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Ein Autor sichert die Spuren seiner toten Mutter

Ellroy: Die Suche nach dem Mörder meiner Mutter

Von Manfred Maurer

Der 1948 in Los Angeles geborene Kriminalschriftsteller James Ellroy genießt weltweit längst kultische Verehrung. Das begründet sich zum einen in seinem spektakulären Werk, das bislang 13 immer umfangreicher werdende Bücher umfaßt, zum anderen in seiner nicht minder aufregenden Biographie, die zur Heldenverehrung geradezu einlädt.


Als Ellroy zehn Jahre alt war, wurde seine alkoholkranke Mutter von einem Unbekannten aus einer Bar erdrosselt und in El Monte vor der Arroya Highschool abgeladen. Und obwohl der Knabe über den abrupten Abgang, wie der knapp 50jährige heute gesteht, eher erleichtert war, hatte der heimtückische Gewaltakt alles bestimmende Auswirkungen auf sein ganzes Leben.


James Ellroy verbrachte, schon bald der Erziehungsgewalt des schwachen, verlogenen Vaters entronnen, 13 Jahre, ständig mit Schnaps und den Chemikalien aus Inhalatoren abgefüllt, auf der Straße, brach in Häuser ein, um an getragener Damenunterwasche zu schnüffeln, und saß wegen Bagatelldelikten an die 50 Mal im Gefängnis. Als er mit knapp 30 Jahren am Delirium tremens und einem Lungenödem beinahe zugrunde gegangen wäre, hatte er von diesem Lebensstil, den dumme Spießer so überaus romantisch finden, endgültig genug. Er ließ sich von einem Freund zu den Anonymen Alkoholikern schleppen, wurde trocken, verdingte sich als Caddy auf einem Golfplatz und schrieb sich mit seinem ersten Roman "Brown's Requiem" , der ihm auf Anhieb eine Nominierung für den Edgar-Award eintrug, alles von der mit Heftpflaster verklebten Seele, was sich bis dahin an Alpträumen und Gewaltfantasien angesammelt hatte.


Von frühester Jugend an von Gewaltverbrechen besessen, las Ellroy während seines ausgedehnten Horrortrips nach eigener Aussage Trillionen von Kriminalromanen. Und am Leben erhielt ihn allein die Aussicht, selbst irgendwann einmal ein großer Schriftsteller zu werden, was ihm ja dann auch ganz hervorragend gelungen ist.


Der Bestsellerautor: "Krimis gaben mir Detektive, die meine Freunde wurden, gaben mir die richtigen Lösungen dunkler Taten, gaben mir einen wachen Sinn für die prosaische Zufälligkeit des Bösen und erweckten in mir eine große Sehnsucht, das Warum zu kennen."


Die Mutter, die ihm ziemlich fremd geblieben war, und ihren Tod hatte er all die Jahre erfolgreich verdrängt, aber in den tieferen Schichten seiner komplizierten Persönlichkeit auf die durch ihren tragischen Tod berühmt gewordenene Elizabeth Short übertragen. Die wunderschöne 22jährige Herumtreiberin, die nach Hollywood gekommen war, um Schauspielerin zu werden, war 1947 von einem Unbekannten drei Tage lang an einem geheimen Ort bestialisch gefoltert, grausam verstümmelt und schlußendlich ermordet worden. In der Fantasie des Jungen verschmolzen die beiden Opfer, die viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, zu einer einzigen Person, und der Schriftsteller setzte ihnen in seinem bislang wohl besten Roman "The Black Dahlia" ein erschütterndes Denkmal. Beide Killer wurden nie gefaßt.


Nachdem Ellroy schon in der "Schwarzen Dahlie" das Rätsel um Elizabeth Shorts Peiniger zu lösen versuchte, fühlte er sich nun, 35 Jahre nach dem Ableben der Mutter, auch stark genug, ihren gewaltsamen Tod aufzuklären. Er engagierte Bill Stoner, einen pensionierten Kriminalbeamten des Los Angeles Police Department, und gemeinsam durchforsteten sie noch einmal die umfangreichen Akten, trieben so viele noch lebende Zeugen wie möglich auf und riefen in landesweiten Medienkampagnen die Bevölkerung zur Mitarbeit auf.


So viel kann gleich verraten werden: Den Mörder konnten der Professionist und der Amateurdetektiv trotz monatelanger Anstrengungen nach so langer Zeit nicht mehr ausforschen, aber dafür fand Ellroy seine in den hintersten Winkeln seiner zerrissenen Seele versteckte Mutter und sich selbst. Herausgekommen ist bei den ungewöhnlichen Ermittlungen eine intime Beichte, die in eine Reihe mit den Bekenntnissen eines Augustinus oder auch Thomas de Quinceys zu stellen man sich nicht scheuen sollte, ein einmaliges menschliches Dokument. Der weltberühmte Autor verschweigt weder die eigenen Schandtaten, z. B. seine sexuellen Obsessionen und seine naiven Nazischwärmereien als unglücklicher Jugendlicher, noch die seiner sich im Dauerclinch befindlichen Eltern.


Für den Leser, der in bezug auf James Ellroy noch unbeleckt ist, ist das Buch "My Dark Places" , das auf deutsch unglücklicherweise "Die Rothaarige" heißt, eine einmalige Gelegenheit, eine großartige Persönlichkeit und einen Weltklasseautor aus nächster Nähe kennen zu lernen. Wie Gustave Flaubert fordert James Ellroy vom Schriftsteller z. B., daß er ein anständiges, arbeitsintensives Leben führt. Er weiß viel Kluges über das Verhältnis von Mann und Frau, Gewalt, die Sucht in all ihren Ausformungen, das Showbiz und das Schreiben zu sagen. Außerdem bekommt man, gereinigt von allen Klischees, hautnah die aufreibende Arbeit von Kriminalbeamten vorgeführt.


Die eingefleischten Ellroy-Fans, von denen es ja viele gibt, bekommen hingegen das große und äußerst lehrreiche Vergnügen geboten, herausfinden zu können, in welch unglaublichem Ausmaß sich die tragische Biographie des Autors in seinem Werk niedergeschlagen hat. Was auf den ersten Blick nach grenzenloser Übertreibung und Ausfluß einer kranken Fantasie aussah, wird plötzlich als persönlich erlebte scheußliche Realität erkennbar. Und der Blick in die Werkstatt eines Giganten wie James Ellroy ist nicht nur für den angehenden Krimiautor gewinnträchtig, sondern auch für all jene Nichtschreiber, denen die Menschen, das Leben und die Literatur etwas bedeuten.


Ein etwas unangenehm berührender Schwachpunkt der meisterhaften Kreuzung aus Kriminalroman und Autobiographie soll aber abschließend auch nicht verschwiegen wer-


den. Ich nehme Ellroy einfach seine beinahe schon religiös anmutende Inbrunst nicht ab, mit der er sich plötzlich für seine zu Lebzeiten wenig geliebte Mutter interessiert und sich mit ihr in einem alchimistischen Akt verbindet. Und an einer Stelle gibt er ja auch zu, daß er, der Meister der Publicity, die Nachforschungen über ihren Mörder nur begonnen hat, um Werbung für seinen letzten Roman "American Tabloid" zu machen. Insofern ist sein neuester "Klassiker" auch ein Lehrbeispiel dafür, wie hemmungslos der amerikanische Literaturbetrieb funktioniert, der Welterfolge wie einen James Ellroy hervorbringt.


Was wird der knallharte Mann nun anstellen, um den Hollywoodfilm zu pushen, der nach seinem Roman "L. A. Confidential" gedreht wurde? Bei der Präsentation in Cannes ist er im Schottenrock aufgetreten, aber das kann ja wohl noch nicht alles gewesen sein.


Die Rothaarige - James Ellroy: Die Suche nach dem Mörder meiner Mutter. Aus dem Amerikanischen von Tina Hohl und Heinrich Anders. Hoffmann und Campe 1997, 463 Seiten.

Dienstag, 31. März 1998

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