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Was einer der bedeutendsten Dichter von Berufs wegen schrieb

Kafka und die Sägeblätter

Von Gerhard Strejcek

Am 18. Juni 1906, also fast genau vor 99 Jahren, schloss Franz Kafka sein Jusstudium mit der Promotion ab. Er erhielt ein mageres "genügend", durfte sich aber von da an Dr. jur. nennen. Alsbald stellte sich die Frage der Berufswahl. Ein traditioneller Rechtsberuf reizte ihn nach seiner halbjährigen Konzipiententätigkeit nicht mehr, es zog ihn ins "Bureau" zu einer seriösen Aufgabe, nicht zuletzt um nach der bürgerlichen "Pflicht" dem abendlichen "Kritzeln" weiter nachgehen zu können.

Im Jahr 1907 trat Kafka in die böhmische Niederlassung der "Assicurazioni Generali" auf dem Prager Wenzelsplatz ein. Die kaiserlich königlich (k. k.) pivilegierte Triestiner Versicherungsgesellschaft hatte ausufernde Dienstzeiten und verlangte von ihren Mitarbeitern neben der Landessprache auch Italienischkenntnisse. Kafka war neben Deutsch auch der "böhmischen Sprache in Wort und Schrift mächtig" , ferner gab er an, er beherrsche die französische, teilweise auch die englische Sprache. Italienisch hingegen war ihm fremd und musste in Abendkursen nachgeholt werden.

Die Schwerpunkte bei der "Generali" lagen im Personen- und Sachversicherungssektor. Kafka arbeitete laut eigener Definition als "Beamter" in dem in den Erb-ländern der Monarchie mit zahlreichen Niederlassungen vertretene (und heute noch in Wien und Süd/Osteuropa höchst erfolgreichen) Privatversicherungs-Unternehmen.

Hilfsbeamter bei der AUV

Natürlich setzte man Kafka nicht im Vertrieb ein, es wäre auch nur sehr schwer vorstellbar, dass der Autor von Werken wie "Das Schloss", "Amerika" oder "Der Prozess" seinen Kunden etwa eine Feuerversicherung aufgedrängt hätte. Eher noch vermag man mit einiger Phantasie den zarten jungen Mann in einer Flut von Schadensmeldungen und sonstigen Akten untergehen sehen. Kafka wurde im stattlichen "Generali"-Haus mit der Anonymität eines großen arbeitsteiligen Dienstleistungsbetriebs konfrontiert. Manche Leser seiner phantastischen Werke schließen aus den vielen Anspielungen in seiner Prosa auf amtliche Horrorerlebnisse und meinen, dass der Prager Autor seine "kafkaesken" Erlebnisse hauptsächlich seinem Beruf verdankte. Doch diese Vermutung trifft nur in einem sehr eingeschränkten Maß zu.

Mit dem 30. Juni 1908 datiert Franz Kafkas Bewerbung bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUV) um die Stelle eines Hilfsbeamten: "Löblicher Vorstand! Der ergebenst Gefertigte bittet den löblichen Vorstand der AUV für das Königreich Böhmen um gütige Aufnahme als Hilfsbeamter und unterstützt diese Bitte mit Folgendem."

Es folgte ein Hinweis auf die abgelegten juristischen Studien, die Tätigkeiten als "Advokatursconcipient" vom 1. April 1906 bis zum 1. Oktober 1906 und die danach angetretene Beamtenstelle bei der "Generali". Vom 3. Februar 1908 bis zum 20. Mai desselben Jahres besuchte Kafka einen Kurs für Arbeiterversicherung an der Prager Handelsakademie.

Eine Analyse von Kafkas amtlichen Schriften und seiner Briefe, in denen er sich wiederholt über seine Tätigkeit im "Bureau" äußerte, zeigt ein recht differenziertes Bild. Seine amtlichen Schriften sind überaus sachlich und abwägend, seine dienstlichen Korrespondenzen hingegen auffällig servil, floskelhaft und formal, manchmal indes mit einem unüberhörbar emotionalen Unterton. Kafka hatte wenig Kontakt mit Kunden und Parteien der Anstalt und so gut wie gar keine Berührungspunkte mit den Betroffenen, den verunfallten Arbeitern. Doch die rechtlichen, sozialen und vor allem auch die technischen Gründe für die exponentiell steigende Zahl der Arbeitsunfälle waren ihm bekannt. Seine Aufgabe war die juristische "Beäußerung", also das Verfassen von Stellungnahmen zu Rechtsmitteln, welche die versicherungspflichtigen Unternehmer gegen die Einstufung ihrer Betriebe erhoben. Diese arbeiteten mit allen nur denkbaren Tricks und führten parallel mitunter mehrere verschiedene Lohnlisten, um eine niedrigere Einstufung zu erschleichen. Sie hatten aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Konzipist Kafka durchschaute die Unterschleife und Fälschungen, er avancierte zu einem Kenner der gesamten böhmischen Gewerbestruktur.

Was dem Leser, zumal dem juristisch gebildeten, sofort auffällt, ist Kafkas rechtspolitisches Verantwortungs- und Problembewusstsein und seine unglaubliche Redlichkeit, sich mit allen technischen Aspekten seiner Tätigkeit vertraut zu machen. Wenn Kafka z. B. über die Unfallverhütung im Tischler-Gewerbe schreibt, dann nicht mit einem esoterischen Anspruch von "oben" herab, sondern mit Hinweisen darauf, welche unternehmerischen Schutzmaßnahmen konkret getroffen werden sollten. Daher gibt es von Franz Kafka auch Schriften über Abdeckvorrichtungen für Sägeblätter samt Skizzen. Kenner seiner Literatur werden sich an die Erzählung "In der Strafkolonie" erinnern, in welcher Kafka minutiös einen Folter-Apparat beschreibt, der vermöge einer "Egge" mit Nadeln dem nackten Delinquenten das ihm zugesonnene Delikt in den Leib sticht. Vielleicht ist darin auch die Verfremdung bzw. "Umkehr" einer technischen Einrichtung zur Unfallverhütung zu sehen.

Wie verhält es sich nun mit dem Einfluss von Kafkas dienstlich-juristischen Schriften auf seine literarischen – und umgekehrt? Zunächst einmal ist festzustellen, dass die beiden Welten einander nicht notwendigerweise feindlich gegenüber stehen müssen. Positive Beispiele dafür gibt es ja in der Weltliteratur genug: Goethes amtliche Schriften sind zwar sachlich, aber sie lassen immer wieder den Dichterfürsten durchblicken; ein Nichtjurist hätte hingegen die Schülerszene im "Faust", den Teufelskontrakt mit Mephisto oder Beweisregeln nach einem Mord ( "durch zweier Zeugen Mund, wird allewegs die Wahrheit kund" ) kaum so angelegt, vom staatsrechtlichen Inhalt des Faust II ganz zu schweigen. Dass Nestroy die Liebe als Traum, die Ehe aber als (belastenden) Vertrag empfand, hatte gewiss mit seinem Jus-Studium zu tun. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Dichter an juristischen Schriften orientierten, wie etwa Stendhal, der seinen Romanstil nach dem Code Civil gestaltete. Man stelle sich vor, dass ein Kafka der Gegenwart sich am Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz – ASVG – mit seinen rund 200 Novellen (davon 42 "offizielle") orientieren würde. Diese Schriften müssten weitaus beunruhigendere Themen als Kafkas Novellen enthalten, dem Stil nach aber wären sie völlig unverständlich: statt dem "Prozess" müsste unser fiktiver Kafka 2005 nämlich einen Roman über das "Erstattungswesen von Arzneispezialitäten auf Kosten eines Sozialversicherungsträgers im niedergelassenen Bereich" schreiben, an dessen Ende ein Patient am oder im "roten Bereich" verzweifelt.

Juristische Kenntnisse

Natürlich entstammen technische und juristische Details in Kafka-Romanen dem Fundus, den sich der Autor kraft seines Berufs aneignen konnte. Zweifellos haben seine juristischen Fachkenntnisse und seine Fortbildung im Bereich der technischen Unfallverhütung (etwa im Bereich der besonders gefährlichen Steinbrüche, die dann Schauplatz von Hinrichtungen werden) in seine Literatur Eingang gefunden.

Der Steinbruch im Kontext mit der Unfallversicherung beschäftigte Kafka dienstlich hingegen in Form einer knochentrockenen Abgrenzungsfrage: ob nämlich auch Steinbrüche von landwirtschaftlichen Betrieben der Versicherungspflicht unterlagen, oder nur "gewerbliche". Da diese Frage nach der Rechtsordnung der k. u. k. Monarchie und später nach jener der Tschechischen Republik zu beantworten war, mag auch die Abgrenzung zum Bergrecht relevant gewesen sein. Anders als heute hatte die Gewerbeordnung einen bedeutsamen arbeitsrechtlichen Gehalt – trotz ihres Charakters als Verwaltungsgesetz zum Schutz öffentlicher Interessen, das von "politischen" Behörden zu vollziehen war. Die Kontinuität des Verwaltungsrechts in den Nachfolgestaaten der Monarchie kam auch Kafka zugute. Schließlich übernahm die Tschechische Republik die öffentlich-rechtliche Anstaltskonstruktion der Arbeiter-Unfallversicherung. Daher blieb Kafka, der dank seinem tschechischen Namen auch von der Säuberung bzw. der Entlassung deutschböhmischer Angestellter nach dem Ersten Weltkrieg verschont blieb, in seinem beamtenähnlichen Status als Konzipist. Heftig beklagte er allerdings die relative Schlechterstellung gegenüber den Maturanten, die nach und nach zu den Akademikern aufschlossen, ohne dass eine entsprechende Aufwertung der Konzipisten stattfand .

Benachteiligungen, Bevormundungen und ein als ungerecht empfundenes Entlohnungssystem trafen Kafka gewiss, zudem plagte er sich mit der Umstellung auf die tschechische Amtssprache. Hingegen wurde er im Büro keineswegs gequält oder gar erniedrigt, sondern als Fachautor, Gesprächspartner und als (fast) zweisprachiger Literaturexperte gehegt und gefördert. Dies galt vor allem in der Zeit der k. u. k. Monarchie, als in den Ämtern und Büros vielfach literarisch und philosophisch interessierte Direktoren amtierten. Der politische Wechsel nach 1918 brachte zwar neue Vorgesetzte, aber keine autoritäre oder gar menschenfeindliche neue Linie im Umgang mit den subalternen Beamten der Anstalt. Am deutlichsten zeigt sich das in der Behandlung von Kafkas zahlreichen Ansuchen um Beurlaubung wie um Beförderung. Er avancierte zwar erst etwas später als erhofft, doch in der dienstlichen Haltung der Direktion zu Kafkas immer häufigeren und immer länger andauernden Krankenständen und Kuraufenthalten zeigte sich ein geradezu fürsorgliches Element.

Kafka litt neben seiner Lungenkrankheit an ständigen Verdauungsbeschwerden, Kopfweh und nervösen Zuständen. Wenn er so etwas wie Arbeitsleid empfand, dann wegen der Überforderung, die aus seiner intensiven schriftstellerischen Nachtarbeit resultierte. Eines Morgens war er von der nächtlichen Schreibarbeit so erschöpft, dass er sich mit einem sehr persönlich gehaltenen Schreiben im Büro entschuldigen musste. In diesem Brief bekannte er ein, dass nicht die amtliche, sondern die "private" Tätigkeit für seinen Besorgnis erregenden Zustand verantwortlich war.

Auf Anraten seiner Vorgesetzten unterzog sich Kafka einer Untersuchung beim Betriebsarzt, der weitere folgten. Der Diagnose-Ablauf ist wahrhaftig "kafkaesk": zuerst beruhigte ihn der Arzt, es sei "nichts Besorgnis Erregendes", dann war es "sogar noch besser" – und am Ende stand die Diagnose einer unheilbaren und mit Komplikationen verlaufenden Lungen-Tbc. Als Ironie des Schicksals erscheint, dass Kafka, der zudem an der Spanischen Grippe erkrankte, anders als Egon Schiele den Influenza-Virus besiegte. Dies führen Immunologen darauf zurück, dass chronisch Kranke mitunter bessere Abwehrkräfte gegen einen "neuen" Virus-Typ mobilisieren können als kerngesunde junge Menschen. Die Inflationsjahre und die schlechte Lebensmittellage Anfang der Zwanzigerjahre verschlechterte seinen Zustand. Die Tbc erfasste auch den Kehlkopf und erforderte drastischere medizinische Maßnahmen.

In der Klinik Prof. Hajeks

Am 10. April 1924 erschien Kafka in der laryngologischen Klinik von Professor Markus Hajek. Man legte ihn in ein 12-Bett-Zimmer, und erst nach Intervention von Franz Werfel gab man ihm ein Einbettzimmer. Dazu die folgende Anekdote. Der Laryngologe Hajek war zwar eine medizinische Kapazität, aber mit der zeitgenössischen Literatur nicht sehr vertraut. Im Falle Kafkas übrigens kein Wunder, denn zu dessen Lebzeiten erschienen von ihm nur sieben Bücher in sehr geringen Auflagen. Werfel allerdings war damals schon ein etablierter Schriftsteller. Es habe ihm, sagte eines Tages Professor Hajek zu seinen Mitarbeiter, ein gewisser Werfel dringend ersucht, dass der Kafka in ein Einbettzimmer transferiert werden möge. "Wer der Kafka ist" , sagte Hajek, "das weiß ich, das ist der Patient auf Nummer 12. Aber wer ist der Werfel?"

Kafkas Ende ist bekannt, es führte ihn ins nordwestlich von Wien gelegene Kierling, das heute Teil von Klosterneuburg ist. Kafka verbrachte die letzten Tage seines Lebens in der Privatklinik des Hugo Hoffmann. Dort starb er am 3. Juni 1924.

Gerhard Strejcek , geboren 1963, ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Wien.

Freitag, 17. Juni 2005

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