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Vor 150 Jahren wurde der Poet Jean Arthur Rimbaud geboren

Rimbaud: "Ich schreie mich kaputt"

Von Andreas P. Pittler

Ich erinnere mich genau, wie ich diesen Akt der Hingabe am ersten Tag vollzog, an dem ich sein Werk erblickte. Ich las nur wenige Zeilen an jenem Tage, und legte dann, zitternd wie ein Blatt, das Buch wieder aus der Hand. Hätte ich Rimbaud in meiner Jugend gelesen, hätte ich vielleicht niemals eine Zeile geschrieben. Welch ein Glück ist zuweilen unsere Unwissenheit."

Nicht nur Arthur Miller war tief beeindruckt von jenem rätselhaften Dichter, der wie ein Phönix aus der Asche der französischen Literatur seiner Zeit aufstieg und sich alsbald immer höher über all seine Zeitgenossen erhob. Generationen von Schriftstellern sahen in dem scheinbar schüchternen, wortkargen, und dennoch so wortgewaltigen Rimbaud ein nachahmenswertes Genie. Er kann als der bedeutendste Wegbereiter des Symbolismus gelten, und der Surrealismus ist ohne sein Vorbild und Beispiel nicht zu denken. Er beeinflusste nachhaltig Alexander Blok, Dylan Thomas, Oscar Wilde, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal - und auch noch die Lyriker der Beatgeneration und Pop-Poeten wie Bob Dylan und Leonard Cohen.

Jean-Nicholas Arthur Rimbaud, geboren am 20. Oktober 1854 in Charleville, trat bereits als 16-Jähriger literarisch an die Öffentlichkeit, um mit 20 bereits wieder zu verstummen. Dazwischen liegt das wohl bemerkenswerteste Œuvre, das ein Dichter in diesem Jugendalter der Nachwelt hinterlassen hat. Aufwachsend in einem Provinznest, dem er mehrmals zu entkommen versucht, sind seine ersten Gedichte realistische Rufe der Revolte: "Naturschilderungen, grausamste Spießbürgersatire, kämpferisches Heidentum und mörderischer Frauenhass bilden Gegenstand

seiner Lyrik, der alle Formen und Themen gleich meisterhaft vertraut sind, die wahrhaft unerhört ist

in Rhythmus, Sprachmelodie und Intensität der Anklage." (Hans

Mayer)

1871 flieht Rimbaud nach Paris, wo für kurze Zeit die Commune herrscht. Beeindruckt von der Kraft des Proletariats, schreibt er sein

Poem "Der Schmied", in dem er mit Monarchie und Absolutismus abrechnet: "Hier gilt nicht Gesetz, nicht Befehl / Richter und Henker

in einem bin ich. / Bist ein Jahrtausend schon reif für den Streich / ihr seid alle reif, dass man euch umlegt / als Dank für Knechtschaft der Armen im Reich. / Nie hat Er-

barmen das Herz euch bewegt, / wenn wir Elend und Dreck, vor

der Zeit / hinfaulen mussten. Mit Steuern hart / habt ihr noch toller

geraubt. Gott Vater war weit / und die Pfaffen auf Weiber und Wein vernarrt. / Wir haben von diesem verdammten Beamtentum endlich genug."

In Paris lernt der enttäuschte Kommunarde, der auch eine verloren gegangene "constitution revolutionaire" verfasst, den Dichter Paul Verlaine kennen, mit dem ihn bald eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verbinden sollte. Die beiden beginnen ein unstetes Wanderleben, gelangen nach Belgien und weiter bis nach London. In rascher Folge entstehen zahlreiche Gedichte, Lieder, Poeme, von denen allerdings nur wenige veröffentlicht werden (und erst Jahre später ohne sein Wissen erscheinen, oder posthum gesammelt werden wie "Les Illuminations").

Der 18-Jährige ist am Höhepunkt seiner Schaffenskraft, er experimentiert mit neuen Stilen, Wortneuschöpfungen, verlegt sich auf Fragmente, auf irreale, aber dennoch sinnlich scharfe Bilder. Seine neuen, fremdartigen Chiffren, seine Wortalchemie, die vieles Herkömmliche auflöst, lassen sich

mit nichts aus der bis dahin bekannten Literatur vergleichen und nehmen Entwicklungen vorweg, die später von Expressionisten wie Surrealisten aufgegriffen und weitergeführt werden. Er sucht im

Alkohol, im Rausch, im Laster

neue Lebensformen und neue Gefühle, die er in neuen Ausdrucksformen fassen will. Er sieht den Dichter als Seher und Besessenen: "Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte Entregelung aller Sinne. Alle Formen von Liebe, Leiden, Wahnsinn; er sucht sich selbst, er erschöpft alle Giftwirkungen in sich, um nur den innersten Kern davon zu bewahren. Unsägliche Qual, wo er des vollen Vertrauens, der gesammelten übermenschlichen Kraft bedarf, wo er unter allen der große Kranke, der große Gesetzesbrecher, der große Verdammte wird, und der höchst Wissende! Denn er kommt an beim Unbekannten!"

Je kreativer sich Rimbaud in jener Schaffensphase verausgabt, desto tiefer versinkt sein Freund Verlaine in dumpfer Agonie. Die Beziehung der beiden durchläuft mehrere

Krisen, ehe es im Juli 1873 in

Belgien zu einem Drama kommt: Der eifersüchtige Verlaine ist nicht bereit, den Gefährten ziehen zu lassen und gibt zwei Revolverschüsse auf ihn ab. Rimbaud kommt mit einer Schusswunde an der Hand in ein Brüsseler Spital, Verlaine wegen Körperverletzung ins Gefängnis. Niedergeschlagen beendet Rimbaud "Une saison en enfer" (eine Jahreszeit in der Hölle), worin er sein Verhältnis zu Verlaine aufarbeitet. Dieses Buch, das wie alle seine Texte autobiographisch ist, lässt er als einziges seiner Werke drucken, obwohl er es später wieder vernichten lassen will.

"Ich leide, ich schreie mich kaputt. Ich leide wahrhaftig. Nichts bleibt mir erspart. Ich bin mit der Verachtung aller Kreatur beladen. Selbst die Hunde pissen mich an. Darum will ich bekennen. Mein Inneres vor euch auftun. Zwanzigmal dieses Elend wiederholen zu müssen ist schrecklich. Wozu auch? Und was gewinnt man damit?"

Ernüchtert, fern von allen Freunden, zeichnet Rimbaud seine Erfahrungen und sein Scheitern auf, bringt seinen Ekel der kleinkrämerischen Gesellschaft gegenüber zum Ausdruck, die sich nun in Empörung über den gefallenen Engel ergeht. "Von meinen Vorfahren, den Galliern, habe ich das hellblaue Auge, den schwerfälligen Kopf und die Ungeschicklichkeit im Kampf. Meine Kleidung ist mindestens so barbarisch wie die der Ururgroßväter, nur mein Haar versah ich nicht mit übler Pomade. Die Gallier waren die herzlosesten Tierschinder ihrer Zeit, und über die Kräuter fuhren sie mit Feuer und Schwefel. Von diesem Pack habe ich auch den Götzendienst geerbt, den Hang zu jedem Frevel, alle erdenklichen Laster: Jähzorn, Hurerei, Suff, Lüge."

In immer stärkerem Ausmaß verachtet Rimbaud die gesamte

europäische Kultur. Der 20-jährige "Engel im Exil" (Mallarmé) verstummt, wendet sich von der Literatur ab. Fußwanderungen führen ihn nach Deutschland, in die Schweiz, nach Italien und nach Wien, wo er ausgeplündert und von den Behörden ausgewiesen wird. Abenteuerliche Gerüchte kommen den literarisch Interessierten zu Ohren. Rimbaud sei Fremdenlegionär geworden, verschiebe Waffen in Fernost, habe in einem buddhistischen Kloster Zuflucht gesucht, unternehme gefährliche Expeditionen in Nordafrika oder Abessinien.

Bald fällt Rimbaud jedoch der Vergessenheit anheim. Kaum jemand nimmt Notiz davon, als er 37-jährig, vom Tode gezeichnet, wieder in Frankreich eintrifft. In Marseille bringt man ihn in ein Hospital,

amputiert ihm ein Bein. Doch

auf Rettung ist nicht mehr zu

hoffen.

Am 10. November 1891 stirbt Jean Arthur Rimbaud unter Qualen an Krebs in einem Marseiller Krankenhaus, nachdem er seiner Heimatstadt einen letzten Besuch abgestattet hat. Er wird in Charleville begraben, beklagt von Literaten, mit denen er nichts mehr zu tun haben wollte, und die als sein

Testament Zeilen zitieren, von denen er sich längst losgesagt hatte: "Der Dichter kommt an im Unbekannten, und selbst wenn er

seine eigenen Visionen schließlich nicht mehr begriffe, so hat er sie doch geschaut. Mag er zugrunde gehen an seinem riesigen Sprung durch die unerhörten und unnennbaren Dinge. Andere fruchtbare Arbeiter werden kommen

und an jenen Horizonten anfangen, wo er selbst zusammengebrochen ist."

Die Rimbaud-Zitate stammen aus: "Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud", herausgegeben und übersetzt von Paul Zech, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1990.

Freitag, 22. Oktober 2004

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