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Harold Bloom im Gespräch über sein neues Buch "Genius"

Bloom, Harold: Ein Etwas namens "Weisheit"

Von Ernst Grabovszki

Harold Bloom ist Amerikas mächtigste Kritikerstimme. In seinem Buch "Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur" präsentiert er Spitzenreiter der Weltliteratur - und vergleicht sie nach kabbalistischen Grundsätzen.

Wiener Zeitung: Herr Professor Bloom, Ihr Buch "Genius" ist eben in deutscher Übersetzung erschienen. Nach welchen Kriterien haben sie Ihre "bedeutendsten Autoren" ausgewählt?

Harold Bloom: Ich habe lange darüber nachgedacht, ob man ein Buch über das Geniale schreiben kann, ohne auf Mozart, Bach, Beethoven, Michelangelo, Leonardo da Vinci usw. einzugehen. Aber das Projekt wäre ausgeufert, sodass ich mich auf Genies der Sprache beschränkte. Während der Arbeit stellte sich heraus, dass ich eigentlich 700 oder 800 Autoren behandeln müsste. Mein Verleger sagte: Unmöglich! Also entschloss ich mich für eine abgespeckte Version. Der größte Dichter deutscher Sprache, Goethe, kommt darin vor, Hölderlin nicht, der es in mancher Hinsicht Goethe gleichtut. Über die Auswahlkriterien kann man also diskutieren. Wahrscheinlich werde ich nie restlos zufrieden sein mit dem Buch und vielleicht noch einen zweiten Band schreiben.

Sie verwenden zur Einteilung Ihrer Kapitel Begriffe aus der Kabbala. Wie sind Sie auf die Verbindung von Kabbala und Literatur gestoßen?

Da ich nicht chronologisch vorgehen wollte, musste ich mich nach einem anderen Konzept umsehen. Ich suchte nach einem Organisationsprinzip und stieß in der hebräischen Bibel auf den Gottesname JAHWE, aus dem im Neuen Testament die göttliche Trinität Gott, Jesus und der Heilige Geist wird. Die Kabbala bietet eine Reihe von Traditionen und eine Art von geheimer Doktrin an - Philosophie oder Theologie wären die falschen Worte dafür -, die mit dem Genius von JAHWE zu tun hat. Da er eine menschliche Figur ist, ist auch sein Genius menschlich. Ich glaube, dass vieles von dem, was ich bisher geschrieben habe, kabbalistisch angelegt ist. Es gibt ein klares antagonistisches Weltprinzip in der Kabbala, und diesem Prinzip folgt auch mein Buch.

Sie versuchen also, einen Kanon zu etablieren?

Nein, denn der Großteil der Autoren, mit denen ich mich beschäftige, ist bereits Teil unseres literarischen Kanons. Ich denke, dass der Begriff Kanon in Europa seine Berechtigung hat, im englischsprachigen Raum sorgt er mehr und mehr für Kontroversen. Ich bin über so viele kanonische Schlachtfelder gelaufen, dass ich mich aus solchen Debatten von nun an heraus-

halten möchte. Noch dazu hat die "political correctness" den Universitäten, Colleges und Medien in den englischsprachigen Ländern das genommen, worauf es beim Lesen, Beurteilen und Lehren von Literatur ankommt: ästhetische Brillanz, Kraft der Wahrnehmung, Klugheit.

Auf Platz Eins Ihrer Rangordnung steht Ihr Lieblingsdichter Shakespeare. Vor einigen Jahren sollte er aus den amerikanischen Lehrplänen gestrichen werden. Gehen wir mit den Klassikern zu sorglos um?

Diese Diskussion gab es in einigen öffentlichen Schulen tatsächlich. Die Frage war, ob Shakespeare die richtige Einstellung Frauen, Schwarzen, Juden gegenüber hatte. Doch er hat seine Unverwüstlichkeit bewiesen, sogar in einer bildorientierten Zeit wie dieser.

Mir fällt außer Cervantes kein zweiter Autor ein, der Shakespeare in dieser Hinsicht nahe kommen könnte, vielleicht noch Dante,

Tolstoi und Goethe. Goethe wird in den Vereinigten Staaten allerdings wenig gelesen, weil seine

Literatur kaum ins Englische übersetzbar ist. Dazu kommt, dass

seine Vision von Kultur selbst Hochgebildeten im englischsprachigen Raum nur mehr wenig sagt. Sein Verschwinden bedeutet ein kulturelles Desaster. Wir müssen mit so vielen kulturellen Desastern fertig werden!

Warum haben Sie schon als junger Mensch zu lesen begonnen - und dann in New York und Yale englische Literatur studiert?

Ich war das fünfte und jüngste Kind. Wenn man das jüngste Kind in einer Familie ist, wird man möglicherweise introvertiert. Zuhause wurde nur jiddisch gesprochen, und so lag es wahrscheinlich nahe, dass ich mir die englische Sprache selbst beibrachte. Bevor ich auch nur annäherungsweise verstehen konnte, was William Blake, Hart Crane, Shakespeare oder Milton

getan haben, kannte ich deren

Texte auswendig. Das ist wirklich seltsam. Ich hätte nie ein Dichter werden können. Ich hatte einen Onkel, der ein Süßwarengeschäft besaß. Er fragte mich, welchen

Beruf ich ergreifen wollte. Ich sagte: Literaturprofessor und fragte ihn, wo man das unterrichten könne. Er antwortete: in Harvard und Yale. Seit einem halben Jahrhundert unterrichte ich in Yale und

seit Ende der 1980er Jahre auch in Harvard.

Wie erleben Sie den heutigen amerikanischen Buchmarkt in den Vereinigten Staaten?

Ich bin in dieser Hinsicht in einer ungewöhnlichen Position, weil ich ein relativ großes Publikum habe. Ich finde nicht, dass sich der Buchmarkt in den Vereinigten Staaten verändert hat. Was ich allerdings sehr bedaure, ist die Verblödung der westlichen literarischen Kultur. Das Geschmacksniveau sinkt tiefer und tiefer, zumindest in den englischsprachigen Ländern.

Warum ist das so?

Sehen Sie sich doch nur die Vereinigten Staaten an: Wir haben einen Präsidenten, den man bestenfalls als halbgebildet bezeichnen kann. Dass er im Amt ist, zeugt von der Halbbildung eines Teils der Bevölkerung. Denken hängt mit Erinnerung zusammen, mit Erinnerung an das Beste, was je geschrieben wurde. Aber selbst die Gebildeten lesen immer weniger.

Zwei Autoren, die viel gelesen werden, aber wohl nie unter Ihren hundert bedeutendsten Dichtern zu finden wären, sind Joanne K. Rowling und Stephen King. Beide haben Sie vor kurzem kritisiert. Was mögen Sie an den beiden nicht?

Ich habe mich zu dem Harry-Potter-Zeug geäußert und die Verleihung des "Distinguished Lifetime Achievement Award" an Stephen King bedauert. Ich hätte das nicht tun sollen, weil man sich einen schlechten Ruf einhandelt und mit dummen Menschen konfrontiert wird. Es ist Energieverschwendung, und ich werde in Zukunft nichts mehr über solche Zeitphänomene sagen. Wer Menschen erziehen will, muss tiefschürfend und grundlegend ans Werk gehen.

Harold Bloom: Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur. Übersetzt von Yvonne Badal. Knaus Verlag, Stuttgart 2004, 1088 Seiten.

Freitag, 08. Oktober 2004

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