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Auf Robert Musils Spuren im trientinischen Valle del Fèrsina

Musil: Im Tal der merkwürdigen Leute

Von Christiane M. Pabst und Manfred Wieninger

Den Filzerhof kann man nur zu Fuß erreichen. Daran hat sich seit dem 13. Jahrhundert nichts geändert. In 1.250 Meter Seehöhe hängt er bei Kilometer 10 der Landesstraße 135 in der linken Flanke des italienischen Valle del Fèrsina, das von seinen Bewohnern auch Fersental genannt wird. Die Filzmosers sind zu Beginn des 17. Jahrhunderts von diesem Hof weggezogen, das nachfolgende Geschlecht der Laner mit dem Übernamen Filzer ist 1967 ausgestorben. Der Filzerhof verfiel, Wind und Wetter ramponierten sein archaisches Schindeldach. Erst 1998 konnte er renoviert werden. Als Museum ist er nun eine Stütze des aufkeimenden Tourismus im Tal, die potentiellen Besucher werden im Fremdenverkehrsamt von Sant'Orsola Terme am Taleingang aber vorsorglich aufgefordert, entsprechendes Schuhwerk zu tragen. Weil der Filzerhof eben nur per pedes zu erreichen ist . . .

In seinem schönsten Schuldeutsch erzählt uns das ein sehr bemühter, aber ein wenig pubertär-schüchterner Mittelschüler aus Palai, dem letzten Ort am Ende des Fersentals, der in den Ferien am Filzerhof als Fremdenführer fungiert. Dann beginnt er die alten bäuerlichen Bau- und Wirtschaftsformen, Gerätschaften usw. in einer uns fremden Sprache zu benennen und zu erläutern. Als wir ihn bitten, die Führung auf Mòcheni, das heißt auf Fersentalerisch, fortzuführen, ist er zunächst leicht verwirrt und bekundet seine Überraschung in sehr schnell gesprochenem Italienisch. Dann lächelt er leise, und wir hören plötzlich Worte wie Teitsch (Heuscheune), Öum au (Obergeschoß), Schap (Reisigstreu), Echern van Boaz (Weizenähren), Schbainstoll (Schweinestall), Keira (Toilette) - Worte aus dem 13. Jahrhundert. Und das keine 20 Kilometer östlich der Großstadt Trient!

Deutsche Bergknappen

"Es lebten übrigens merkwürdige Leute in diesem Talende. Ihre Voreltern waren zur Zeit der tridentinischen Bischofsmacht als Bergknappen aus Deutschland gekommen, und sie saßen heute noch eingesprengt wie ein verwitterter deutscher Stein zwischen den Italienern. Die Art ihres alten Lebens hatten sie halb bewahrt und halb vergessen, und was sie davon bewahrt hatten, verstanden sie wohl selbst nicht mehr." So schrieb Robert Musil in seiner 1924 als Teil des Zyklus "Drei Frauen" erschienenen Novelle "Grigia", die zur Gänze im Valle del Fèrsina, dem Fersental, spielt. Der Dichter, dessen gigantisches Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften" heute zum Kanon der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts gezählt wird, wusste, wovon er schrieb; er hatte mit dem archaischen Tal am Ende der Welt seine Erfahrungen gemacht.

Seit Jänner 1915 war der Reserve-Offizier Musil als Adjutant des Landsturm-Infanterie-Bataillons Nr. 169 in den trientinischen Landstädten Levico und Pergine stationiert. Es war ein Dienst in der Etappe, zwar dicht an der Grenze, aber eben Etappe. "Die Lage ist wesentlich entspannter als früher, es sind bestimmte Anzeichen dafür vorhanden, die mein Mann weiß [...]; und auch für den Außenstehenden ist die Tatsache, dass hier, so nahe an der Grenze, sehr viele Verwundete untergebracht sind, ein beruhigendes Zeichen, denn die würden bei Gefahr zuerst fortgeschafft werden", schrieb Martha Musil damals in einem Brief. Musils Gattin konnte wie viele Offiziersfrauen mit ihrem Mann am jeweiligen Stationierungsort zusammenleben: "Wir haben eine große Offiziersmenage und leben ganz lustig. - Ich versuche nicht an die Wahrscheinlichkeit, dass mein Mann noch ins Feld muss, zu denken."

Sofort nach der Kriegserklärung des Königreiches Italien an Österreich-Ungarn am 23. Mai 1915 wurde Oberleutnant Musil jedoch mit seiner Landsturm-Infanterieeinheit zum Kampfeinsatz verlegt. Es ging im Eilmarsch von Pergine - laut Musil "ein Maulbeer und Wein bauendes, verschlossen reiches italienisches Städtchen" - am Eingang des Fersentals nach der archaischen Ortschaft Palai am Talende. Mehr als 20 Kilometer waren zu überwinden und ein großer Höhenunterschied; eine Straße musste sich das Militär in den kommenden Monaten erst noch selber bauen.

"Er hing an der Lehne eines Hügels; der Saumweg, der sie hingeführt hatte, sprang zuletzt förmlich von einem großen platten Stein zum nächsten, und von ihm flossen, den Hang hinab und gewunden wie Bäche, ein paar kurze steile Gassen in die Wiesen", beschrieb der Autor den Weg später in seiner Novelle "Grigia".

Auf den Großstädter Musil machte die extreme Landschaft des unzugänglichen Fersentals jedenfalls gehörigen Eindruck. Neben den beiden ungleichen Liebenden, dem Bergwerksingenieur Homo, der "die alten venezianischen Goldbergwerke im Fersental wieder aufschließen wollte", und der Bäuerin Lene Maria Lenzi, genannt Grigia, ist das Weichbild des Tales quasi als dritter Hauptdarsteller in die Erzählung eingegangen: "Auch die Landschaft um dieses Dorf war nicht ohne Sonderbarkeiten. Sie bestand aus einem mehr als halbkreisförmigen Wall hoher, oben von Schroffen durchsetzter Berge, welche steil zu einer Senkung abfielen, die rund um einen in der Mitte stehenden, kleineren und bewaldeten Kegel lief, wodurch das Ganze einer leeren gugelhupfförmigen Welt ähnelte, von der ein kleines Stück durch den tief fließenden Bach abgeschnitten worden war, so dass sie dort klaffend gegen die hohe, zugleich mit ihm talwärts streichende andere Flanke seines Ufers lehnte, an welcher das Dorf hing." Das Militär richtete sich, so gut es ging, in Palai ein, die Offiziere, unter ihnen Musil, logierten etwas bequemer als die Mannschaften im Pfarrhof.

Die Gefechte am Fersentaler Frontabschnitt dürften den Dichter anfangs wenig beeindruckt haben. "Musil machte Notizen über Artillerie-Duelle, die ihn an steinewerfende Knaben erinnerten, und hielt am 1. Juni 1915 fest, das Leben sei unverändert wie stets, mit Ausnahme der zwei Patrouillentage, also Erledigung der Post, Telefongespräche, Kartenspiel", schreibt Karl Corino in seiner neuen, gewichtigen Musil-Biographie. Mehr Eindruck als der Krieg machte dem Offizier und Dichter offenbar das, was die "merkwürdigen Leute" zu sagen hatten. Er bekam jedenfalls Sätze und Wendungen zu hören wie "Geh ea!", "auf's g'schwindige Wiederseh'n", "i seh's ihm eini" und "ah, das is an extrige Sküß" und notierte all das mehr oder minder genau in seiner Novelle "Grigia": "Er fragte sie, was das heißen solle, aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus, und er musste selbst erst lange nachdenken."

Was der Dichter einige Jahre später mehr oder weniger genau in seinen literarischen Text übernommen hat, war im Prinzip eine Sprache aus dem 13. Jahrhundert, als Nord- und Südtiroler Bergarbeiter und Bauern ins Valle del Fèrsina einwanderten.

Sie gründeten auf der Schattseite des "Bersntols", wie sie es nannten, die Dörfer St. Franz, St. Felix, Eichleit, Gereut, Florutz und Palai. Auf der Sonnseite lag und liegt bis heute der italienischsprachige Ort Sant'Orsola Terme. Es waren die Bodenschätze des Bersntols, die zumindest bis ins 19. Jahrhundert genug Wohlstand generierten, um allen Bewohnern, Italienern wie Tiroler Kolonisten, ein Auskommen zu ermöglichen. In gewisser Weise handelte die Geschichte des Fersentales jedenfalls bis zum Ersten Weltkrieg durchaus vom glücklichen Zusammenleben zweier Ethnien - wenn auch gelegentlich mehr oder minder heftig übereinander gespottet worden sein dürfte. So wurden und werden die Fersentaler von ihren italienischen Nachbarn mit dem Spitznamen "Mòcheni" nach dem Verb mochn - machen bedacht: Das Valle del Fèrsina wird bis heute auch Valle dei Mòcheni genannt.

Lene Maria Lenzi

Martha Musil war inzwischen aus dem Frontgebiet nach Innsbruck abgereist, nachdem sie den Gatten noch einen Tag lang in Palai besucht hatte. Was danach im Fersental geschah, nämlich eine der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur, lässt sich in "Grigia" nachlesen: "Sie hieß Lene Maria Lenzi; das klang wie Selvot und Gronleit oder Malga Mendana, nach Amethystkristallen und Blumen, er aber nannte sie noch lieber Grigia, mit langem I und verhauchtem Dscha, nach der Kuh, die sie hatte, und Grigia, die Graue rief. Sie saß dann, mit ihrem violett braunen Rock und dem gesprenkelten Kopftuch, am Rand ihrer Wiese, die Spitzen der Holländerschuhe in die Luft gekrümmt, die Hände auf der bunten Schürze verschränkt, und sah so natürlich lieblich aus wie ein schlankes giftiges Pilzchen, während sie der in der Tiefe weidenden Kuh von Zeit zu Zeit ihre Weisungen gab." Lene Maria Lenzi ist kein erfundener Name. "Musil machte sich nicht einmal die Mühe, die Identität der Frau zu verschleiern. In der Annahme, sein Text werde sich nicht in hundert Jahren ins Fersental verirren, folgte er der Magie des biblischen Namens (Maria Magdalena!) und gab ihre bürgerliche Identität preis. Der Grabstein auf dem kleinen Friedhof von Palai mit ihrem Medaillon verrät die Lebensdaten (15. 5. 1880 bis 6. 3. 1954) und dass sie eine Art von bäurischer Doppelgängerin Marthas war", schreibt Karl Corino. In der Novelle wird Grigias Physiognomie so beschrieben: "Und das Gesicht, das zu ihr gehörte, war ein ein wenig spöttelndes Gesicht, mit einer feinen, graziösen Gratlinie, wenn man es von der Seite ansah, und einem Mund, der ihm sehr auffiel. Dieser Mund war geschwungen wie Kupidos Bogen, aber außerdem war er gepresst, so wie wenn man Speichel schluckt, was ihm in all seiner Feinheit eine entschlossene Rohheit, und dieser Rohheit wieder einen kleinen Zug von Lustigkeit gab [...]." Was Musil in der Novelle über die Fersentalerinnen sagt, nämlich "Sie verfügten über eine verwirrend freie Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit", galt offenbar auch für die unverheiratete Lenzi. In des Dichters Tagebuch aus jenen Tagen steht: "Er liebt eine Frau und kann nicht widerstehen, eine andere zu probieren. Die Forderung der Treue ist, die erste hors de concours (d. h. außer Konkurrenz) zu rücken. Seine Form dafür die ekstatische Liebe. Indem er ekstatisch liebt, kann er den niedrigen Lüsten Freiheit geben. Genügt das nicht, so kommt die Demütigung der zweiten." Da nützte es auch nichts, wenn Martha Musil den Strohwitwer am 5. Juni in einem Brief misstrauisch fragte: "Ist Erdgeruch nahe? Und Jauche? Und starkes Buntes mit übersonntem Gesicht?" Die ungleiche Romanze zwischen dem Intellektuellen Homo - Robert Musil - und der Bergbäuerin Grigia - Lene Maria Lenzi - macht den Reiz der Novelle aus, mit der Musil 1924 erfolgreich an seine Vorkriegspublikationen anschließen konnte.

In der Literatur endet die Beziehung tragisch: Ein eifersüchtiger Nebenbuhler schließt die Liebenden bei einem Stelldichein in einem aufgelassenen Bergwerk ein, wo Homo verschmachtet, während Grigia durch eine Felsspalte entkommen kann. In der Realität wird Oberleutnant Dr. Musil Ende August 1915 an einen anderen Frontabschnitt versetzt. Im Gepäck hat er ein Tagebuch mit dem literarischen Material zu "Grigia". Seine Fersentaler Sommerliebe sieht er niemals wieder.

Ende einer Sprachinsel?

Was die Überlebenschance des Sprachinsel-Idioms im vom binnendeutschen Sprachraum isolierten Fersental betrifft, war bereits Robert Musil zur Zeit des Ersten Weltkrieges skeptisch. Und er schien Recht zu behalten. Schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte eine massive Abwanderung der Fersentaler Bauern in die trientinischen Industriezentren ein. Während des Zweiten Weltkrieges optierten viele Bersntoler im Sinne des Abkommens zwischen Hitler und Mussolini für eine Aussiedlung nach Böhmen, in die Gegend von Budweis. Unter ihnen auch Lene Maria Lenzi. Nicht alle sind von dort wieder zurückgekehrt. Heute sprechen zum Beispiel im 120 Einwohner zählenden Dorf Garait, das längst zum italienischen Frassilongo geworden ist, vielleicht noch zehn, fünfzehn ältere Leute den althergebrachten Sprachinseldialekt.

Etwas besser ist die Situation in Vlarötz, auf italienisch Fierozzo, in Oechlait, auf italienisch Roveda, und vor allem in Palai, auf italienisch Palù del Fèrsina. Ganz allgemein leiden die Fersentaler Ortschaften aber an Überalterung, der höchsten im ganzen Trentino. Im einzigen Kindergarten und in der Grundschule des Tales wird neben Italienisch seit einigen Jahren auch Hochdeutsch gelehrt und gelernt, nicht jedoch der Sprachinseldialekt. Die meisten Eltern sind froh darüber, dass ihren Kindern ausschließlich Schriftdeutsch beigebracht wird. Durch den langsam auch im Fersental aufkeimenden Tourismus sei das, so meinen sie, für die berufliche Zukunft wichtig. Die Mehrheit der Eltern sieht aus diesem Grund auch nur wenig Sinn darin, eine Mundart aus dem Mittelalter weiter zu tradieren, die kein Gast aus Wien oder Wuppertal richtig versteht.

Freitag, 23. April 2004

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