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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Der italienische Romancier Antonio Tabucchi

Reisender zwischen den Zeiten

Von Elke Papp

Fernando Pessoa muss ins Krankenhaus. Aber vorher will er sich noch rasieren lassen von seinem Barbier, Herrn Manacés. "Man hat immer Zeit", sagt der kranke portugiesische Schriftsteller in Tabucchis Buch "Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa" (italienisch 1994/ deutsch 1998), und dann fordert er den Barbier auf, ihm Geschichten aus dem Laden zu erzählen, während seine drei Begleiter schon im Taxi auf ihn warten.

In Tabucchis fiktiver Biografie wird Pessoa im Krankenhaus von den zahlreichen Schriftstellerfiguren besucht, die er als Stellvertreter seiner selbst erfand und mit eigenen Namen, so genannten "Heteronymen", benannte. Pessoa diktiert ihnen seine letzten Wünsche. Diese Heteronyme sind mehr als bloße Künstlernamen: sie haben während Pessoas Leben (1888 bis 1935) jeweils eigene Biografien entwickelt, und jede dieser Figuren hat einen anderen Teil von Pessoas Werk geschaffen. In seiner Vielgestalt wurde das Werk erst nach Pessoas Tod in einer "Truhe voller Menschen" - wie Tabucchi sie in "Wer war Fernando Pessoa?" (1990/1992) nennt - gefunden. Diese letzten Zwiegespräche zwischen Pessoa und seinen vielen Alter Egos sind erfüllt von wechselseitigen Geständnissen, doch zeigen die Kunstfiguren auch Reue darüber, dass sie den Dichter Nacht für Nacht mit poetischen Eingebungen um den Schlaf gebracht haben.

Liebe zu Portugal

Auch Antonio Tabucchis Schreiben ereignet sich oft in der Schlaflosigkeit - und das ist nur ein Grund, warum Tabucchi, geboren 1943 im toskanischen Vecchiano, seine Liebe für Portugal und die portugiesische Literatur entdeckte. Seit vielen Jahrzehnten pendelt er zwischen Italien und Portugal, er hat Texte Pessoas übersetzt und kommentiert, sodass der portugiesische Dichter mit all seinen Heteronymen schließlich zur Identifikationsfigur für Tabucchis Leben und Werk geworden ist.

Tabucchis "Indisches Nachtstück" (1984/1990) ist auch ein Ergebnis der Schlaflosigkeit und einer ziellosen Reise: Ein Mann sucht seinen Freund, der in Indien verloren gegangen ist. Nicht einmal der Erzähler weiß, warum er den Freund sucht: "Vielleicht möchte er etwas festhalten, was ihm vor langer Zeit entglitten ist. In gewisser Weise sucht er sich selbst. Ich meine, es ist, als ob er sich selbst sucht: in den Büchern geschieht das oft, das ist Literatur."

Tabucchis Literatur ist also eine der letzten Worte, der Dialoge mit Verschollenen und Verstorbenen, des Wachschlafs und der Erinnerung. Das poetische Paradoxon seiner Texte besteht jedoch darin, dass zugleich ein Höchstmaß an Vitalität und Gegenwärtigkeit zutage tritt.

Dabei hadern alle Figuren in Tabucchis Werk auf ihre Weise mit der rätselhaften Zeit, die sich Gegenwart nennt. Ein Mann schreibt an eine Geliebte, die er verloren hat: "Und ich dachte, dass das Leben die Dinge vorsätzlich verschweigt, dass es sich nur selten in die Karten blicken lässt, wie ein Fluss im Karst" ("Es wird immer später", Roman in Briefform, 2001) Das Bild von der Zeit als Fluss führte einst auch Jorge Luis Borges in seinen "Otras Inquisiciones" an, um einerseits die okzidentale Vorstellung von der linearen Abfolge der Zeit und der Einheit des Ich zu verabschieden, und um andererseits zu einer Gleichsetzung von Ich und Zeit zu kommen: "Zeit ist ein Fluss, der mich wegträgt, aber ich bin der Fluss". Im oder als Fluss ist dem Ich die Gegenwart ein flüchtiger Moment.

"Die Vergangenheit ist leichter zu verstehen . . . Wie wir aus bestimmten Romanen, die noch dazu gut sind, wissen, bleibt die Vergangenheit immer irgendwo hängen, und sei es auch in Fetzen. Um sie wahrzunehmen, genügt manchmal ein Reiz, der über den Geruchs- oder Geschmackssinn empfangen wird. Oder irgendeine Erinnerung, egal welche." ("Es wird immer später") Tabucchi spielt hier auf ein berühmt und stilprägend gewordenes Requisit der modernen Literatur an, die proustsche "Madeleine", ein französisches Gebäck, das - in Tee getaucht - im Autor von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" Erinnerungen an die Kindheit hervorruft. Im Allgemeinen will die westliche Welt jedoch von einer Kultur der Erinnerung nichts mehr wissen, klagt der Geliebte seiner verlorenen Geliebten: "Die Zukunft! Die Zukunft! Unsere ganze Kultur beruht auf dem, was wir sein werden, sogar das Evangelium (bei allem Respekt), denn unser wird das Himmelreich sein, die Zukunft also, das was kommt, denn die Vergangenheit ist eine Katastrophe und die Gegenwart genügt nie." Dieser Zwang, vorwärts zu kommen, entfremdet die Individuen ihres Seins, doch haben sie jeden Zweifel an diesem Zustand in sich betäubt.

In einem Interview für den "Courrier de l'Unesco" sagte Tabucchi 1999 über sich selbst und seine Figuren: "Ich habe immer schon widersprüchliche und zerrissene Persönlichkeiten geliebt. Ich ziehe der Anästhesie die Schlaflosigkeit vor. Die Besiegten, die Suchenden sind die Protagonisten meiner Texte. Sie suchen sich selbst durch andere." Solche Suchenden sind Pessoa und Luigi Pirandello. Ersterer imaginiert mit letzterem ein Telefonat in einem der wenigen dramatischen Texte von Tabucchi: "Herr Pirandello wird am Telefon verlangt. Ein versäumter Dialog" (1988/1991). Hier tritt Pessoa als Komödiant in einer psychiatrischen Anstalt, in die sich der historische Pessoa einst selbst einweisen lassen wollte, vor den Patienten auf und fällt dabei immer wieder aus der Rolle: "Ihr hängt zu fest an eurer Gegenwart, ohne ein Zeitmaß, für euch gibt es keinen Seelenfrieden", schleudert er ihnen entgegen, meint sich aber damit selbst ebenfalls.

Ein Suchender ist auch Pereira, der Kulturbeauftragte der Tageszeitung "Lisboa" ("Erklärt Pereira" 1994/1995), der zunächst der politischen Realität des Salazarschen Faschismus im Sommer 1938 aus dem Weg geht, indem er mit dem Bild seiner toten Frau plaudert und sich mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt, um seinen Seelenfrieden zu erhalten. Wie es scheint, parodiert Tabucchi in der Gestalt Pereiras seine eigene Affinität zu literarischen Requien, denn sein Protagonist beauftragt einen jungen, Arbeit suchenden Widerstandskämpfer, mit Nachrufen auf berühmte, aber noch nicht verstorbene Schriftsteller.

Ein Mann namens "Ich"

Ein paar Jahre zuvor hatte der Autor "die Figur, die ich 'ich' nenne" an einem heißen Julisonntag im menschenleeren Lissabon ein Requiem aufführen lassen, das darin bestand, "Menschen zu treffen, die es nur in der Erinnerung gibt" ("Lissabonner Requiem", 1991/94). Dieser Mann namens "Ich", der einen (verstorbenen) Freund oder vielleicht eher sich selbst sucht, um einen belastenden Abschiedskonflikt zu bereinigen, erfährt Klärung erst in einem Kunstwerk der Vergangenheit - "Die Versuchung des heiligen Antonius" von Hieronymus Bosch.

Peireira dagegen tritt über die Schwelle der stillstehenden Zeit und steht plötzlich mitten in der Gegenwart: Er wird Zeuge eines grausamen Verbrechens, das die faschistische Staatsgewalt an dem jungen Widerstandskämpfer begeht. Zum ersten Mal heißt es für ihn "keine Zeit zu verlieren": er schreibt einen Nachruf auf den toten Journalisten, trickst die Zensur aus und verlässt mit einem französischen Pass das Land. In der Fremde wird ihn nicht das 19., sondern das 20. Jahrhundert erwarten. Das Bild seiner Frau aber nimmt er mit - "mit dem Gesicht nach oben, damit es gut atmen konnte".

Tabucchi spielt niemals Gegenwart gegen Vergangenheit, Realität gegen Erinnerung aus. Erinnerungen sind für ihn Quell der Imagination, von der mitunter auch Entlastung zu erhoffen ist, für die Protagonisten wie für den Autor: "Sein ganzes Leben lang hatte dieser Abschied auf ihm gelastet, die Art und Weise dieses Abschieds, am liebsten hätte er ihn rückgängig gemacht, und deshalb machte er ihn jetzt rückgängig" ("Der schwarze Engel", 1991/1996)

Tabucchis Schreiben ist kein billiges Aufbereiten von Reminiszenzen und kein Fluchtangebot für Gegenwartsüberdrüssige. Es ist ein Plädoyer für das "Umkehrspiel": ". . . dass etwas, das 'so' war, eigentlich auch ganz anders war" ("Das Umkehrspiel"). Umberto Ecos melancholisches Bild vom Intellektuellen, der sich aus den tagespolitischen Angelegenheiten heraushält und eine Art "kultureller Administrator" ist, lehnt Tabucchi ab. Das geht etwa aus seinem Text "Platons Gastritis" hervor. Tabucchi selbst bezieht - außer- und innerliterarisch - Stellung gegen soziale und politische Ungerechtigkeit, Repression und Verfolgung von Minderheiten. Den Zweifel an der scheinbaren Perfektion, die uns die Mächtigen vorspielen, hält er für die Pflicht aller, aber für die des Schriftstellers im Besonderen. Das Erschüttern vorgefertigter Wahrheiten gehört auch zur Berufung des Journalisten und Chronisten. Wir können in der Figur Pereira die Entwicklung eines Intellektuellen vom Administrator zu einem, der Stellung bezieht, verfolgen. Tabucchi selbst wurde 1995 im Zuge der Wahlkampagne in Italien zu einer Leitfigur der linken Opposition gegen Silvio Berlusconi. Journalistisch bezieht Tabucchi schon seit vielen Jahren für den "Corriere della Sera" und für "El Pais" Stellung.

Die Wege der Verstorbenen

Die Protagonisten seiner Literatur sind häufig Menschen wie Spino, der sich - genau wie sein Beinahe-Namensvetter Spinoza - in "Der Rand des Horizonts" (1986/1988) damit beschäftigt, dass der Horizont, "sich bewegt, wenn wir uns bewegen". Spino weiß auch, dass wir ins Dunkel treten, wenn wir die Wege von Verschollenen und Verstorbenen betreten, und dass wir uns dabei selbst gefährlich nahe kommen können. Er versucht, den mysteriös verstorbenen Carlo Nobodi zu einem "Somebody" zu machen, der eine Geschichte hat, deren geheimes Versprechen "in ihm und in dieser Art Nachforschung eine Art Erfüllung" findet.

"Wäre es da nicht wünschenswert, wenn sich dem Gesetz zufolge immer ein Schriftsteller unter den Geschworenen befinden müsste?", fragt wiederum der Anwalt in "Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro". Angesichts eines in einem Lissaboner Polizeikommissariat grausam gefolterten und getöteten jungen Mannes - Tabucchi bezieht sich hier auf ein reales Ereignis - stellt er die Frage: "Was bedeutet es, gegen den Tod zu sein?"

Alles, was wir tun, tun wir in Tabucchis Sichtweise gegen oder auch für den (eigenen) Tod. Wir schlagen selbst die Zeit tot, um die Angst vor dem Tod zu verscheuchen - wie der kleine Junge in "Das Umkehrspiel", der einen Sommer lang im stillen Haus lateinische Deklinationen lernt. Tabucchi belässt es jedoch nicht bei der Angst davor, dass unsere Zeit abläuft. Der Tod eines jeden zeigt für ihn auch die Unentbehrlichkeit des Menschen für seine Mitmenschen. Wir kommen nicht zur Ruhe, weil wir auf der Suche nach uns selbst sind. Dieses Selbst aber ist im Anderen.

Für diese Selbstsuche heißt es sich Zeit zu nehmen - so wie in Tabucchis rätselhaften Vexierspielen in Zügen, auf Friedhöfen, in Restaurants und vielen anderen Orten des Unterwegsseins, in denen es auch an Handleserinnen und Engeln nicht mangelt. Dabei kann es geschehen, dass wir selbst einem "Umkehrspiel" unterliegen und anderswohin entrückt werden, während wir wartend an der Mole stehen, wie einst Alvaro de Campos, einer der Heteronyme Pessoas.

Die Bücher von Antonio Tabucchi erscheinen auf Deutsch, unter anderem in Übersetzungen von Karin Fleischanderl, im Hanser Verlag, München.

Freitag, 27. August 2004

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