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Eine Erinnerung an die französische Dichterin Anna de Noailles

De Noailles: Die Königin von Paris

Von Martin G. Petrowsky

Dichterin der Jugend und der Liebe, kleine Göttin, die im Licht und in der Freude tanzt, Königin von ganz Paris - so überschwänglich wurde Anna-Elisabeth de Brancovan, verheiratete Comtesse Mathieu de Noailles, von ihren zeitgenössischen Verehrern charakterisiert. Und deren gab es viele und höchst prominente. Der leidenschaftlichste ihrer Bewunderer war wohl Marcel Proust, in ihrem Salon verkehrten aber viele Persönlichkeiten ihrer Zeit: Pierre Loti, André Gide, Paul Valéry, Colette, Jean Cocteau, Alphonse Daudet, Paul Claudel und andere. Sie alle wurden wohl angezogen von der einmaligen Schönheit und Anmut der "rumänischen Prinzessin"; sie waren aber auch hingerissen von der Bildersprache und Ausdruckskraft der Poesie der Comtesse, die schon nach ihrem ersten Gedichtband als bedeutendste zeitgenössische französische, ja europäische Dichterin angesehen wurde. Joseph Reinach verstieg sich gar zu dem Kompliment: "In Frankreich, Madame, gibt es nur drei Wunder: Jeanne d'Arc, die Marne und Sie!"

Anna de Noailles hat ihrem Publikum nicht verheimlicht, dass sie für die Ewigkeit schreiben wollte: "Ich sprach aus, was ich gesehen, was ich gefühlt habe, um auch nach dem Tod noch manchmal geliebt zu werden." Hat sie dies geschafft? Sie war der romantischen Schule bis zuletzt verbunden geblieben, hielt nichts von Sprachexperimenten und beobachtete die neuen Trends wie den Dadaismus ihres Landsmanns Tristan Tzara oder den Surrealismus eines André Breton zwar mit distanziertem Interesse, aber ohne persönliche Anteilnahme. Und sie verschwand sukzessive aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, wurde vergessen. Dabei hat ein Symposium, das im vergangenen Jahr aus Anlass des 70. Todestages in Paris abgehalten wurde, erneut dokumentiert, welch bedeutende Persönlichkeit die Dichterin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist.

Ein kontemplatives Leben

Geboren 1876 in Paris als Tochter eines rumänischen Fürsten und einer griechischen Adeligen, wuchs Anna-Elisabeth de Brancovan in der geschützten Atmosphäre der großen Pariser Salons auf, in denen sich die führenden Wissenschaftler und Künstler der Zeit zu Diskussion und Inspiration zusammenfanden. Die Sommer verbrachte sie im Landsitz am Genfer See, was wohl ihre lebenslange Liebe zur Natur und ihre kontemplative Neigung förderte. Schon mit 13 Jahren schrieb sie leidenschaftliche Gedichte, die ihre frühe Einsicht in die stetigen Abläufe der Natur bezeugen. In ihren Lebenserinnerungen ("Le Livre de ma Vie", 1932) schreibt sie aber auch, dass es wohl kein in Liebe und Zärtlichkeit umsorgteres Kind gab als sie, und die Zuneigung der Menschen ihrer Umgebung blieb ihr immer wichtig. Eine nette Anekdote aus der Kindheit: Zur Begrüßung einer englischen Prinzessin sollte Anna eine kleine vorbereitete Rede halten, die mit dem Satz endete: "The welcome be your royal Highness!" Anna machte daraus ". . . your Royal

Honey."

Schon früh denkt Anna über Leben und Tod, über den Sinn des Daseins nach. "Ich kann nicht vergessen, wie bewegt ich war, als ich das erste Mal die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte las", schreibt sie im Livre de ma Vie, "Die Menschen werden frei und gleichberechtigt geboren und bleiben es - Vernunft und Anständigkeit gebieten es so. Doch nach dem Tod bemächtigt sich die gerechte Ungleichheit des Körpers, . . . die Ungleichheit bewundert in den verehrten Toten die Summe ihrer körperlichen und geistigen Verdienste und so werden Millionen Menschen durch einen einzigen aufgewogen." Diese Einsicht in die Ungleichheit der Menschen erzeugt bei dem Mädchen aber auch ein Gefühl, das bis zu ihrem Tod dominant bleiben wird: Mitleid mit allen, denen es schlechter geht. Sie hat sogar Gewissensbisse, wenn sie ihr abendliches Bad genießt, wohl wissend, dass die meisten Kinder dieses Privilegs entbehren müssen. Mitgefühl, Einfühlungsvermögen in die anderen und Einsicht in die großen, ewigen Zusammenhänge - das sind wohl die Grundlagen, die schon die frühen Verse der weltoffenen jungen Frau so berührend machen.

Mit 21 Jahren heiratet Anna den Comte Mathieu de Noailles, mit 25 bringt sie ihre erste Gedichtsammlung heraus: "Le Cœur Innombrable." Dieses Buch wird in Paris enthusiastisch aufgenommen; Marcel Proust schreibt der Comtesse, nicht nur Reynaldo Hahn, Freund und Komponist, sei verrückt danach, auch Sarah Bernhardt sei begeistert und halte Anna für ein Genie, für die größte lebende Dichterin. So wird Anna de Noailles schlagartig zum uneingeschränkten Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft, ihr Haus in der Avenue Henri-Martin an einer Stelle, wo früher der Dichter Lamartine gewohnt hatte, wird zum Treffpunkt der geistigen Elite des Landes. Niemand scheint sich der Anmut, dem Charme, der Bildung und der lyrischen Ausdruckskraft der schönen Comtesse entziehen zu können.

In kurzen Abständen folgen weitere Gedichtbände (u. a. "L'Ombre des Jours", "Les Eblouissements") und Romane (u. a. "La nouvelle Espérance", "Octave"); aufgrund der schrecklichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs gesellen sich zu ihren dominierenden Motiven - "Naturverbundenheit, Liebe, Leidenschaft und Schmerz, Angst vor Abschied und Tod - auch politische Themen" (Andrea Schweers).

Ehren und Verehrer

Als erste Frau wird die Comtesse de Noailles schon 1910 für die Aufnahme in die Académie Française vorgeschlagen - ohne Erfolg, sie erhält jedoch als "Trost" den

Großen Literaturpreis der Académie und wird 1921 in die Königlich-Belgische Akademie aufgenommen. Neben der leidenschaftlichen Verehrung durch Marcel Proust

ist auch die anhaltende Freundschaft mit Jean Cocteau in Erinnerung, der Anna eine Zeichnung widmete.

Nach 1920 wird die Dichterin durch eine tückische Krankheit zunehmend ans Bett gefesselt; sie muss ihre gesellschaftlichen Aktivitäten radikal reduzieren. Ihre Schaffenskraft bleibt jedoch bis zu ihrem Tod im April 1933 ungebrochen.

In ihren späten Reflexionen ("Exactitudes", 1930) nimmt Anna de Noailles wieder ein Stilelement auf, das schon viele ihrer Gedichte geprägt hat: die direkte Anrede, der direkte Dialog mit dem Objekt ihres Interesses - ob Gegenstand in der Natur, abstrakter Begriff oder realer Gesprächspartner. So wendet sie sich in "Les justes Paroles" mit der Frage an den Tod, was denn das schlimmste Übel wäre, und lässt den Tod antworten: "Die vollendete Vernunft. Durch sie bleibt uns die Ungleichgewichtung des Universums nicht verborgen, nicht sein gnadenlos absonderliches Gesetz, nicht die Schwäche unserer Mitmenschen . . ."

Im deutschen Sprachraum ist das Werk der Comtesse weniger hoch bewertet worden als in Frankreich; dies mag damit zusammenhängen, dass hier die Romantik schon früher durch die neuen literarischen Strömungen verdrängt worden ist. Umso mehr hat sich Anna de Noailles über Übersetzungsproben gefreut, die sie 1927 von der damals völlig unbekannten Österreicherin Erika Mitterer erhielt. ". . . und ich wäre sehr glücklich, würden meine Gedichte durch eine Künstlerin wie Sie so poetisch und den Bildern treu bleibend übersetzt werden . . .", schrieb sie der engagierten 21-Jährigen zurück und autorisierte sie explizit zur Nachdichtung und Veröffentlichung. Doch Erika Mitterer fand trotz vieler Bemühungen keinen Verleger, zu unmodern schienen den deutschen Lektoren Sprache und Bilder der Noailles. Dennoch - auch heute kann man sich dem Reiz dieser Dichtung nur schwer entziehen:

PLAINTE

Mets les mains sur mon front où tout l'humain orage

Lutte comme un oiseau,

Et perpétue ainsi qu'aux creux des coquillages

Le tumulte des eaux.

Ferme mes yeux afin qu'ils soient clos et tranquilles

Comme au fonds du sommeil,

Et qu'ils ne sachent plus quand passent sur la ville

La lune et le soleil.

Parle-moi de la mort, du songe qu'on y mène,

De l'éternel loisir,

Où l'on ne sait plus rien de l'amour, de la haine,

Ni du triste plaisir;

Reste, voici la nuit, et dans l'ombre croissante

Je sens rôder la peur;

  • Ah! laisse que mon âme amère et bondissante

Déferle sur ton coeur . . .

Comtesse Anna de Noailles

KLAGE

Leg' auf die Stirn, die wetterdurchbrauste, die Hände

  • Ringen wie Vogelflug -

Dass sich der Aufruhr in ihr verewigt fände

Wie in der Muschel Bug.

Schließ mir die Augen, mache sie ruhig und still,

Wie schlafgewohnt,

Weil ich den Gang ob der Stadt nicht sehen will

Von Sonne und Mond.

Sprich mir vom Tod, von ihm geweihtem Gedenken,

Vom steten Genügen,

Da man nichts weiß mehr von Haß oder

Liebesverschenken,

Und schalem Vergnügen.

Bleibe, die Nacht ist schon da, in schattiger Mulde

Schleicht Furcht und Schmerz . . .

Der bitteren Springflut, der Seele Brandung erdulde

an deinem Herz.

Übertragung von Erika Mitterer

Ob das Pariser Symposium das Werk der Comtesse de Noailles nachhaltig dem Vergessenwerden entreißen konnte, wird erst die Zukunft weisen; vieles spricht dafür, dass es nach den Stürmen der Moderne einmal wieder zu einer Rückbesinnung kommen wird. Unsterblich ist Anna aber geworden: sie hat der weiblichen Hauptperson in Prousts Novelle "Jean Santeuil" ihre Konturen geliehen.

Freitag, 02. Jänner 2004

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