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Zum 200. Geburtstag von George Sand

Das Leben ist ein Roman

Von Ingeborg Waldinger

Europa ist im Umbruch. Die Französische Revolution hat das "Ancien régime" gestürzt. Das Prinzip liberté, égalité, fraternité bringt dem Bürger Gleichheit vor dem Gesetz, freie Berufswahl, Glaubensfreiheit. De jure ist manches neu, de facto bestimmen weiterhin Adel und Kirche den Staatskurs. Bonaparte hegt Sympathien für das revolutionäre Ideengut, vermag es aber nicht recht in Einklang zu bringen mit seinem Cäsarismus. Als Kaiser Napoleon führt er eine von politischen und sozialen Widersprüchen geprägte Regentschaft. Sein Bestreben, Frankreich die Vormachtstellung am Kontinent zu erstreiten, erfordert eine "Grande Armée". In dieser dient auch Maurice Dupin, ein Aristokrat aus dem Berry. Auf seinen Feldzügen quer durch Europa lernt Dupin die Tochter eines Pariser Vogelhändlers kennen. Die beiden heiraten heimlich, am 1. Juli 1804 wird in Paris das erste Kind der nicht standesgemäßen Alliance geboren. Es trägt den Namen Amantine-Aurore-Lucile Dupin - und wird sich unter dem Pseudonym George Sand in den Olymp der Literatur einschreiben.

Frühes Leid

Noch heißt George Sand aber Aurore Dupin und wächst in einer bescheidenen Pariser Mietwohnung auf. Als Vierjährige bricht sie mit ihrer hochschwangeren Mutter nach Madrid auf, wo der Vater stationiert ist. Kaum hat Aurores Brüderchen das Licht der Welt erblickt, heißt es für Mutter und Kinder die Rückreise antreten - durch das heiße, kriegswunde Spanien. Erschöpft trifft das Trio in Nohant ein, dem Landgut der Großmutter im Berry. Das Neugeborene überlebt die Strapazen nicht, und nur Tage später verunglückt Vater Maurice Dupin tödlich. Aurores Mutter, die noch eine voreheliche Tochter zu versorgen hat, zieht nach Paris. Aurore wächst bei der Großmutter in Nohant auf. Die sittenstrenge Erziehung der widerspenstigen Kleinen übernimmt ein ehemaliger Abt. In der "Geschichte meines Lebens" (1854) erinnert sich die spätere Dichterin:

"Zu dieser Zeit begannen die . . . ermüdenden Reden, mit welchen der gute Deschartres mich für die Freuden und Vorteile des Besitzes empfänglich zu machen versuchte. Ich weiß nicht, ob ich von Natur zur entgegengesetzten Doktrin neigte, oder ob es die Schuld des Lehrers war, aber gewiss ist, dass ich mich aus Widerspruchsgeist dem blindesten, absolutesten Kommunismus ergab: ich kam für mich zur Überzeugung, dass das göttliche Gesetz für alle Menschen Gleichheit des Standes und des Besitzes verlangte und dass alles, was das Glück dem einen gab, dem anderen gestohlen wäre . . ."

An dieser Einstellung sollte auch das Intermezzo bei den englischen Augustinerinnen in Paris nichts ändern. Als die Großmutter stirbt, kommt Aurore auf das Schloss einer befreundeten Familie in der Brie. Dort findet sie ein familiäres Umfeld, und im Sohn des Hauses ihren Ehemann, Baron Casimir Dudevant. Zwei Kinder werden geboren, man führt ein Wanderleben zwischen Paris, Nohant und dem gaskognischen Landsitz des Gatten. Die Ehe bleibt eine nüchterne Veranstaltung. Als Institution spiegelt sie eine Gesellschaft wider, in der "alle Macht auf der Seite des Bartes" steht. Baronin Aurore Dudevant ist nicht gewillt, den von Gesetz und Konvention geforderten Gehorsam zu erbringen, sich als Frau selbst zu verleugnen. Sie lässt Mann und Kinder in Nohant zurück und übersiedelt nach Paris.

Paris, in die Welthauptstadt des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet: die Provinz abstreifen, mit dem Bohémien Jules Sandeau eine Mansardenwohnung beziehen, frei sein, Männerkleidung tragen, rauchen. Und vor allem: schreiben, dem eigenen Republikanismus Ausdruck verleihen. Als Journalistin, als Romancière. Denn die Zeichen stehen erneut auf Sturm.

Die Juli-Revolution von 1830 ist eben gescheitert, die republikanische Opposition ausgeschaltet. Es regiert der Bürgerkönig Louis-Philippe, besser gesagt: das Groß- und Finanzbürgertum. Der alte Adel führt fortan eine Privatexistenz. Nun werden die Grundlagen zu einer modernen, kapitalistischen Gesellschaftsordnung gelegt. Man baut Eisenbahnen und Fabriken; Bankwesen und Börse boomen. Große Vermögen entstehen - und noch größeres Elend. Katastrophale Arbeitsbedingungen und die Wohnungsnot in den Städten sind die Grundlagen für frühsozialistisches Ideengut. Romantiker Saint-Simon entwirft eine "neu-christliche" Gemeinschaft der Tätigen, Proudhon erklärt Eigentum zum Diebstahl ("la propriété c'est le vol"), Lamennais plädiert für die Trennung von Kirche und Staat und redet einer Art "Christiano-Kommunismus" das Wort. Die Arbeiterschaft formiert sich, Frauen kämpfen um Gleichberechtigung und die Presse gegen die Zensur. Dem Bürgerkönig Louis-Philippe bläst eine steife Brise entgegen.

Wo positioniert sich in jenen Zeiten der Künstler? Im konservativ-feudalen, im progressiv-bürgerlichen oder im proletarischen Lager? Rebelliert er gegen die Welt oder arrangiert sich mit dieser? Für welches Publikum schreibt er?

Künstlername George Sand

Zeitungen öffnen ihr Feuilleton für die Diskussion um künstlerische Standortprobleme - und für den Vorabdruck von Romanen. "Populäre" Kunst für ein breites Publikum ist gefragt, welche das Volk thematisiert und auch erreicht. Doch das soziale Engagement von Presse und Autoren ist enden wollend, der Druck des Systems groß.

Auch Baronin Dudevant schreibt nun Romane - und nennt sich fortan George Sand. Ihre Liaison und Koautorenschaft mit Jules Sandeau ist Geschichte, die große Kulturzeitschrift "Revue des Deux Mondes" ihr erstes Forum. Sands "blaue Mansarde" etabliert sich als Salon, welchen Balzac, Sainte-Beuve, Mérimée, Musset, Lamennais, Liszt samt Baronin d'Agoult, Béranger und Heine frequentieren.

Mit dem Roman "Indiana" landet George Sand ihren ersten Erfolg. Es ist die Geschichte einer "mal-mariée", einer unglücklich Verheirateten. Ein Jahr später, 1833, folgt mit "Lélia" ein Bestseller. Die Kritik polemisiert: "Besudelt, düster, nach Kot und Prostitution stinkend, verstehen Sie, Prostitution der Seele und des Körpers: Das ist Lélia . . ."

Wieder geht es um das Psychodrama einer leidenschaftlichen Frau, um Konvention und Rebellion, um unerfüllte und unerfüllbare Liebeserwartungen. Man entdeckt in dem Buch autobiographische Züge. Längst sorgen Sands Amouren für Gesprächsstoff, Tout-Paris weiß um ihre legendäre Liaison mit Alfred de Musset. Starke Frau - fragiler Mann: Konstellationen dieser Art drängen die Frau bald aus der Rolle der Geliebten: ". . . und warst doch nur meine Mutter . . .", schreibt Musset an seine geliebte George. Das Beziehungsmuster sollte sich in Sands Verbindung mit dem Musiker-Genie Chopin wiederholen.

Die skandalumwitterte femme fatale klagt erfolgreich auf Trennung vom Ehemann, erstreitet die Vormundschaft über die Kinder und die Verfügungsgewalt über das eigene Vermögen. George Sand ist eine Vorkämpferin für die Rechte der Frau, wenngleich sie in späteren Jahren zu manchen emanzipatorischen Forderungen auf Distanz geht. Freiheit und Gleichheit lebt auch die umherziehende Künstlerin "Consuelo" in dem gleichnamigen Roman; ihre Wege führen sie unter anderem an den Wiener Hof.

Nicht nur in Paris, in ganz Europa, vor allem in Russland ist der "Sandisme" zum Begriff geworden. Die Autorin verdient mit ihrer Feder den Lebensunterhalt, zieht mit den Kindern nach Nohant, und versammelt dort abermals bedeutende Maler, Musiker und Literaten um sich. Während ihrer Paris-Aufenthalte pflegt sie Kontakte zu sozialistischen Denkern, zu Vertretern der Arbeiterschaft. Ihr "romantisme de gauche" findet in mehreren "Sozialromanen" Niederschlag. Diese erzählen gerne von proletarischen Helden und deren Mesalliance mit einer Frau höherer sozialer Herkunft. Tu felix proletarius, nube? Die Überwindung von Klassenschranken durch Heirat klappt vielleicht im Roman, wie im "Müller von Angibault": Junge Gräfin ohne Standesdünkel liebt klassenbewussten Pariser Handwerker, und lebenskluger Müller eine "zu reiche" Frau. Der Plot mündet in einem öko-sozialen Pilotprojekt der glücklich vereinten Paare.

Beharrlich transportiert George Sand in den 1840er Jahren ihre Sozialkritik über das Medium Roman. In "Le Compagnon du tour de France" heißt es: ". . . es gibt nicht zwei Völker, es gibt nur eins. Der, welcher in euren Häusern arbeitet, lächelnd, ruhig und gut gekleidet, ist derselbe, welcher rebellisch, drohend und mit Lumpen bedeckt vor euren Türen brüllt. Der einzige Unterschied ist der, dass ihr dem einen Arbeit und Brot gabt, für den andern aber keine Beschäftigung gefunden habt."

Die Aristokratie hat andere Sorgen, - der Marktwert ihrer verschuldeten Landgüter rasselt in den Keller. Wer wollte schon sein Kapital in unrentable Immobilien stecken, in Zeiten, ". . . wo man doch Roulette spielen kann, oder an der Börse, in den Kohlegruben oder bei der Eisenbahn . . . Sie müssen also auf einen ängstlichen Adeligen treffen, der aus Furcht vor einer Revolution lieber sein Geld zu zwei Prozent anlegt, als dass er sich in hübsche Spekulationen stürzt, die heutigentags alle in Versuchung führen." (Der Müller von Angibault)

Träume vom Landleben

Die Autorin, selbst eine "soziale Mestizin", ortet die gesellschaftliche Erneuerungskraft nicht im Bürgertum, sondern in den "classes inférieures". Zudem wird sie nicht müde, die Kultur der ländlichen Welt (ihren bevorzugten literarischen Schauplatz) gegenüber der Pariser Norm aufzuwerten. Mit fortschreitenden Jahren idealisiert sie Volk und Landleben geradezu, malt die Provinz als ahistorisch-idyllisches Tableau. Für den Wiener Romanisten Fritz Peter Kirsch kompensiert George Sand "ihre Abweichungen vom Standard durch die Pflege einer Hochmoral, die ihren Bauern und Proletariern die Patina altfränkischer Ritterlichkeit verleiht."

Dieser Gesinnungswandel entspringt der tiefen Enttäuschung über die Feber-Revolution 1848. Das republikanische Interregnum währt kurz, das "Second Empire" unter Napoleon III. nahezu 20 Jahre. George Sand gibt den politischen Journalismus auf, wählt das innere Exil. Viele ihrer Mitstreiter verlassen das Land. Ihre literarische Produktion büßt zwar nichts an Umfang ein, aber an reformerischem Elan. Ihre Haltung gegenüber technischem Fortschritt und Kapitalismus lässt nunmehr eine gewisse Konzilianz erkennen, wie etwa im Roman "La Ville noire".

Die Commune von 1871 repräsentiert für die einstige Rebellin nur noch die "Saturnalien des Pöbels, welche auf die des Kaiserreichs folgten". Bis zu ihrem Tode veröffentlicht George Sand noch viele Dramen und Romane; ihr Briefwechsel mit Freunden und Gegnern füllt weitere Bände. Die couragierte, wohltätige, von ihren Zeitgenossen verehrte wie verhöhnte Dichterin wird am 8. Juni 1876 in Nohant beigesetzt. Prince Napoleon, Prominenz aus Presse und Literatur sowie die Bauern des Umkreises geben ihr das letzte Geleit.

George Sand: Nanon. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Heidrun Hemje-Oltmanns. dtv München 2004 (Neuauflage zum 200. Geburtstag der Autorin), 368 Seiten.

George Sand: Briefe. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Annedore Haberl. Revidierte Neuausgabe mit zahlreichen Abbildungen. dtv München 2004, 576 Seiten.

Essen und Trinken mit George Sand auf Mallorca. Herausgegeben von Eva Gesine Baur. Mit Fotos von Rainer Fichel, Rezepten und weiteren Abbildungen. dtv München 2004, 128 Seiten.

Gisela Schlientz: George Sand. Leben und Werk in Texten und Bildern. insel Verlag, Frankfurt/Main 1999, 407 Seiten.

Freitag, 25. Juni 2004

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