und Italienisch sind die Zahlen der lieferbaren Sartre-Titel erwartungsgemäß noch höher, und die Fülle der Schriften über ihn ist längst unüberschaubar geworden. Der vermeintlich tote Hund bellt also noch ganz schön!

Im Übrigen war Sartre nie, auch in der heißen Phase des Existenzialismus nicht, ein besonderer Liebling der universitären Philosophie. Sartres Texte laden dazu ein, gelesen, nachvollzogen und weitergedacht zu werden, sie fordern nicht Exegese und Schulbildung. Gleichwohl lassen es sich die akademischen Institutionen in aller Welt heuer nicht nehmen, des 20. Todestages und des 100. Geburtstages des im Lehrplan oft ignorierten Meisterdenkers mit Veranstaltungen zu gedenken. Auch die Philosophische Fakultät der Universität Wien hielt unlängst ein Sartre-Symposion mit prominenter internationaler Beteiligung ab.

Legende zu Lebzeiten

Sartre vergessen könnte man nur, wenn man das ganze letzte Jahrhundert vergäße, mit all seinen Aufbrüchen und Niederlagen, Rückständigkeiten und Umwälzungen, Ansprüchen und Verbrechen. Zu Recht gilt Sartre vielen als der exemplarische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Er war einer der Gründungsväter des Existenzialismus, ein Propagandist des Mai ’68 und verkörperte auf geradezu idealtypische Weise die Verbindung von schriftstellerischer und philosophischer Aktivität mit politischem Engagement. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende.

Geboren wird Jean-Paul Sartre am 21. Juni 1905 in Paris. Er verliert früh seinen Vater, einen Marineoffizier, und wächst bei seinem protestantischen, aus dem Elsass stammenden Großvater auf, einem Onkel Albert Schweitzers. Später zieht er mit seiner wiederverheirateten Mutter nach La Rochelle, beendet seine Schulausbildung wieder in Paris und besucht die École Normale Supérieure, die er 1929 abschließt. Er begegnet Simone de Beauvoir, die für das nächste halbe Jahrhundert zur wohl wichtigsten der zahlreichen Frauen an seiner Seite wird.

Nach dem Militärdienst arbeitet Sartre ab 1931 als Gymnasiallehrer für Philosophie in Le Havre, später in Laon. 1933 geht er zu Studienzwecken nach Berlin. Bisher eher durch Descartes, Bergson und allenfalls Kant geprägt, entdeckt er nun die Schriften Husserls und Heideggers für sich. 1936 veröffentlicht er seine erste philosophische Schrift: "L’imagination" ("Die Imagination"), 1937 "La transcendance de l’ego" ("Die Transzendenz des Ego"). Sartre wird Philosophielehrer in Paris.

"Das Sein und das Nichts"

1938 erscheint sein Roman "La nausée" ("Der Ekel"), der ihn berühmt macht. Weitere literarische und theoretische Veröffentlichungen folgen. 1939 wird Sartre zum Kriegsdienst eingezogen und gerät 1940 in deutsche Gefangenschaft, der er mit gefälschten Papieren entkommt. Mit wenig äußerem Erfolg beteiligt er sich an den Aktivitäten einer von ihm mitbegründeten Gruppe der Résistance. 1943 wird sein Theaterstück "Les mouches" ("Die Fliegen") uraufgeführt. Im selben Jahr erscheint auch "L’être et le néant" ("Das Sein und das Nichts"), Sartres erstes theoretisches Hauptwerk. Außerdem lernt er Albert Camus kennen.

Im Herbst 1944 gründet Sartre zusammen mit seinem ehemaligen Studienkollegen Maurice Merleau-Ponty die Zeitschrift "Les Temps modernes" . Seine Theaterstücke und philosophischen Schriften machen ihn zum bekanntesten Vertreter des gerade erblühenden Existenzialismus.

Seinen Ruhm mehrt auch, dass seine Werke 1948 auf den Index der römisch-katholischen Kirche gesetzt werden. Sartre nähert sich dem Marxismus an und ergreift – als entschiedener Gegner des Antikommunismus – Partei für die Kommunisten. Er unternimmt zahlreiche Reisen, auch in die Sowjetunion und nach China. 1952 kommt es zu Differenzen mit Merleau-Ponty und zum Bruch mit Camus – in beiden Fällen geht es auch um Sartres Verhältnis zum Stalinismus. Während Sartre 1956 den Einmarsch in Ungarn verharmlost, verurteilt er 1968 die Niederschlagung des "Prager Frühlings".

Sartre ist für viele Jahre eine nationale und internationale Institution, deren Meinungen öffentliche Beachtung finden. Er wird einer der prominentesten Gegner des Algerienkrieges – und des Kolonialismus generell. Seine Wendung vom Existenzialismus zu einem eigenwilligen Marxismus arbeitet er in seinem zweiten philosophischen Hauptwerk aus, "La critique de la raison dialectique" ("Kritik der dialektischen Vernunft"), dessen erster Teil 1960 erscheint. 1964 veröffentlicht er "Les mots" ("Die Wörter"), eine bis zum elften Lebensjahr reichende Autobiographie, die ihm große Anerkennung bei Publikum und Kritik verschafft.

Beflügelt vom "Pariser Mai" stürzt sich Sartre ab 1968 noch einmal in eine Fülle von Aktivitäten, doch der jahrzehntelange Konsum von Alkohol, Nikotin, Aufputsch- und Beruhigungsmitteln hat längst seine Gesundheit ruiniert. 1973 erblindet Sartre und kann in seinen letzten Lebensjahren seinen Beruf als Schriftsteller nicht mehr ausüben. Seine umfangreiche Auseinandersetzung mit Gustave Flaubert ("L’idiot de la famille"), von der bis dahin schon mehrere Bände erschienen sind, bleibt, wie manch anderes, Fragment, er kann nur noch Interviews geben.

Am 15. April 1980 stirbt Jean-Paul Sartre. Vier Tage später nehmen mehr als 50.000 Menschen an seiner Beisetzung in Paris teil. – "Der Tod, daran denke ich nicht" , hatte Sartre zwei Jahre zuvor erklärt. "Eines Tages wird mein Leben aufhören, aber ich will auf keinen Fall, dass es vom Tod belastet wird. Ich will immer ein Aufruf zum Leben bleiben."

Was fasziniert immer noch an Jean-Paul Sartre? Gewiss weniger seine Arbeit als Dramatiker, Romancier, Philosoph oder engagierter Intellektueller, sondern vielmehr der Umstand, dass er alles auf einmal war – und zwar in aller Öffentlichkeit. Weiters, dass er sich weder scheute, entschieden Stellung zu nehmen, noch, sich dabei zu widersprechen; dass er weniger sagte, als er vielleicht wusste – und mehr, als er vielleicht verantworten konnte.

Zu fast allem etwas zu sagen

Sartre dachte ausgiebig über Funktion und Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft nach. Ein Intellektueller war für ihn jemand, der sich ungefragt einmischt, der seine Zuständigkeit überschreitet. Und eben dafür, nämlich ein universalistischer Intellektueller zu sein, der zu fast allem etwas zu sagen hat, war Sartre berühmt (und berüchtigt).

Zuweilen war diese Berühmtheit Sartre wohl auch ein wenig lästig, aber er nahm sie doch als selbstverständlich hin, ja er steigerte sie noch, indem er sich öffentlichen Ehrungen verweigerte – so etwa, als er den Nobelpreis für Literatur, der ihm 1964 zugesprochen wurde, nicht annahm. Sartre wollte nicht vereinnahmt werden, stellte sich aber zur Verfügung, wenn es galt, sich für seine Vorstellung von Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen.

Es ist unmöglich, Sartres Beiträge zu Literatur und Philosophie auch nur ansatzweise zu würdigen, zumal sie nicht nur zahlreich und vielfältig, sondern zudem sehr uneinheitlich sind. Wollte man aber von den Wendungen und Wandlungen in seinem Werk absehen und das, was "alle Welt" über Sartre weiß, in drei Sätzen zusammenfassen, müssten die wohl so lauten: Die Existenz jedes Einzelnen ist Sartre zufolge grundlos und "an sich" ohne Bedeutung. Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, ja verdammt. Er muss sich selbst entwerfen und steht für all sein Tun und Lassen gegenüber der Gesamtheit in Verantwortung.

Fragen nach dem Dasein

Freiheit, Selbstentwurf, Verantwortung, Engagement: Nach dem Krieg, als man Zerstörung und Unterdrückung gerade halbwegs entkommen war, klangen diese Begriffe anders als Jahrzehnte später, in einer von Wertepluralismus, Konsumwahn und Selbststilisierungszwang geprägten Gesellschaft. Trotzdem haben sie ihre Wertigkeit noch nicht endgültig eingebüßt – und das erkennt man nicht zuletzt an der Präsenz von Sartres Werken in den Buchhandlungen und in diversen Internet-Foren.

Solange Menschen noch mittels Literatur und Philosophie nach dem Sinn ihres Daseins und nach den Möglichkeiten verantwortungsvollen Zusammenlebens suchen, werden sie auf die Spuren von Sartres Denken stoßen (mag dies von Meinungsmachern bemerkt werden oder nicht). Und sie werden feststellen: Das Faszinierende an Sartre ist gar nicht das, was es über ihn zu sagen gäbe, sondern das, was es von ihm zu lesen gibt. In diesem Sinne ist Jean-Paul Sartre quicklebendig geblieben.

Auf Deutsch sind die meisten Werke Sartres im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen. Ausführliche Hinweise zu Texten von und über Sartre sowie andere nützliche Links finden sich unter http://www.sartre-gesellschaft.de .

Stefan Broniowski , geboren 1966, studierte Philosophie und Theologie und schreibt als freier Publizist über Geschichte, Kultur und Politik.

Freitag, 17. Juni 2005

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