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Vor 100 Jahren wurde die deutsche Schriftstellerin Irmgard Keun geboren

"Hurra! Hier arbeitet ein Talent"

Von Linda Stift

Mit der traumhaften Auflage von 30.000 Stück ihres Debütromans "Gilgi - Eine von uns" avanciert die junge Schriftstellerin Irmgard Keun 1931 zu einer Bestsellerautorin der ausgehenden Weimarer Republik. 21 ist sie, und schon ein Star! In Wirklichkeit ist sie schon 26, aber wen kümmern ein paar lächerliche Jahre? Ihre Biographen hat Irmgard Keun gerne verwirrt, von ihr gibt es höchst widersprüchliche Aussagen und Interviews.

Mit der Geschichte über eine junge Stenotypistin, die sich mittels Berlitz-Sprachkursen aus ihrem tristen Kleinbürgermilieu hocharbeiten will, letztlich aber der Liebe wegen scheitert, trifft Irmgard Keun den Nerv ihrer Zeit. Eine neue Generation von Autorinnen ist in den letzten Jahren aufgetaucht, die für ein weibliches Publikum schreiben. Berühmte Zeitgenossinnen wie Vicky Baum, Anna Seghers oder Marieluise Fleißer stellen in ihren Romanen berufstätige Frauen - "die neue Frau" - in den Mittelpunkt: Verkäuferinnen, Stenotypistinnen und Kontoristinnen sind die Heldinnen; Wirtschaftskrise, Notverordnungen und politische Radikalisierung bilden den gesellschaftlichen Hintergrund.

Die Angestellte als Prototyp

Irmgard Charlotte Keun wird am 6. Februar 1905 in Berlin geboren und wächst in Köln auf, die Familie ist gut situiert, ihr Vater Teilhaber und Geschäftsführer der Cölner Benzin-Raffinerie G.m.b.H.. Irmgard besucht das Lyzeum, das Angestelltendasein lernt sie später aus eigener Erfahrung kennen: Im Büro ihres Vaters - der entschieden hat, sie als Kontoristin auszubilden, da sie für die Frauenfachschule ungeeignet erscheint - erlebt und beobachtet sie die Schattenseiten dieser "neuen Welt". Die Angestellte gilt zwar als Inbegriff Weimarer Modernität und als Prototyp weiblicher Emanzipation. In Wirklichkeit bieten die neuen Berufe alles andere als Selbstbestimmung und Freiheit. Ausbeutung (schlechte Arbeitsbedingungen und geringes Gehalt) und sexuelle Belästigung stehen auf der Tagesordnung. Und Irmgard will sowieso lieber Schauspielerin werden.

Aber am Theater klappt es nicht so recht. Nach einigen kleinen und unbefriedigenden Engagements in Köln und Hamburg findet Keun ihre wahre Bestimmung im Schreiben - bestärkt wohl auch durch ihre Bekanntschaft mit dem um 20 Jahre älteren Dramatiker und Regisseur Johannes Tralow, den sie am Kölner Schauspielhaus kennen lernt und 1932 heiratet. Als Literatin findet sie höchst prominente Fürsprecher: Alfred Döblin prophezeit ihr: "Wenn Sie nur halb so gut schreiben, wie Sie sprechen, erzählen und beobachten, dann werden Sie die beste Schriftstellerin, die Deutschland je gehabt hat." Und von Kurt Tucholsky ist der enthusiastische und etwas arrogant-altväterliche Ausruf überliefert: "Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! Hurra! Hier arbeitet ein Talent."

Ihre Sprache ist frisch und unverbraucht, sie bezieht ihre Kraft aus dem Kölner und Berliner Umgangston, Witz und Stilelemente der Neuen Sachlichkeit (die Abkehr vom Pathos) wirken nach, filmische Montagetechnik und Rollenprosa sind konstituierende Elemente. Dass sie von weniger erfolgreichen Autoren immer wieder ins Unterhaltungseck gestellt wird, wird ihrem Werk nicht gerecht. Mit analytischem Blick deckt sie den Zusammenhang zwischen dem Scheitern privater Träume und den gesellschaftlichen Verhältnissen auf, und ergreift dabei immer die Partei der Verliererinnen.

Ein Jahr später, 1932, erscheint ihr zweiter Roman, "Das kunstseidene Mädchen", in einer Auflage von 50.000 Stück, und macht sie endgültig zum Star der Berliner Literaturszene. Doris, das kunstseidene Mädchen, angestellt im Büro eines Rechtsanwaltes, will ein "Glanz" werden, stürzt sich zu diesem Zweck in das glitzernde Berliner Nachtleben, um einen "seltenen Mann" kennen zu lernen, "der mich schön macht durch Liebe zu mir". Am Ende jedoch landet sie bei einem mit Schrebergarten, hilft ihm beim Gemüseziehen. Wieder ist es die Geschichte eines zerplatzten Traumes, noch trostloser als in "Gilgi".

Irmgard Keuns Traum allerdings ist Wirklichkeit geworden, und inmitten des gesellschaftlichen Glanzes, zu dem sie nun gehört, beginnt sie eine Affäre mit dem jüdischen Arzt Arnold Strauss, der eigentlich von einer Freundin rekrutiert wurde, um Irmgard vor dem Alkohol zu retten, sich stattdessen aber in sie verliebt. Als er 1935 in die USA emigriert, ist er überzeugt, Irmgard werde ihm nachfolgen, sobald ihre Scheidung von Johannes Tralow durchgefochten sei. Ein intensiver Briefwechsel beginnt, für Strauss sind die Briefe lebenswichtiges Kommunikationsmittel mit seiner Liebsten, für Keun mehr tagebuchartige Notizen und literarische Selbstdarstellung.

Lange hat sie diese Beziehung überhaupt verschwiegen, in den Siebzigerjahren hat sie erstmals darüber gesprochen. Strauss schickt immer wieder Geld, drängt vehement auf ihr baldiges Nachkommen, er könne besser für sie sorgen, wenn sie in seiner Nähe wäre. Sie aber denkt nicht daran, in die USA auszuwandern. Europa ist für sie der einzig mögliche Aufenthaltsort, trotz ständigen Geldmangels und Publikationsschwierigkeiten: Sie ist in ihrem Schreiben an die deutsche Sprache gebunden. Ein im Juni und Juli 1938 stattfindender Besuch bei Strauss in Norfolk wird das einzige Zugeständnis sein, das Irmgard Keun für diese Beziehung eingeht. Danach kehrt sie nach Amsterdam zurück.

Denn inzwischen befindet sie sich ebenfalls im Exil. Die Nationalsozialisten verunglimpfen ihre Bücher als "Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz", der noch vorhandene Bestand an Keun-Exemplaren wird 1933 beschlagnahmt, 1935 kommt die Schriftstellerin Keun auf die Schwarze Liste. Sie zählt nun zu den verbotenen Autoren, nicht allerdings zu den verfolgten - noch nicht. Eine Aufnahme in die Deutsche Reichsschrifttumskammer, die sie bis dato angestrebt hatte, weil sie sonst keine Publikationsmöglichkeit in Deutschland hätte, ist damit ausgeschlossen.

Verzaubert von Joseph Roth

Ihre steile Karriere in Deutschland wird jäh unterbrochen, während in Frankreich, England, Holland, Ungarn Russland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Rumänien, Italien und Polen Übersetzungen ihrer beiden Romane erscheinen. Als Keun Schadensersatzklage gegen die Finanzbehörde wegen Einkommensentgang erhebt, wird ihre Situation allmählich kritisch. Aber erst nach einem Vertragsabschluss für ihr Buch "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" vom holländischen Verlag Allert de Lange entschließt sie sich, auszuwandern.

Mit einem belgischen Visum reist sie im Mai 1936 nach Ostende, einem Ort ihrer Kindheit, an dem die Familie die Sommerferien verbrachte. Sie trifft auf eine kleine Schriftsteller-Emigrantengemeinde (Hermann Kesten, Stefan Zweig und Egon Erwin Kisch befinden sich hier auf günstiger "Sommerfrische") - und vor allem auf einen Mann, der sie verzaubern wird: Joseph Roth. "Als ich Joseph Roth zum ersten Mal in Ostende sah, da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram."

Mit ihm verbringt sie die nächsten achtzehn Monate in einer Art Lebens- und Trinkgemeinschaft - durch halb Europa reisend. Bisweilen sind sie gezwungen, viel länger als geplant in teuren Hotels zu wohnen, weil sie aus Geldmangel nicht ausziehen können.

Arnold Strauss verbirgt sie den wahren Charakter dieser Beziehung: "Ich bin dem bösen Dämon Roth erlegen (...) Missversteh mich um Gottes willen nicht. Er ist kein Mann mehr, nur Geist." Strauss solle nur weiterhin Geld schicken, das Leben im Exil sei teuer, und Irmgard ist nicht zum Sparen geboren, immer öfter dreht sich in den Briefen alles nur darum: "Und schicke! Ich will jetzt nicht in Not sein, ich darf jetzt nicht in Not sein. Versteh mich doch, mein Liebling. Ich muss anständig angezogen sein, wenn dieser Verleger kommt. Ich brauche unbedingt ein Kostüm, einen Hut und drei damenhafte Blusen."

Das Verhältnis zu Roth wird indessen immer schwieriger. Sie ist launisch, liegt im Bett anstatt zu schreiben, trinkt. Er ist besitzergreifend, eifersüchtig, trinkt, will sie zu "damenhafter Zartheit" erziehen. Sie verlässt ihn schließlich, während der letzten gemeinsamen Reise, in Paris, "mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung".

1937 erscheint im Amsterdamer Exil-Verlag Querido der Roman "Nach Mitternacht", in dem Keun unverhohlen den deutschen Alltag unter dem Nationalsozialismus beschreibt: "Ein Deutschland mit unfrohen, rohen Gesängen und drohenden Rundfunkreden, mit der künstlichen Dauer-Ekstase von Aufmärschen, Parteitagen, Heil-Jubeln und Feiern. Ein Deutschland voll berauschter Spießbürger. Berauscht, weil man ihnen Vernunftlosigkeit als Tugend pries - berauscht, weil sie gehorchen und Angst haben durften, und berauscht, weil sie Macht bekommen hatten. Genügte nicht ein Gang zur Gestapo, um sämtliche Stammtischgenossen zumindest ein bisschen unter Verfolgung zu setzen?"

Ab nun gilt sie in Deutschland als Volksverhetzerin. Es gelingt ihr nicht, rechtzeitig in ein anderes europäisches Land zu fliehen oder ein amerikanisches Visum zu bekommen, bevor die Deutschen die Niederlande besetzen. Sie ergreift die Flucht nach vorne und kehrt illegal und alkoholkrank als Charlotte Tralow nach Deutschland zurück, wo sie fünf Jahre lang von ihren Eltern und Freunden versteckt wird.

Über ihren Aufenthalt in Deutschland gibt es widersprüchliche Aussagen: Angeblich wird sie für tot gehalten, die führende Literaturzeitschrift des Dritten Reiches, "Die neue Literatur", vermeldet im August 1940 gehässig ("Denn alle Schuld rächt sich auf Erden") Keuns Selbstmord in Südfrankreich, andererseits gibt es Vermutungen, die Behörden wüssten von ihrer Rückkehr. Warum sie dann nichts unternommen haben, bleibt ein Rätsel, es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu verhaften, zumal sie im Haus ihrer Eltern in Köln wohnte und ihr "Deckname" leicht zu entschlüsseln gewesen wäre.

Keun verstummt

Nach Kriegsende schreibt Keun neben einem Erinnerungstext über die Emigration und Kabarettstücke für den NDWR-Köln nur noch einen einzigen Roman, "Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen", der 1950 erscheint. Erfolg ist ihr damit keiner mehr beschieden, was Hermann Kesten so erklärt: "Literarische Ignoranz und eine recht seltene Karrierebesessenheit bei der neuen literarischen Generation kamen hinzu. Die innere Emigration, die Gruppe 47, die führenden Literaturkritiker, Sieburg, ein alter Nazi, die Verfemung der Exilliteratur bei Germanisten und politischen Parteien, das führte nicht zum Nachlassen des Erfolgs der Keun, sondern es hat diesen Erfolg abgeschnitten, gewaltsam verhindert."

Irmgard Keun verstummt. Am 3. Juli 1951 kommt ihre Tochter Martina zur Welt, den Vater gibt sie nicht bekannt. Mehrmals wird sie wegen Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs für einige Tage in Kliniken eingeliefert, von 1966 bis 1972 lebt sie als Patientin in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses Bonn, ihre Tochter in Internaten. Ende der Siebzigerjahre wird sie wieder entdeckt, ihre Bücher werden im Claasen Verlag neu aufgelegt, die Geburtstagsrede zum 70er (in Wirklichkeit 75er) hält Elfriede Jelinek. 1981 wird ihr der Marieluise-Fleißer-Preis verliehen, ihre erste und einzige Auszeichnung, bei der Verleihung kann sie aber nicht dabei sein. Irmgard Keun stirbt an Lungenkrebs am 5. Mai 1982 in Köln.

Bücher von Irmgard Keun:

"Das kunstseidene Mädchen", das gerade von Claassen in der Fassung des Erstdrucks von 1932 wieder aufgelegt wird.

"Gilgi - Eine von uns", "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften", "Nach Mitternacht", D-Zug dritter Klasse", Kind aller Länder", Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen" (alle Bücher sind bei dtv erschienen).

Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun. Monographie. Rowohlt.

Freitag, 04. Februar 2005

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