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Zum 150. Geburtstag des Dichters am 16. Oktober 2004

Der unbekannte Wilde

Von Stefan Broniowski

Alle Welt kennt Oscar Wilde. Aber kennt man ihn wirklich? Für gewöhnlich gilt Wilde einerseits als unübertroffener Meister des geistreichen Witzworts, als Verfasser spritziger Gesellschaftskomödien, gefühlvoller Märchen und eines anrüchigen Romans; andererseits aber als tragische Gestalt, als jemand, der über den Genüssen des Lebens die Kunst vernachlässigte, sich durch ein ausschweifendes Leben zu Grunde richtete und schließlich wegen seiner Homosexualität ins Gefängnis gesteckt wurde. Viel interessanter freilich wäre es, einem breiten Publikum den fast völlig unbekannte Wilde nahezubringen - beispielsweise den brillanten Essayisten, dessen Überlegungen zu Kunst, Moral, Politik und Religion noch heute erfrischend provokant sind.

Oscar Wilde darauf zu reduzieren, dass er nur ein Witzbold war, heißt ihn zu verharmlosen, man sollte ihn vielmehr gerade dann ernst nehmen, wenn er einen zum Lachen bringt. Sein irischer Landsmann James Joyce nannte Wilde einmal den "Hofnarren der Engländer"; doch ein Hofnarr ist traditionell eben kein unverbindlicher Spaßmacher, er ist vielmehr einer, der den Mächtigen ins Gesicht lacht und vor einer in Gewohnheiten, Vorurteilen und Ressentiments erstarrten Zuhörerschaft manch unbequeme Wahrheit ausplaudert.

Ausnahmeerscheinung

Oscar Wilde wurde 1854 geboren und starb 1900, lebte also inmitten jenes Zeitalters, das man gerne das Viktorianische nennt und das zu Recht als Inbegriff der Prüderie, der Bigotterie, des Manchesterkapitalismus und des in geschmackloser Behaglichkeit verschanzten Spießertums gilt. Die damalige englische Gesellschaft pflegte den Kult des Nützlichen mit einer zwanghaften Neigung zur Behübschung von allem und jedem zu verbinden. Man glaubte an den Fortschritt durch Wissenschaft und Technik und verklärte die Ausbeutung der menschlichen und materiellen Ressourcen des Kolonialreiches zur "Bürde des weißen Mannes".

Alles im bürgerlichen Leben war durch Konventionen geregelt, jedermann wusste um seinen gesellschaftlichen Rang und darum, was er im Zweifelsfall zu denken, zu empfinden und zu tun hatte; aber eigentlich gab es gar keinen Zweifel darüber, was als schön, anständig oder natürlich gelten durfte - und selbstverständlich auch nicht darüber, was als unpassend, unmoralisch oder gar umstürzlerisch zu verabscheuen war. Jeder Verstoß gegen die herrschenden Wertvorstellungen und Verhaltensvorschriften wurde umgehend sanktioniert.

In diesem von Geschäftssinn und Sentimentalität, Unrecht und Konformismus geprägten sozialen Gefüge unternahm nun Oscar Wilde den Versuch, gerade als Ausnahmeerscheinung allgemeine Anerkennung zu finden. Die Gesellschaft war für ihn, so Peter Funke in seiner Wilde-Biographie, "Widersacher wie Verbündeter, Publikum und Geldgeber. Erst allmählich erkannte er, dass sie ihn am ehesten zu ertragen bereit war, wenn er sie unterhielt, und dass sie am leichtesten zu unterhalten war, wenn er sie belustigte, und dass er sie am besten belustigen konnte, wenn er ihr den Spiegel vors Gesicht hielt und sie verspottete".

Wilde wollte unbedingt öffentlichen Erfolg als Künstler, und er bekam ihn auch, doch um den Preis, dass die Gesellschaft, der er seinen Aufstieg abgetrotzt hatte, ihn jederzeit wieder fallen lassen konnte. "Je mehr sie ihm zujubelte, desto mehr machte er sich über sie lustig, je mehr er an ihr verdiente, desto mehr verachtete er sie - bis sie sich rächte und ihn vernichtete."

Nicht dass er homosexuell war, brachte Oscar Wilde ins Gefängnis, sondern der damalige gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität. Der Paragraph, nach dem Wilde zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, war dabei keineswegs ein Relikt des finsteren Mittelalters, sondern erst 1885 in Kraft gesetzt worden. Dass zur Sicherung der Moral per Gesetz einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern unter Strafe gestellt wurden, während es weiterhin als völlig normal galt, wenn Junggesellen und Ehemänner die Dienste weiblicher Prostituierter in Anspruch nahmen, war durchaus charakteristisch für die alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringende Unaufrichtigkeit.

Es sei der schlimmste Fall, den er je verhandelt habe, erklärte der Richter, der Wilde verurteilte. Sein Ingrimm und der der öffentlichen Meinung galt dabei keineswegs nur dem homosexuellen Verhalten. Noch schwerer wog, dass Wilde bei der Wahl seiner Liebhaber die Klassenschranken nicht beachtet hatte, dass er auch Männer der Unterschicht wie Seinesgleichen behandelte, sich von ihnen mit seinem Vornamen anreden ließ und ihnen teure Geschenke machte.

Weil Wilde seine sexuellen Bedürfnisse nicht in billigen Absteigen ausgelebt, sondern mit unstandesgemäßen jungen Männern in den vornehmsten Restaurants und Hotels Londons verkehrt hatte, weil er seine Neigungen nicht schamvoll versteckt, sondern sich in aller Unschuld zur Verehrung der Schönheit und Jugend bekannt hatte, brachte er alle anständigen Bürgerinnen und Bürger gegen sich auf.

Hätte Wilde, wie damals unter (heute würde man sagen) "geouteten Homosexuellen" üblich, rechtzeitig den Nachtzug nach Calais genommen und sich auf dem Kontinent vor der Justiz Ihrer Majestät in Sicherheit gebracht, wäre er zwar gleichfalls geächtet, aber nicht vernichtet worden. So aber war die Rache der Anständigen grausam und nachhaltig: zwei Jahre Kerker, Zwangsarbeit, Bankrott, Zwangsversteigerung des verbliebenen Eigentums, Trennung von der Ehefrau, die mit den gemeinsamen Kindern einen anderen Namen annahm; nach der Entlassung dann Exil in Frankreich und Italien, unter falschem Namen, ständig in Geldnöten und gemieden von allen, die sich mit dem verfemten Dichter nicht sehen lassen wollten.

Oscar Wilde provozierte seine Zeitgenossen, als Künstler wie als Person, maßlos. Von Beginn seines öffentlichen Auftretens an war Wilde darum Gegenstand unzähliger Gehässigkeiten in Wort und Bild. Man imitierte, kommentierte, karikierte ihn, im steten Bewusstsein, dass allein schon sein Auftreten die herkömmlichen Ideale von Männlichkeit, Ernsthaftigkeit und Wohlanständigkeit in Frage zu stellen drohte.

Dabei hatte

Wilde durchaus auch seine bürgerlichen Seiten, er war verheiratet, hatte zwei Söhne und sorgte durch harte Arbeit für den Familienunterhalt. Er war nicht nur Verfasser von erlesenen Gedichten und kunstvollen Erzählungen, er schrieb eine Unmenge von Zeitungsartikeln und gab sogar zwei Jahre lang eine Frauenzeitschrift heraus. Auch seine so erfolgreichen Theaterstücke verdankten sich nicht zuletzt der Notwendigkeit, Geld zu verdienen - das Wilde dann freilich rasch wieder mit vollen Händen ausgab.

Spötter und Ästhet

Nur zu gern missversteht man Wilde noch heute als unmoralischen Spötter und dekadenten Ästheten. Doch gerade sein "Ästhetizismus" war eine bewusste Auseinandersetzung mit den ihn umgebenden Verhältnissen, ein Protest gegen die Hässlichkeit, Dummheit und Ungerechtigkeit der modernen Industriegesellschaft. Wildes Bonmots und Aphorismen sind nur eine Ausdrucksweise seiner kritischen Haltung; denn wenn er es auch liebte, in Lyrik, Prosa und Drama mit Wörtern zu prunken und in Stimmungen zu schwelgen, so hatten seine Vorträge und Essays oft auch ganz praktische Aspekte - etwa wenn er gegen die Absurditäten der damaligen Frauenmode zu Felde zog oder Ratschläge zur sinnvolleren Gestaltung von Wohnräumen gab. Dann erwies Wilde sich auch als origineller Schüler von William Morris, John Ruskin und anderen Lebensreformern und Sozialkritikern.

Wie sie erstrebte Wilde eine umfassende Neugestaltung aller Lebensbereiche und forderte von der Kunst nicht Beschönigung, sondern Verbesserung. Das Schöne war für ihn nichts anderes als das Gute und stand als solches im Widerspruch zur gewöhnlichen Ästhetik und Moral. Gerade weil ihm die Unabhängigkeit der Kunst als der Inbegriff der Freiheit überhaupt erschien, bekannte sich Wilde auf seine eigensinnige, undoktrinäre und antiautoritäre Weise zum Sozialismus, denn die Befreiung von wirtschaftlichen Zwängen galt ihm als notwendige Voraussetzung für die freie Entfaltung schöpferischer Individualität.

Zweifellos war Oscar Wilde kein Theoretiker, aber eine der Posen, die er gerne einnahm, war die des abgeklärten Philosophen. Er scheute nie davor zurück, jemandem zu widersprechen, am wenigsten sich selbst. Er bevorzugte deshalb das Paradoxon, also das, was einer üblichen Meinung (doxa) zuwiderläuft. Wilde pflegte ein raffiniertes Spiel mit der Sprache zu treiben und den Widersinn einzusetzen: nicht um einen Mangel, sondern um einen Überschuss an Sinn zu erzeugen.

Philosophisches Potential

Nicht wenige von Wildes scharfzüngigen Bemerkungen, die auf den ersten Blick vielleicht bloß witzig und verblüffend sind, verraten bei näherem Hinsehen philosophisches Potential. "Es ist überraschend, die nahe Verwandtschaft mancher Apercus von Nietzsche mit den keineswegs nur eitlen Attacken auf die Moral festzustellen, mit denen ungefähr gleichzeitig Oscar Wilde das englische Publikum schockierte und zu Lachen brachte", hatte schon Thomas Mann erkannt. Tatsächlich findet sich bei Wilde sogar manches, was dem gleichsam "postnietzscheanischen" Denken eines Foucault, Deleuze oder Derrida nahe kommt . . .

Allerdings hat Oscar Wilde gewiss auch manchen Unsinn um des Unsinns willen geredet und geschrieben, wollte beeindrucken und unterhalten. In einem Brief an Arthur Conan Doyle gestand er ein: "Um eines Witzwortes willen werfe ich die Wahrscheinlichkeit aus dem Fenster und wenn ich Gelegenheit zu einer Pointe habe, lasse ich die Wahrheit im Stich."

Doch dieser Satz ist ja selbst wiederum ein geistreicher Ausspruch, dessen Pointe eben darin besteht, dass er eine Behauptung zugleich belegt und sie gerade dadurch in Frage stellt. Wilde war überzeugt, dass jede Wahrheit nur eine Maske von vielen ist, dass also die Masken die eigentliche Wahrheit sind. Zeitgenössischer kann man auch als heutiger Denker nicht sein. Wer sich also mit Wilde nicht nur amüsieren will, sondern seinen Geistreichtum als intellektuelle Herausforderung ernst nimmt, wird vielleicht zu demselben Ergebnis kommen wie Jorge Luis Borges: "Nachdem ich im Laufe der Jahre Wilde gelesen und wieder gelesen habe, bin ich auf die nachprüfbare und elementare Tatsache aufmerksam geworden, dass Wilde fast immer Recht hat."

Literatur: Barbara Belford: Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie, Zürich 2000 (Haffmans)

Richard Ellmann: Oscar Wilde. Eine Biographie, München 1991 (Piper)

Peter Funke: Oscar Wilde. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1969 (Rowohlt)

Merlin Holland: Das Oscar-Wilde-Album, München 1997 (Blessing)

Montogmery Hyde: Oscar Wilde. Triumph und Verzweiflung, München 1982 (Heyne)

Nobert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 2000 (Insel)

Jörg W. Rademacher: Oscar Wilde, München 2000 (dtv)

Freitag, 08. Oktober 2004

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